Interpretationsspielräume. Zur medialen Diskussion der PIAAC-Befunde in neun Ländern
Anke Grotlüschen
Universität Hamburg, Deutschland
Spielräume in der Interpretation erhobener Daten sind in der Wissenschaft hinlänglich bekannt und werden mit großer methodischer Vorsicht eingehegt. Anders gestaltet sich der öffentliche Diskurs: Die Spielräume der Interpretation großer Kompetenzstudien werden vielfach genutzt. Mehrere Medienanalysen erfolgten im ersten Zyklus (Cort & Larson, 2015; Hamilton, 2018; Rasmussen et al., 2022; Yasukawa et al., 2016). Hamilton (2018) zeigt den starken Einfluss der OECD-Länderberichte auf nationale Diskurse. Rasmussen et al (2022) rekonstruieren Massenmedien als diskursbeherrschend. Yasukawa et al. (2016) zeigen den medial vermittelten globalen Einfluss auf lokale Politiken.
Cort (2015) verwendet die poststrukturalistische Diskursanalyse „What's the problem represented to be (WPR)?“ nach Bacchi ( 2012) und kommt zum Ergebnis eines „Non-Shock“ der PIAAC-Befunde in Dänemark. Diese Analyse zeigt, dass auch eine andere Bewertung möglich gewesen wäre, sprich: Dass Interpretationsspielräume genutzt wurden. Die Befunde der Medienanalysen des ersten PIAAC-Zyklus und seiner drei Runden führt zur Forschungsfrage, welche Probleme mit der Veröffentlichung des zweiten Zyklus adressiert werden.
In den sechs Wochen nach dem PIAAC-Launch 2024 erhoben die Verfasser:innen dieses Abstracts die Medienreaktionen aus Chile, Deutschland, England, Irland, Israel, Kanada, Portugal, Schweiz und den USA. Die Länderauswahl begründet sich durch die Vernetzung mit einschlägigen Forschenden vor Ort. Der Korpus umfasst die ersten Presseerklärungen der OECD und der Ministerien, Artikel in großen Zeitschriften, die Medienkommunikation der wichtigsten Institute sowie einen Teil der Social-Media-Einträge auf LinkedIn und Bluesky. Zur Anwendung kam die o.g. poststrukturalistische Diskursanalysemit ihren Leitfragen (Bacchi, 2012). Die ersten Ergebnisse der Datenerhebung zeigen, dass einige Länder auf ihre Stabilität in Bezug auf Kompetenzen verweisen, ohne die erhöhte Spreizung zu diskutieren. In pratkisch allen untersuchten Ländern dominiert die Besorgnis über niedrige Literalität, während Numeralität und Problemlösen keine Erwähnung finden. Bei gleichen Ergebnissen kommen Länder zu völlig verschiedenen Problemdefinitionen (etwa die OECD-Mitgliedschaft in Chile, die Demokratisierung in Portugal und der Nahostkonflikt in Israel). Insofern nutzen die Akteure ihre Interpretationsspielräume und setzen das „Problem“, dem sie sich zuwenden wollen.
Finanzielle Praktiken von Erwachsenen in angespannten ökonomischen Situationen
Klaus Buddeberg
Universität Hamburg, Deutschland
Im Rahmen der Ampelkoalition starteten das BMBF und das Bundesministerium der Finanzen eine Initiative für Finanzielle Bildung. Der Vortrag setzt sich zunächst mit den Ausgangspositionen dieser Initiative auseinander. Sie intendiert eine Finanzbildungsstrategie, wie sie durch die OECD angemahnt wurde (OECD, 2024b). Die Initiative geht aus Sicht von Kritiker:innen (Höhne, 2024) jedoch zu pauschal davon aus, dass in der Bevölkerung grundsätzlich finanzielle Spielräume bestünden, die es ermöglichten, die durch den aktivierenden Sozialstaat (Lessenich, 2012) geforderte eigenverantwortliche Lebens- und Altersplanung zu realisieren. Sie unterstelle damit finanzielle Spielräume auch dort, wo diese gar nicht vorhanden seien. Andere Kommentare weisen auf den letztlich schwach ausgebildeten Bildungskern der Initiative hin (Pauli, 2024).
Die Forderung nach finanzieller Bildung drückt zumindest implizit die Annahme aus, dass sich finanzielle Notlagen durch entsprechende individuelle Kenntnisse vermeiden lassen. Im Umkehrschluss lässt das die Position zu, dass Personengruppen in angespannten finanziellen Lagen (z.B. Arbeitslose, Geringverdienende, Alleinerziehende) durch Passivität in finanziellen Belangen für ihre Lebenssituation selbst verantwortlich seien (blaming the victim). Auf Basis der Daten des ersten Cycles der PIAAC Studie (Rammstedt & Zabal, 2013) konnte jedoch gezeigt werden, dass gerade ökonomisch vulnerable Gruppen bei der alltäglichen Beschäftigung mit Finanzen überdurchschnittlich aktiv sind (Grotlüschen et al., 2019).
Der vorgesehene Beitrag greift diese Frage aus Basis der aktuellen PIAAC Studie (31 teilnehmende Länder, OECD, 2024a) erneut auf und betrachtet das finanzielle Alltagshandeln verschiedener Bevölkerungsgruppen im Vergleich der in der Studie untersuchten deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und Schweiz. Die Interpretation der Ergebnisse bezieht den Forschungsstand der Kompetenzdiskussion mit ein, demzufolge eine enge Verbindung zwischen domänenspezifischen Kompetenzen und entsprechenden alltags- und berufsbezogenen Praktiken vorliegt (Reder et al., 2020) und identifiziert so Adressat:innen für finanzielle Bildungs- und Beratungsangebote.
Auf diese Weise werden Anregungen für tatsächliche Bildungsbedarfe gegeben, die aber den engeren Bereich der finanziellen Bildung überschreiten und auch Inhalte einer breiter angelegten kritischen Verbraucher:innen-Bildung oder ökonomischen Bildung (Remmele et al., 2013) umfassen.
Grundbildungsnetzwerke - Spielräume der Weiterentwicklung regionaler Grundbildungsstrukturen
Johannes Bonnes1, Moritz Butscheidt1, Sarah Neumann-Opitz1, Sylvia Rahn1,2, Nora Spielmann1
1Deutsches Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V., Deutschland; 2Bergische Universität Wuppertal, Deutschland
Die Einrichtung von Netzwerken stellt einen verbreiteten Regulationsmodus zur Stärkung regionaler Strukturen innerhalb der Erwachsenen- und Weiterbildung (Emminghaus & Tippelt, 2009) und zur Teilnehmendengewinnung (Martin et al., 2021) dar. Dies gilt auch für den Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung (Bickeböller, 2022). Im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunkts „Grundbildungspfade“ arbeiten zehn Netzwerke daran, in Modellregionen Grundbildungspfade für spezifische Zielgruppen zu entwickeln und diese in vorhandene Bildungsstrukturen zu integrieren. Grundbildungspfade stellen Angebots-Nutzungs-Ketten dar, die sich an Menschen mit Grundbildungsbedarf richten, um deren Arbeitsmarktchancen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten zu verbessern. Die Netzwerke beziehen sich auf die regionale Bildungslandschaft, integrieren bisher getrennte Angebote oder ergänzen diese. Dabei nutzen sie spezifische institutionell organisationale Spielräume vor dem Hintergrund ihrer organisationalen Expertisen (Seitter, 2013) und balancieren diese im Idealfall in der gemeinsamen Netzwerkarbeit für die gemeinsam festgelegten Ziele aus.
Das Metavorhaben “Kompetenzzentrum GrundbildungsPFADE: Service – Forschung – Transfer” begleitet die Arbeit der regionalen Grundbildungsnetzwerke, wobei u.a. Strukturen, Entwicklungen und Erfolgsbedingungen regionaler Netzwerkarbeit analysiert werden. Angesichts potenziell spannungsreicher Netzwerkarbeit aufgrund unterschiedlicher organisationaler Spielräume und Ansprüche (Dollhausen et al., 2013) geht der Beitrag folgenden Fragen nach:
- In welchen Konstellationen arbeiten die Akteure innerhalb des jeweiligen Grundbildungsnetzwerks zusammen?
- Welche Bedeutung wird der Netzwerkkoordination im Rahmen des Netzwerkmanagements beigemessen?
Die empirische Basis des Beitrags bilden Ergebnisse einer standardisierten Onlinebefragung zur Netzwerkstruktur und Netzwerkarbeit. Die Daten werden einer quantitativen Netzwerkanalyse (Stegbauer & Häußling, 2024) unterzogen, um die Dichte und Struktur des Netzwerks sowie dessen wichtigsten Akteure zu identifizieren. Netzwerkkarten ermöglichen zudem einen Überblick über die jeweiligen Netzwerkstrukturen (Hollstein & Pfeffer, 2010). Auf diese Weise ist es möglich, die Beziehungen zwischen den Akteuren zu erfassen und darauf aufbauend zu untersuchen, inwiefern der Austausch zwischen den zentralen regionalen Akteuren aus Bildungspolitik, -administration und -praxis als gelungen eingeschätzt wird.
Spielräume für die Grundbildungsarbeit: Pädagogische Selbstverständnisse und Handlungslogiken in der evangelischen Erwachsenen- und Familienbildung
Farina Wagner
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Im Bereich der Grundbildung und Alphabetisierung wurden im Zuge der Alphadekade vielfältige Qualifizierungsbedarfe erforscht und Professionalisierungskonzepte für unterschiedliche Akteure entwickelt. Sie setzen den Fokus zumeist auf die Gestaltung von Alphabetisierungsangeboten, Diagnose- und Förderkompetenz, aber auch Sensibilisierungsmöglichkeiten, etwa bezogen auf Erreichbarkeit der Zielgruppen und Wahrnehmung von Grundbildungsbedarfen im Berufsalltag (Löffler & Nagler 2023).
In der evangelischen Erwachsenen- und Familienbildung sind
Grundbildung und Alphabetisierung bislang nur punktuell in den Angebotsstrukturen verankert (Büchel 2025), das Thema erzeugt jedoch zunehmend Resonanz. Durch offene Angebotsformate und sozialräumlich aufsuchende Strategien zeigen sich zudem breite Zugänge zu unterschiedlichen Zielgruppen und somit Anschlüsse für eine lebensweltlich orientierte Grundbildungsarbeit (Bremer 2025). Das hauptamtlich pädagogische Personal sowie Kursleitende in der evangelischen Erwachsenen- und Familienbildung bringen vielfältige professionelle Hintergründe in ihre Tätigkeit mit ein, wobei davon ausgegangen wird, dass professionelles Handeln mit der Biografie und dem milieuspezifisch ausgebildeten Habitus zusammenhängt (Bremer, Pape & Schlitt 2020).
Es soll nun der Frage nachgegangen werden, wie biografische Erfahrungen und Literalitätskonzepte der kirchlich im Alphabetisierungs- bzw. Grundbildungsbereich Tätigen die pädagogische Praxis mit beeinflussen und welche Verständnisse von Lernen, Bildung sowie Grundbildung dabei sichtbar werden.
Dazu wurden im Kontext eines Forschungsprojekts 12 lebensgeschichtliche Interviews mit pädagogisch Tätigen aus besagtem Feld geführt, welche qualitativ in Anlehnung an die Habitushermeneutik (Bremer & Teiwes-Kügler 2013) ausgewertet wurden. Im vorgeschlagenen Beitrag soll diskutiert werden, welche Spielräume für die Grundbildungsarbeit biografisch bzw. habituell hervorgebracht werden, wenn bspw. Passungsverhältnisse (Ludwig 2023), aber auch Widerständigkeiten in Relation treten und diese unterschiedliche Handlungsspielräume eröffnen.
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