Gesellschaftliche Teilhabe durch die Teilnahme an Alphabetisierungskursen
Mara Winkens, Ewelina Mania
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Deutschland
Alphabetisierung und Grundbildung (AuG) gilt als „Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, für lebenslanges Lernen sowie für gesellschaftliche und berufliche Teilhabe“ (BMBF 2016, S.3). Die Erwachsenenbildung ist gefragt, um fehlende Grundbildungskompetenzen zu kompensieren und so gesellschaftlicher Exklusion entgegenzuwirken (Egloff, 2010, S. 203). Teilhabe umfasst neben politischer Mitwirkung insbesondere den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, Kultur, Medien und Gesundheit (ebd.). Bereits Pape (2011) als auch Meese und Schwarz (2010) formulieren verschiedene Teilhabebereiche, welche durch die Teilnahme an Alphabetisierungskursen beeinflusst werden. Gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe wird auch unter dem Begriff der Inklusion diskutiert (Kronauer, 2009). „Inklusion im Bereich der Literalität bedeutet, die Instrumente der Schriftlichkeit so zu vermitteln, dass sie für das eigene Leben sinngebend eingesetzt werden können“ (Hussain, 2009, S. 206). Als Lern- bzw. Kompetenzziele werden in der AuG vor allem die Verbesserung der schriftsprachlichen, personalen und sozialen Kompetenzen herausgestellt (Mania & Thöne-Geyer, 2018).
Im Rahmen des Beitrags soll folgende Forschungsfrage beantwortet werden: Inwiefern wird über die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs die gesellschaftliche Teilhabe aus der Perspektive der Kursteilnehmenden gestärkt? Somit zielt der Beitrag auf die Betrachtung des Zusammenhangs von Teilnahme und Teilhabe.
Um die Frage zu beantworten, werden Daten aus einer Interviewstudie genutzt. Im Rahmen der Studie werden problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) mit Teilnehmenden aus Alphabetisierungskursen zu zwei Erhebungszeitpunkten geführt. In den Interviews werden die Lernziele, dessen Erreichung und die Auswirkung der Teilnahme am Kurs auf die gesellschaftliche Teilhabe der Lernenden thematisiert. Die erste Erhebung fand im April/Mai 2023 mit 33 Personen statt. Die zweite Erhebung ist für April/Mai 2024 geplant. Die Interviews werden inhaltanalytisch (Mayring, 2015) ausgewertet.
Im Fokus des Vortrags steht der Beitrag von Alphabetisierungskursen zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe aus der Perspektive der Kursteilnehmenden. Dabei werden verschiedene Teilhabebereiche sowie unterschiedliche Lernziele und Kompetenzen herausgearbeitet. Im Ausblick wird auf Forschungsdesiderata und mögliche Implikationen für die Bildungspraxis eingegangen.
Die Bedeutung von Literalität und Grundkompetenzen für die (politische) Grundbildung
Gregor Dutz
Universität Hamburg, Deutschland
Die Rolle von Literalität als einem Mechanismus, der sowohl Teilhabe ermöglichen als auch beschränken kann, steht im Fokus des Diskurses um Alphabetisierung und Grundbildung. Angesichts der gesellschaftspolitischen Relevanz in Zeiten von Fake-News und zunehmendem Rechtspopulismus, adressiert der hier skizzierte Beitrag die Beziehung zwischen Literalität, politischer Partizipation und politikbezogenen Grundkompetenzen mit Blick auf die Teilhabe- und Teilnahmechancen gering literalisierter Erwachsener.
Der Beitrag fasst die Ergebnisse einer kumulativen Promotion mit dem Titel „Politische Grundbildung: Praktiken und Kompetenzen gering literalisierter Erwachsener“ zusammen und bindet sie in den breiteren wissenschaftlichen Diskurs um politische Grundbildung und Teilhabe ein. Anhand der Daten aus den Studien PIAAC und LEO 2018 sowie weiterführender Analysen (Dutz, 2020; Dutz & Bremer, 2023; Dutz & Heilmann, 2020) konnte gezeigt werden, welche Rolle Literalität für die politische Teilhabe spielt. Dabei zeigt sich insbesondere, dass gering literalisierte Erwachsene ihre politikbezogenen Grundkompetenzen niedriger einschätzen.
Die Befunde legen nahe, dass Literalität und politikbezogene Grundkompetenzen entscheidende Faktoren für die inklusive Gestaltung von politischer Grundbildung sind. An diese Ergebnisse können Grundbildungsangebote anschließen, wenn sie über die Vermittlung von Sachinhalten hinausgehen. Politische Grundbildung sollte Teilnehmende also befähigen, ihre persönlichen Interessen zu identifizieren und diese zum Ausdruck zu bringen (Grotlüschen, 2016). Bremer (2021) verweist auf die Notwendigkeit einer politischen Grundbildung, die Themen der Politik mit den Lebensrealitäten der Lernenden verknüpft, um die Bedeutung für deren persönliches Engagement hervorzuheben. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf Ansätzen, die eine Sensibilität für soziale Ungleichheiten zeigen (Bremer & Ludwig, 2015) und den alltäglichen sozialen Kontext sowie die Erfahrungen der Lernenden als Fundament für die Gestaltung der politischen Bildungsarbeit nutzen (Mania, 2018).
Grundbildung sollte also an die alltäglichen Erfahrungen der Lernenden anknüpft und gleichzeitig einen kritischen Zugang zu – nicht nur politischem Wissen und Handeln – ermöglicht. Damit eröffnet sich ein Feld für eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Bedingungen inklusiver politischer Partizipation in einer polarisierten Gesellschaft.
Der "Literacy Promptathon" als partizipatives Workshopformat
Kristin Skowranek, Anke Grotlüschen
Universität Hamburg, Deutschland
Digitale Hilfsmittel und internetfähige mobile Endgeräte werden von gering literalisierten Erwachsenen (Buddeberg & Grotlüschen, 2020, S. 205) und Zugewanderten (Hünlich et al., 2018, S. 33) regelmäßig genutzt. Für diese Gruppen ergeben sich interessante Nutzungsmöglichkeiten von Generative Pre-Trained Transformern (GPT), z.B. ChatGPT. Allerdings sind sie auch besonders vulnerabel hinsichtlich der Gefahren in Form von falschen Inhalten, Algorithmic Biases und mangelndem Datenschutz (Grotlüschen et al., accepted). Sinnvolle Anwendungen für die Bildungs- und Berufsberatung wurden jedoch bereits identifiziert (Stanik, 2023).
Daraus entsteht die Forschungsfrage, wie ChatGPT von Personen mit geringer Literalität oder eingeschränkter Deutschsprachkompetenz effektiv und sicher genutzt werden kann.
Das Sample (n=35) rekrutiert sich aus Alphabetisierungs- und Müttersprachkursteilnehmenden, die für das Eventformat „Literacy Promptathon“ gewonnen werden. In diesem Format werden schriftsprachbasierte Alltagsaufgaben (Challenges) in kleinen Teams mit einem datenschutzkonformen Zugang zu ChatGPT auf iPads der Universität bearbeitet (Grotlüschen et al., 2023). Es stellt eine Weiterentwicklung des breiter angelegten Prompt-a-thon (Kučević et al., 2024) dar. Für die Challenges gibt es nur wenige Vorgaben, die Themen werden interessengeleitet von den Teams selbst gestellt. Die Protokollierung der Bearbeitung der Challenges erfolgt durch Bildschirmaufzeichnungen der iPads.
Die Protokolle werden qualitativ-empirisch ausgewertet und im Wege des permanenten Vergleichens der eingesetzten Prompting-Strategien kodiert. Ein Forschungstagebuch enthält zentrale Formatveränderungen, z.B. die Variation von Tastatursprachen sowie die Nutzung von Diktier- oder Vorlesefunktionen.
Die protokollierten Prompting-Strategien lassen erkennen, wie fundamental neu ChatGPT für Teilnehmenden ist. Das zeigt sich durch Prompts mit falscher Wortreihenfolge oder dem Fehlen von Schlüsselbegriffen in den Prompts. Für das Verfeinern der eigenen Prompts, welches ein Verständnis der Ergebnisse in ChatGPT voraussetzt, nutzten die Teilnehmenden die Vorlesefunktion oder Übersetzungsfunktionen und -apps.
Der Beitrag stellt erste Ergebnisse der Studie vor und zeigt auf, ob und in welcher Weise die kompetente Teilhabe von gering literalisierten Erwachsenen und Zugewanderten im Alltag durch die Teilnahme an Literacy Promptathons verbessert werden kann.
Teilhabe durch arbeitsorientierte Grundbildung: Spannungsfeld oder partizipatives Gleichgewicht?
Claudia Schepers1, Ilka Koppel2
1APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Deutschland; 2PH Weingarten, Deutschland
Ausgangslage: Die Arbeitsorientierte Grundbildung (AoG) soll die Teilnahme gering qualifizierter Menschen an betrieblichen Bildungsangeboten gewährleisten bzw. für weiterführende Qualifizierungen vorbereiten. AoG kann ebenso dazu beitragen, die gesellschaftliche Teilhabe zu gestalten, indem z.B. individuelle Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert (Koller 2019), die berufliche Exklusion verringert (Rammstedt 2013; Hartley&Horne 2006) und/oder Mitarbeitende besser an das Unternehmen gebunden werden können (Koppel&Schepers 2024). Gleichzeitig sind gering qualifizierte Erwachsene nicht immer leicht für betriebliche Weiterbildungen zu gewinnen, da sie eher lernungewohnt sind, schlechte Lernerfahrungen gemacht oder gar andere Perspektiven auf Weiterbildung haben (Ehmig 2023; Ambos 2005; Matthes&Severing 2017). In dem Vortrag sollen Spannungsfelder beleuchtet werden, die sich aus AoG-Maßnahmen für die Lernenden ergeben.
Fragestellungen: Welche unternehmensspezifischen Strukturen der „Zähmung“ (Tietgens 2011) oder der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe ummanteln AoG-Angebote? Werden diese als solche von den Teilnehmenden (TN) wahrgenommen? Inwieweit wird die Bildungsmaßnahme von den TN als Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe wahrgenommen?
Methodisches Vorgehen: Im Projekt Alpha-Invest (BMBF) wurde ermittelt, welcher Mehrwert für Individuen, Unternehmen und Gesellschaft aus Maßnahmen der AoG resultiert. Für den hier eingereichten Beitrag beziehen wir uns auf qualitative Daten aus Gruppendiskussionen mit Unternehmensvertreter*innen (n=7) sowie mit TN (n=5) und Interviews mit TN (n=19). Die Analyse erfolgt inhaltsanalytisch (Kuckartz 2018).
Ergebnisse: Anhand der Daten können zwei unternehmensspezifische Spannungsfelder „der Zähmung“ (in Anlehnung an Tietgens 2011) identifiziert werden:
a) Die Kursteilnahme wird als Wertschätzung (Chance zur (beruflichen) Teilhabe) oder als Stigmatisierung (negative Konsequenz für mangelnde Kompetenzen) wahrgenommen.
b) Die strukturelle Kopplung der Bildungsmaßnahme an das Vertragssystem führt bei mangelnder Teilnahme zur Exklusion oder bei ausreichender Teilnahme zur beruflichen Partizipation.Kritisch reflektiert wird, ob diese Spannungsfelder als solche wahrgenommen werden, oder sowohl für die TN als auch für die Unternehmen sogar ein partizipatives Gleichgewicht darstellen können. Die Ergebnisse sind anschlussfähig an den lerntheoretischen Diskurs der EB sowie die Alphabetisierungs- und Grundbildungsforschung.
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