Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Session 1c: Gesellschaftliche Teilhabevoraussetzungen und Krisen
Zeit:
Mittwoch, 25.09.2024:
16:00 - 18:00

Chair der Sitzung: Jörg Schwarz, Philipps-Universität Marburg
Ort: S06 S02 B06

50 Plätze

Präsentationen

Wie viel ist zu viel? Zur Bewertung der Teilnahme neu zugewanderter Erwachsener in den Volkshochschulen

Anke Grotlüschen

Universität Hamburg, Deutschland

Auf bildungspolitischer Ebene wird die Integration neu zugewanderter Erwachsener durch Zuwanderungsgesetz und Integrationskursverordnung unterstützt. Die Initiative „Integration durch Bildung“ (2023) ist zudem als ein dezidierter Wunsch nach Diversitätssensibilität im Bildungswesen zu verstehen. Gleichzeitig steht in Frage, ob Integration und Integrationskurse unumstritten positiv zu sehen sind: „we find that on average, an increase in integration course counts slightly decreases regular course counts” (Martin, Granderath & Rüber, 2021, S. 184). Interessant ist die Bewertung der Befunde: Nimmt eine lokale Bevölkerung weniger an VHS-Angeboten teil, weil sie dort vermehrt Migrant:innen antrifft (group threat theory, a.a.O.) oder nimmt sie weiter teil, weil sie den Kontakt mit Zugewanderten bereits gewohnt ist (Kontakttheorie)?

Beides führt jedoch in ein Problem um das Narrativ einer Deutschen Volkshochschule. Angenommen wird implizit, dass vorrangig die deutsche Bevölkerung das Privileg habe, in den Genuss der Volkshochschule zu kommen. Sobald sich dort andere – geanderte – Gruppen platzieren, müssen sie sich legitimieren.

Postkoloniale Diskurspositionen (Heineman & Akbaba, 2024) kritisieren den Umgang mit Integration als diskriminierend. Ob es sich dabei um (Alltags-)Rassismen handelt, hängt jedoch vom Rassismusbegriff ab. El Mafaalani (2022) unterscheidet drei Schritte auf dem Weg zum Rassismus: Erstens das Othering, mit dem eine spezifische Gruppe als anders gekennzeichnet, zweitens die Zuschreibung von Gruppenmerkmalen und im dritten Schritt den Ausschluss von Privilegien (El-Mafaalani 2022). Keiner der drei Schritte kann als gegeben angesehen werden, jedoch ist die Ausgrenzung vom Privileg, in der VHS in unbegrenzt großer Zahl teilnehmen zu können, derzeit möglicherweise strittig: Wie viel ist zu viel?

Der Beitrag rekonstruiert eine Auswahl von Befunden und Theorien und lädt zur gemeinsamen Bewertung ein.



Gesellschaftliche (Nicht-)Teilhabe und Fluchtmigration durch Krieg. Desiderate für eine gewaltsensible (politische) Erwachsenenbildung

Tim Zosel, Ferhad Ahmad

Universität Duisburg-Essen, Deutschland

In der Erwachsenenbildung spielt der Umgang mit Gewalterfahrungen bisher eine marginalisierte Rolle. Dabei können kollektive Gewalterfahrungen als politische Erfahrungen gefasst werden, die Herrschaftsverhältnisse sowie Macht/-losigkeit symbolisieren und sich in zahlreichen Fluchtbiographien besonders aus Kriegsgebieten widerspiegeln. (Politische) Erwachsenenbildung ist in unseren Augen ein zentraler Ort, um einerseits geflüchtete Menschen in ihren biographischen Umbrüchen und der Verarbeitung kollektiver Gewalterfahrungen zu unterstützen und andererseits stärker als bisher Potenziale für gesellschaftlich-politische Teilhabe zu entwickeln.

Ausgangspunkt für den Beitrag ist ein Verständnis von Krieg als Akt der Gewalt, bei dem einem Gegner der eigene Wille aufgezwungen wird (Clausewitz, zit. n. Meyers 2019, 8) und der „gleich einer Höllenmaschine“ (Bourdieu 2010, 186) die soziale Ordnung vor Kriegsausbruch zerstört, was einen radikalen Wandel der Einstellungen der Menschen nach sich zieht, die dieser Gewalt ausgesetzt sind (ebd., 163). Geflüchtete Menschen müssen nicht nur mit den eigenen Gewalt- und Umbruchserfahrungen umgehen, sondern auch um gesellschaftliche Teilhabe ringen. Allerdings finden ihre „subalternen“ Erfahrungen der Verletzung von Körpern und Seelen dort wenig Repräsentanz (De La Rosa & Frank 2017), was als Ausdruck eines „paradoxen Gewaltverhältnis[ses] der Moderne“ (Baecker 1996, 92) gelesen werden kann. Demnach geben sich durch Aufklärung geprägte Gesellschaften auf der einen Seite distinktiv gewaltlos und delegitimieren Gewalt, während individuelle und kollektive Gewalt – nicht nur im Kontext Flucht – weiter fortbesteht (Koloma Beck & Schlichte 2014, 25-32).

Um dieser Dethematisierungstendenz zu begegnen, stützen wir uns auf Bourdieus Konzept der „symbolischen Gewalt“ (Bourdieu 2001). So rückt in den Fokus, dass die Lebensrealitäten von Menschen in heterogenen Zuwanderungsgesellschaften von Ausgrenzungen durchzogen sind, die einerseits durch explizite Gewalt- und Umbruchserfahrungen und andererseits durch verschleierte Gewaltanteile gekennzeichnet sind. Diese Widersprüche an geeigneten Lern- und Austauschorten zu bearbeiten, in denen sich Menschen ihrer eigenen und/oder anderen Gewalterfahrungen bewusst werden und damit auseinandersetzen, ist Anliegen unseres Beitrages, in dem wir die theoretisch-methodischen Umrisse einer gewaltsensiblen (politischen) Erwachsenenbildung zur Diskussion stellen.



Aneignung von Raum als Lernprojekt: Die Rolle von Teilhabe bei einem kommunalen Stadtraumentwicklungsprojekt

Tobias Ganske, Henning Pätzold

Universität Koblenz, Deutschland

Auch und gerade unter Bedingungen demokratischer Entscheidungsfindung ist es für ein Gemeinwesen erforderlich, dass eine einmal getroffene Entscheidung ein gewisses Maß an Akzeptanz auch bei denjenigen findet, die sich ein anderes Ergebnis gewünscht hätten. Eine Grundlage hierfür ist ein informierter, demokratischer Aushandlungsprozess, bei dem die Chance besteht, die Argumente des*der anderen ggf. auch dann als legitim zu respektieren, wenn man sie selbst nicht teilt. Es bedarf also eines sozialen Austauschs, der sich pädagogisch als kollektiver Lernprozesse auffassen lässt (vgl. Pätzold 2018).

Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumentwicklung gefördertes Projekt zur Anpassung urbaner Räume an den Klimawandel. Konkret geht es darum, in einem Straßenabschnitt durch Baumpflanzungen u.a. die Resilienz gegen den Klimawandel zu erhöhen. Für die Anwohner*innen können die Maßnahmen durchaus auch als Beeinträchtigungen wahrgenommen werden (Wohnraumverschattung, Verlust von Parkraum usw.). Insgesamt aber bietet sich die Möglichkeit, unter der Perspektive eines relationalen Raumverständnisses (Löw 2005), die baulichen Veränderungen als Chancen der Aneignung und Gestaltung materialen und sozialen Raums zu betrachten (vgl. Stang u.a. 2018; Taylor 2009). An dieser Stelle setzt das Projekt an, indem es eine explizite Lernperspektive einnimmt und danach fragt, inwiefern eine intendierte Baumaßnahme zu einem Lernanlass (Schäffter 1995; Dinkelaker/Stimm 2022) werden kann, der in einen informellen, gleichwohl gestalteten, raumbezogenen, kollektiven Lernprozess mündet.

Die im Projektverlauf gewonnenen, ethnografischen Daten geben Aufschluss über die Möglichkeiten und Grenzen der Beteiligung der Anwohner*innen (und weiterer Stakeholder*innen). Sie reichen von sehr ernüchternder Partizipation (etwa bei Walk-Along-Interviews) bis zu positiven Beteiligungserfahrungen (etwa bei einem Bürger*innendialog). Im Zentrum des explorativen Vorhabens steht die Frage, inwieweit die – für Stadtentwicklungsprojekte eher untypische – Perspektive des kollektiven Lernens einen differenzierten Blick auf Teilhabe ermöglicht. Analog zum Konzept der Kursteilnahme wird dabei insbesondere in den Blick genommen, inwieweit die Aktivitäten der Anwohner*innen (in systematischer Sicht betrachtet beginnend bereits mit der gesteigerten Nutzung des Raums) als Teilnahme verstanden werden können.



Mechanismen der Teilnahme und Exklusion in der nationalen Disaster Education. Ergebnisse einer empirischen Studie

Sophie Lacher, Luca Fliegener, Jonas Großmann

Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU), Deutschland

Durch den Klimawandel nehmen Wetterextreme und Naturkatastrophen zu (EEA, 2024). Gleichzeitig besteht eine veränderte Gefahrenlage in Europa (Quadbeck & Dunz, 2024). Diese Entwicklungen tangieren den deutschen Bevölkerungsschutz (BevS), der sowohl für den Schutz der Bevölkerung vor Kriegen als auch naturbedingten Katastrophen zuständig ist (BBK, o.J.). Jedoch sind die Organisationen des BevS für die Katastrophenvorsorge und -bewältigung auf den Selbstschutz (BMI, 2016) bzw. die Preparedness (UNDRR, o.J.) der Bevölkerung angewiesen. Diese Konzepte umfassen, dass die Bevölkerung Maßnahmen für die Katastrophenvorsorge und -bewältigung ergreift (BMI, 2016). Dafür müssen sowohl Wissen als auch Kompetenzen ausgebildet werden (UNDRR, o.J.), was Lern- und Bildungsprozesse erfordert. Dies bietet Anschlusspunkte für die Erwachsenenbildung (EB). Während der deutschsprachige Diskurs zu diesem Thema eher lückenhaft und konzeptionell ist (Lacher & Rohs, 2023), etabliert sich auf internationaler Ebene zunehmend die erziehungswissenschaftliche Subdisziplin der Disaster Education (DE), wobei grundlegende Fragen noch weitgehend unerforscht sind (Kitagawa, 2021). Dabei bestehen zwei bedeutende Herausforderungen: Einerseits richtet sich die DE des deutschen BevS an die „Bevölkerung“ als Ganzes – mit diversen und größtenteils unbekannten Charakteristika. Darüber hinaus ist bekannt, dass vulnerable Gruppen stärker von Katastrophen betroffen sind (z.B. EEA, 2024), während der (deutsche) BevS als dezentralisiert, lokalisiert und exklusiv für trainierte Expert*innen (Chadderton, 2015) sowie die „white middle-class family“ (Preston, 2008, S. 469) gilt. Dabei ist unklar, ob hinsichtlich der informellen sowie formalen Lernprozesse im Rahmen der DE die Herausforderung des „Matthäus Effekts“ besteht. Der Beitrag geht daher der Frage nach, inwiefern sich aus der EB-Forschung bekannte Mechanismen der Teilhabe und Exklusion im Bereich der nationalen DE zeigen und wie Bildungsanbieter des BevS mit der (Nicht-)Teilnahme umgehen. Dies erfolgt einerseits anhand einer repräsentativen nationalen Bevölkerungsumfrage mithilfe soziodemografischer Daten. Andererseits werden vier leitfadengestützte problemzentrierte Interviews (Witzel, 2000) mit Verantwortlichen regionaler Katastrophenschutzorganisationen, die für die Bildung der Bevölkerung in Hinblick auf den Selbstschutz zuständig sind (§ 5 Abs. 1; BBK, 2020), bezüglich bestehender Herausforderungen inhaltsanalytisch (Kuckartz, 2018) analysiert.