Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe auf dem Prüfstand
Chair(s): Benjamin Badstieber (Universität Duisburg-Essen, Deutschland), Bettina Lucia Amrhein (Universität Duisburg-Essen, Deutschland)
DiskutantIn(nen): Brigitte Kottmann (Universität Paderborn)
Die Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe ist seit vielen Jahrzehnten Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen (Amrhein & Badstieber, 2024). Insbesondere vor dem Hintergrund schulischer Inklusion und der Debatte um Re- bzw. De-Kategorisierung wird die Forderung gestellt, die Strukturen, Kulturen und Praktiken stigmatisierender Zuschreibungen und Kategorisierungen zu transformieren und die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen als Gegenstand und Ausgangspunkt (sonder-)pädagogischer Arbeit anzuerkennen (Gasterstädt et al., 2020). Obwohl empirische Befunde seit 20 Jahren immer wieder darauf hinweisen, dass die aktuelle Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe nicht dazu beitragen kann soziale Benachteiligung und Diskriminierung zu beseitigen, sondern diese eher zu (re-)produziert (z.B. Effelsberg, 2023; Kottmann, 2006), ist eine grundlegende Transformation bisher ausgeblieben. Stattdessen zeigt sich im Nachgang der Ratifizierung der UN-BRK im deutschsprachigen Raum ein deutlicher Anstieg der sogenannten Förderquote, mit massiven Auswirkungen auf das Schul- und Bildungssystem bzw. darüber hinaus (z.B. bundesweiter Ausbau sonderpädagogischer Studiengänge, Institute etc. an Universitäten und Fachhochschulen) (Klemm, 2021). Die stetig steigenden Zahlen der sonderpädagogischen Förderbedarfe in den deutschsprachigen Ländern sind also nicht nur vor dem Hintergrund der menschenrechtlichen Forderungen der UN-BRK und empirischer Analysen kritisch zu betrachten, vielmehr stellen sie auch die bildungspolitische und administrative Steuerung (sonder-)pädagogischer Bildung in Deutschland zunehmend vor enorme Herausforderungen, z.B. hinsichtlich der Bereitstellung hinreichender Ressourcen für die Feststellungsverfahren oder ausreichenden Personals für die daraus hervorgehenden Ansprüche auf sonderpädagogische Förderung (Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen, 2020). Insgesamt ist insbesondere in den letzten Jahren noch einmal deutlich geworden, dass die aktuelle Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe Teil des Problems einer vielfach krisenhaften Entwicklung des Schul- und Bildungssystem in den deutschsprachigen Ländern ist und nicht dessen Lösung, schon gar nicht mit Blick auf Inklusion.
Vor diesem Hintergrund und wohl insbesondere wegen der Gefahr massiver steigender finanzieller Kosten haben in jüngster Vergangenheit Bildungspolitker*innen im deutschsprachigen Raum relativ zeitgleich nach neuen Lösungen gesucht. So sind in den BMBF-Förderrichtlinien zur Inklusive Diagnostik (https://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/de/Forderbezogene-Diagnostik-in-der-inklusiven-Bildung-Inklusive-Bildung-II-1867.html) und in bildungspolitischen Prüfaufträgen (https://www.schulministerium.nrw/ausbildungsordnung-sonderpaedagogische-foerderung-ao-sf, https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/bef/sb/spf_eval.html) gerade in den letzten Jahren mehrere umfangreiche Gutachten und empirische Forschungsarbeiten erarbeitet worden, die die aktuelle Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe umfassend wissenschaftlich analysieren und Transformationspotentiale aufzeigen können.
Im hier vorliegenden Symposium werden Ergebnisse von vier dieser Gutachten bzw. empirischen Forschungsprojekte vorgestellt und deren Bedeutung für eine zukunftsweisende und inklusionsorientierte Gestaltung des Schul- und Bildungssystems diskutiert. In den Analysen werden dabei Spezifika und Unterschiede zwischen den Kulturen, Strukturen und Praktiken der Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe in den einzelnen deutschsprachigen (Bundes-)Ländern herausgearbeitet. Gleichzeitig werden über alle Projekte hinweg zentrale Problemkomplexe sichtbar gemacht, die in erstaunlicher Kohärenz über die Grenzen der (Bundes-)Länder hinweg, Notwendigkeiten für eine Neuausrichtung der Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe deutlich machen.
Beiträge des Symposiums
Auf Abwegen?! Eine Einleitung zu den Problemstellungen der aktuellen Begutachtungspraxis zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe am Beispiel des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen
Benjamin Badstieber, Bettina Lucia Amrhein
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Angesichts der in Nordrhein-Westfalen (NRW) seit Jahren massiv steigenden Förderquoten und der Tatsache, dass 95% der beantragten Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe (AO-SF) genauso beschieden werden wie beantragt, hat das Ministerium für Schule und Bildung (MSB) die Erstellung eines umfangreichen wissenschaftlichen Prüfgutachtens in vier Teilprojekten beauftragt. Im Teilprojekt 2 dieses Prüfgutachtens wurde der Auftrag einer systemischen Gesamtbetrachtung formuliert mit dem Ziel, die bestehende Praxis und Struktur der sonderpädagogischen Feststellungsverfahren auch vor dem Hintergrund schulischer Inklusion in ihrer grundlegenden systemischen Ausrichtung zu begutachten und davon ausgehend Empfehlungen für eine Um- und Neugestaltung der Feststellungsverfahren in NRW vorzulegen. Als zentrales Ergebnis der Analyse des aktuellen Forschungsstandes (Analyseschritt 1), der Interviewstudie mit Expert*innen (Analyseschritt 2) und der Analyse von 80 Gutachten (Analyseschritt 3) kann dabei festgehalten werden, dass sich immer wieder und umfassend zeigt, dass die AO-SF-Verfahren eine problematische Differenzsetzung zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bildungssystem aufrechterhalten bzw. sogar befördern. Der trotz unterzeichneter UN-BRK eingeschlagene Weg zur Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe im Schul- und Bildungssystem (re-)produziert bzw. befördert demnach eher Prozesse der Individualisierung und Pathologisierung. So zeigt sich, dass (außer-)schulische Problem- bzw. Benachteiligungslagen im Verlauf der bestehenden Gutachtenpraxis als schülerseitige Defizitzuschreibungen konstruiert werden.
Im ersten Beitrag des Symposiums werden die zentralen Analyseschritte, Ergebnisse und Empfehlungen vorgestellt, die die systemische Gesamtbetrachtung für das Land NRW hervorbringen konnte. Der Beitrag dient der Einleitung in das Thema sonderpädagogische Gutachtenpraxis und bereitet auf die nachfolgenden Betrachtungen vor.
Zwischen Inklusionsversprechen und Menschenrechtsverletzung: Schulische Fähigkeitsregime im Spiegel der österreichischen Begutachtungspraxis sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF)
Thomas Hoffmann1, Mirjam Hoffmann2, Tobias Buchner3
1HU Berlin, 2FU Berlin, 3PH Oberösterreich
Das von 2022 bis 2023 durch das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung geförderte Verbundprojekt: „Evaluierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in Österreich“ kommt in seinem Ergebnisbericht (Gasteiger et al. 2023) unter anderem zu dem Schluss, dass die gegenwärtige Gutachtenpraxis in Österreich durch zwei grundsätzliche Widersprüche gekennzeichnet ist: (1) Die Unvereinbarkeit der durch die Schulgesetzgebung in Österreich geforderten (mono)kausalen Ableitung des „Nicht-Folgen-Könnens“ im Unterricht aus dem Umstand einer klinisch-psychologisch diagnostizierten Behinderung mit dem aktuellen menschenrechtlichen Behinderungsverständnis als komplexe Wechselwirkung von Person und Umwelt. (2) Die fehlende bzw. unzureichende Definition des Begriffs „Sonderpädagogischer Förderbedarf“, der sowohl schulgesetzlich als auch in den Verfahrensbestimmungen der Schulverwaltungen lediglich durch einen tautologischen Zirkelschluss bestimmt wird, der besagt, dass ein Sonderpädagogischer Förderbedarf dann vorliegt, wenn eine Schüler*in aufgrund einer Behinderung dem Unterricht nicht ohne sonderpädagogische Förderung zu folgen vermag. Diese Verfahrenslogik evoziert – ob gewollt oder nicht – eine antipädagogische Grundhaltung, die den Blick ausschließlich auf die Defizite des Kindes lenkt, auf das, was das Kind nicht lernt, wozu es nicht fähig ist, woran es nicht teilhaben kann, welche Entwicklungsniveaus und Bildungsstufen es nicht erreicht. Auf der Basis einer Inhaltsanalyse von 454 Fall-Akten aus den Jahren 2019 bis 2022, die uns durch die Bildungsdirektionen der neun Bundesländer zur Verfügung gestellt worden sind, untersucht der Beitrag ableistische Begründungszusammenhänge und soziale Zuschreibungen, die mit der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs einhergehen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Exklusionsrisiken schulischer Fähigkeitsregime (vgl. Buchner 2023) im Kontext von Leistungserwartungen und „Leistungsgerechtigkeit“ (vgl. Giese & Hoffmann 2023) und deren Bedeutung für eine Transformation in ein inklusives Bildungssystem.
Zwischen unscharfen Kategorisierungen und legitimierten Verwaltungsakten – Prozesse Sonderpädagogischer Feststellung in fünf Bundesländern und fünf Förderschwerpunkten im Projekt FePrax
Benjamin Haas1, Vera Moser1, Elena Galeano Weber2, Rebecca Aissa2, Ellen Brodesser3
1GU Frankfurt, 2DIPF, 3HU Berlin
Im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt FePrax (Laufzeit 2021-2024) wurde an drei Standorten (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Humboldt Universität Berlin, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) eine Analyse von 54 sonderpädagogischen Überprüfungsverfahren sowie anschließenden Beratungsgesprächen durchgeführt. Dazu konnte ein Sample aus den Bundesländern Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen und NRW in Bezug auf die Förderbedarfe Lernen, emotional-soziale Entwicklung, Geistige Entwicklung, Sprache sowie Autismus aus den Jahren 2022 und 2023 eingeholt werden. Die Analysen beziehen sich auf pädagogische und psychologische Gütekriterien der Gutachten, auf die Struktur und Zielstellung der anschließenden Beratungsgespräche sowie auf die Nachnutzung der Gutachteninformationen durch Lehrkräfte. Dabei interessierten auch landes- und förderschwerpunktspezifische Besonderheiten.
In der ersten Phase des Projektes wurden elf leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit Entscheidungsträger:innen in den länderspezifischen sonderpädagogischen Verwaltungsbehörden der fünf Bundesländer geführt, um vertiefte Einblicke in die in der Praxis vorherrschenden Handlungsweisen zu erhalten (Flick 2016). Die Auswertung erfolgte mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018).
Das Projekt ist multimethodisch angelegt: sowohl qualitative Inhaltsanalysen (Kuckartz 2018), Analysen von Kausalketten (Gläser & Laudel 2010, S. 203), Machine Learning Modelle und statistisch- quantitative Analysen wurden eingesetzt, des Weiteren wurden die standardisierten Testverfahren in Bezug auf ihre inhaltliche Passung und Dateninterpretation geprüft.
Die Ergebnisse werden in zentrale aktuelle Forschungsbefunde (Joél 2021, Goldan & Grosche 2021Gasteiger-Klicpera et al. 2023, MSB NRW 2024, Koßmann et al. 2024, Schroeder & Wagner 2024) eingebettet. Final werden Konsequenzen in Bezug auf Transformationen inklusiver Bildung diskutiert.
Zwischen Stabilisierungsfunktion und Transformationsanspruch – Einblick in Verfahren zur Feststellung von Sonderpädagogischen Förderbedarf aus dem Projekt InDiVers
Katja Adl-Amini1, Sylvie Borel1, Julia Gasterstädt2, Anna Kistner3
1TU Darmstadt, 2Universität Münster, 3Universität Kassel
Trotz vielfältiger Reformen im Nachgang der UN-BRK in den deutschen Bundesländern wird der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) weiterhin eine Notwendigkeit zugeschrieben. Dabei bleibt die als individuumszentriert und defizitorientiert kritisierte Definition des SPF und die damit verbundene Statusdiagnostik maßgebend bestehen (z. B. Gasterstädt et al., 2020). Während die potenziell stigmatisierenden und diskriminierenden Auswirkungen der Zuschreibung eines SPF empirisch vielfach belegt sind (z. B. Buchner, 2018; Pfahl & Powell, 2010), besteht hinsichtlich der Mechanismen und Routinen, die im Rahmen der Feststellung von SPF wirksam werden, ein Forschungsdesiderat. Hier setzt das interdisziplinäre Verbundprojekt „InDiVers“ an und fragt mit der theoretischen Perspektive institutioneller Diskriminierung (Gomolla & Radtke, 2009) danach, wie In- und Exklusion verhandelt und legitimiert und darüber die zugrundeliegende schulische Differenzkategorie SPF im Kontext der Feststellungsverfahren hervorgebracht wird. Diesen Fragestellungen geht das Projekt im Rahmen eines mehrebenenanalytischen, an der Grounded Theory Methodologie und Situationsanalyse orientierten Forschungsdesigns vergleichend in den vier Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt nach. Fokussiert werden dabei sowohl regionale Akteurskonstellationen, Einzelschulen als auch neun konkrete Verfahren im Förderschwerpunkt ‚Lernen‘. Im Beitrag werden zentrale Forschungsergebnisse präsentiert und Transformationspotentiale zur Diskussion gestellt, die im Vergleich der Verfahren insbesondere am Beispiel des Saarlands aufscheinen.