„Ich weiß nicht mal, wie das Kind heißt“ – studentische Lehrkraft an der Schule für alle
Anja Seifert1, Michaela Artmann2
1JLU Gießen, Deutschland; 2Universität zu Köln, Deutschland
Der folgende Beitrag fokussiert Exklusionsrisiken und -praktiken in transformatorischen Prozessen im Bildungssystem. Hier wird insbesondere die unbegleitete Praxistätigkeit von Studierenden an der Grundschule, die historisch mit ihrem Gründungsversprechen und mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention eine „Schule für alle“ repräsentiert und in der die Inklusionsquote von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf am höchsten ist, in den Blick genommen. Durch den Lehrkräftemangel, der sich insbesondere im Grundschullehramt auswirkt, wird es zunehmend selbstverständlich – und auch bildungspolitisch gewollt – , dass Lehramtsstudierende als studentische Aushilfs- und Vertretungslehrkräfte (sAV) bereits im Schuldienst arbeiten. Hinzu kommt, dass die Ausbildung zur Lehrer*in in den meisten Bundesländern nicht spezifisch auf eine inklusive Lehrtätigkeit vorbereitet, womit sich die Problemlage, eigentlich noch nicht Lehrer*in zu sein und gleichzeitig schon als Lehrer*in in einem inklusiven Setting eingesetzt zu werden, zu einem strukturellen Spannungsfeld und einer berufsbiographisch erlebten Krisenerfahrung innerhalb des Professionalisierungsprozesses zur Lehrer*in entwickeln kann. Vorgestellt werden Ergebnisse aus einer qualitativen Teilstudie des PROSA-Projektes (Professionalität und Professionalisierung studentischer Aushilfs- und Vertretungslehrkräfte), die anhand der Analyse des im Rahmen des Projektes erhobenen Datenmaterials (problemzentrierte Gruppendiskussionen und Einzelinterviews) darauf verweisen, dass Einzelbemühungen der Studierenden, ihr Verständnis von Förderung und einem kindorientierten Unterricht im Sinne einer Schule für alle umzusetzen, schnell an Grenzen stoßen und Bemühungen um Inklusion bzw. einen inklusiven Unterricht durch fehlende Informationen zu den Kindern (z.B. zum individuellen Förderbedarf, zur Zusammensetzung der Lerngruppen) und zu Themen einer inklusiven und partizipativen Schul- und Unterrichtsentwicklung (inkl. Abstimmung über Regeln und Rituale, Kooperationsgespräche, Supervision und Mentoring) zu Überforderungssituationen führen können. Bislang liegen zur Situation von sAV nur wenige Studien vor, wie die von Simonis/Klomfaß (2023) vom Projekt TrigitalPro oder Holmeier/Scheidig (2022) für die deutschsprachige Schweiz. Im anvisierten Beitrag fokussieren wir uns auf die in PROSA (Artmann/Seifert/Rakoczy 2023) erhobenen spezifischen Herausforderungen, die den sAV in inklusiven Klassen begegnen, sowie deren Bearbeitungen durch die Studierenden.
Kooperation in der (inklusiven) Schule: Exklusionspraktiken in multiprofessionellen und interdisziplinären Teams der Sekundarstufenschulen I in Österreich
Miriam Sonntag
Universität Innsbruck, Österreich
Multiprofessionelle und interdisziplinäre Kooperation wird mittlerweile als ‚conditio sine qua non‘, also als eine notwendige Bedingung im Kontext der inklusiven Schule, verhandelt (Idel et al., 2019; Köpfer & Lemmer, 2020). Allerdings ist davon auszugehen, dass es nicht die perfekte Kooperationsstruktur oder das multiprofessionelle Team in den Schulen gibt. Vielmehr sind nach Kullmann "die Formen oder Arten der multiprofessionellen Zusammenarbeit in Schulen (…) so vielfältig wie die Schulen selbst" (Kullmann, 2018, S. 4). Die empirische Befundlage weist insgesamt darauf hin, dass sich eine intensive Zusammenarbeit grundsätzlich positiv auf die Implementation von Innovationen auswirkt (Pröbstel, 2008). Zugleich unterstützt sie auch den Abbau von Lernbarrieren auf der Ebene der Schüler*innen - eine Forderung an Schulen, die sich handlungsleitend aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt (European Agency for Special Needs and Inclusive Education, 2012, 2022). Die Umsetzung dessen sowie die jeweiligen strukturellen Rahmenbedingungen nehmen maßgeblich darauf Einfluss, wie dieser Transformationsprozess gegenwärtig charakterisiert werden kann. Dabei gilt es zu klären, wie diese Prozesse inklusionsorientiert unterstützen können, sich aber auch nach fast 40-jähriger Kooperationsforschung vor dem Hintergrund des gemeinsamen Unterrichts sich mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert sehen. Die Ergebnisse aus einem aktuellen Forschungsprojekt zur Kooperation in (inklusiven) Sekundarstufenschulen in Österreich (Sonntag, 2024, in Begutachtung) verweisen darauf, dass Exklusionspraktiken nach wie vor häufig zentrales Bestimmungsmerkmal von Kooperierenden darstellen. Die Ergebnisse hinsichtlich verschiedener struktureller Rahmenbedingungen hierzu werden ergänzend um die – häufig davon abweichende – Innenperspektive der Kooperierenden vorgestellt und vor dem Tagungsschwerpunkt näher diskutiert.
Welche Auswirkungen hat die inklusive Hochschullehre mit qualifizierten Menschen mit Behinderungen auf die Überzeugungen von Lehramtsstudierenden gegenüber Inklusion?
Mia Hoffmann1,2,3, Nicole Haase1,3, Sonja Krämer1,2, Friederike Zimmermann1,2,3
1Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland; 2Institut für Pädagogisch-Psychologische Lehr- und Lernforschung, Christian-Albrecht-Universität zu Kiel; 3Institut für Inklusive Bildung, Christian-Albrecht-Universität zu Kiel
Seit 2022 ist das Institut für Inklusive Bildung fester Bestandteil der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. An diesem arbeiten sogenannte Bildungsfachkräfte: Menschen mit Behinderungen, die in einer 3-jährigen Vollzeit-Ausbildung für die Lehre an Hochschulen qualifiziert wurden. Sie richten ihre Bildungsangebote insbesondere an Lehramtsstudierende und sensibilisieren in Seminaren für die Themen Inklusion, Teilhabe und Mitbestimmung.
In Anlehnung an die Kontakthypothese (Allport, 1954) untersucht diese Studie die Auswirkungen der Lehre der Bildungsfachkräfte auf die Überzeugungen von Lehramtsstudierenden in Bezug auf Inklusion und die Anwendung inklusiver Unterrichtspraktiken in ihrem eigenen Unterricht. Die Daten wurden in einem kontrollierten Prä-Post-Follow-Up-Design mit einer Kontrollgruppe erhoben. Die Stichprobe bestand aus N = 356 Lehramtsstudenten (N = 212 in der Interventionsgruppe, N = 144 in der Kontrollgruppe), die an Seminaren im Master-Lehramtsstudium teilnahmen. In der Interventionsgruppe wurde eine Seminarsitzung von den Bildungsfachkräften gestaltet, während die Kontrollgruppe dem üblichen Lehrplan folgte. Mit Hilfe eines Fragebogens wurden Einstellungen, moderne Vorurteile, Selbstwirksamkeit und in einer Follow-Up-Erhebung, inklusive Unterrichtspraktiken erfasst.
Die Berechnungen eines Strukturgleichungsmodells zeigte, dass die Seminarsitzung der Bildungsfachkräfte einen kurzfristig positiven Effekt auf Einstellungen (β = .19, p < .001), moderne Vorurteile (β = -.25, p < .001) und Selbstwirksamkeit (β = .11 , p < .05) der Lehramtsstudierenden in Bezug auf die Inklusion von Schüler:innen mit Förderbedarfen hatte. Die Ergebnisse der Follow-Up-Erhebung lassen allerdings nicht auf eine langfristige Stabilität der Effekte schließen und es gibt keinen Hinweis auf einen stärkeren Einsatz inklusiver Unterrichtspraktiken (β = .08, p < .60) in der Interventions- im Vergleich zur Kontrollbedingung. Zukünftige Forschungsarbeiten sollten untersuchen, inwiefern diese vorübergehenden Effekte langfristig aufrechterhalten werden können.
Der Beitrag wird als inklusives Team, bestehend aus einer Doktorandin und einer Bildungsfachkraft, präsentiert.
|