Transformative Aspekte inklusiver Bildung: Strukturen, Lernarchitekturen und Aufgabenformate
Chair(s): David Rott (Universität Münster, Deutschland)
DiskutantIn(nen): Katja Adl-Amini (TU Darmstadt)
Die Gestaltung von Inklusion in der Schule ist von vielfältigen Herausforderungen gekennzeichnet: Inklusion wird in der Praxis weiterhin vor allem als Anliegen der Sonderpädagogik wahrgenommen (Dexel & Kottmann, 2022), das Schulsystem kämpft mit einem massiven Mangel an Lehrpersonen (Korneck, 2024) und somit mangelnden Ressourcen, bildungspolitisch wird das Projekt Inklusion nicht zentral verfolgt (Klemm, 2022) und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie demokratiefeindliche Tendenzen wirken massiv auf inklusive Strukturen ein (Hinz et al., 2023). Gleichwohl ist mit dem Ziel von Inklusion, allen Menschen (egal, welche Voraussetzungen sie haben oder welche Zuschreibungen bei ihnen getroffen werden) eine partizipative Rolle in der Gesellschaft zu ermöglichen, ein zentraler Wert gesetzt (Meyer et al., 2020). Diese gesamtgesellschaftlichen Tendenzen betreffen ebenso die Institution Schule wie den Unterricht – und damit didaktische Fragestellungen. Das transformative Potenzial inklusiver Bildung ist fraglos vorhanden, muss aber noch tiefergehend bestimmt und auch empirisch untersucht werden. Besonders geraten in diesem Zusammenhang Aspekte kritischen Denkens und des selbstregulierten Lernens in den Fokus (Rott & Kohnen, 2023), die allerdings im Kontext inklusiver Bildung wenig diskutiert werden.
In diesem Symposium wird über drei Beiträgen folgenden Fragen nachgegangen. Erstens: Welche Elemente inklusiver Unterrichtsgestaltung können Bildungs- und Teilhabebarrieren verringern? Zweitens: Welche Gestaltungsmöglichkeiten auf Aufgabenebene lassen sich beschreiben, mit denen alle Schüler*innen Angebote zur Entwicklung des Kritischen Denkens als einen zentralen Aspekt der Partizipation erhalten können? Drittens: Wie können adaptive Lernarchitekturen im schulischen Kontext in einem größeren Maßstab ausgestaltet werden, die inklusive Bildung mit Blick auf diversitätssensibles selbstreguliertes Lernen aller Schüler:innen ermöglichen?
Über diese Aspekte werden transformative Aspekte der inklusiven Bildung beschreibbar gemacht und aufgedeckt. Dabei werden sowohl systembezogene Fragen wie auch institutionen- und personenbezogene Fragen aufgegriffen, etwa zur Entwicklung seitens der Schüler*innen oder zum diagnostischen und didaktischen Handeln der Lehrpersonen. Im Sinne der zukunftsorientierten Gestaltung von Schule und Unterricht werden Elemente herausgearbeitet, die im Sinne von Schul- und Unterrichtsentwicklung transformatives Potenzial entwickeln können.
Beiträge des Symposiums
Zwischen Kompensation und Reproduktion – Potenziale und Risiken einer inklusiven Didaktik im Kontext von transformativer Bildung
Timo Dexel
Universität Münster
In den letzten Jahren wurden einige empirische Studien publiziert, die auf die Bedeutung des Unterrichts und Unterrichtens bei der Entstehung und Reproduktion von Benachteiligung hinweisen (Straehler-Pohl, 2014; Bohlmann 2016, Kabel, 2019; Koßmann, 2019). Bei aller Vorsicht konstatieren Helbig (2020) sowie El-Mafalaani (2021) jedoch, dass das Schulsystem zumindest eine gewisse kompensatorische Wirkung entfaltet und damit Schlimmeres verhindern kann: ohne den Zugang zu schulischer Bildung verschärft sich soziale Ungleichheit weiter. Die Gestaltungsprinzipien einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung (Lindmeier & Lindmeier, 2012) sind bekannt und bewährt. Didaktik erscheint aber oft ausgespart. Dies liegt auch an der Komplexität der Sache: Bedürfnisse und Besonderheiten von Kindern, die in sozial benachteiligten Lagen aufwachsen, mahnen an eine Anpassung des Unterrichts an. Gleichzeitig birgt diese Differenzierung immer die Gefahr, Ungleichheiten zu reproduzieren, wenn etwa bestimmte Methoden und Inhalte aus Angst vor Überforderung nicht genutzt werden. Die Gefahr, Benachteiligung also durch das eigene Handeln erst zu schaffen, ist groß. Im Vortrag soll daher der Frage nachgegangen werden, wie unterrichtliche Bildungsbarrieren reduziert werden können, ohne in eine ‚Defizitdidaktik‘ (Werning & Lütje-Klose, 2012) zu verfallen.
Bohlmann, N. (2016). Implizitheit und Explizitheit. Praxeologische und institutionskritische Analysen zum Mathematikunterricht. Springer.
El-Mafaalani, A. (2021). Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Mit einem Zusatzkapitel zur Corona-Krise. Kiepenheuer & Witsch.
Helbig, M. (2020). Antwort auf „Ungleiche Grundschulen und die meritokratische Fiktion im deutschen Schulsystem“ von Georg Breidenstein. Zeitschrift für Grundschulforschung, 13(2), 309–316.
Kabel, S. (2019). Soziale Herkunft im Unterricht. Rekonstruktionen pädagogischer Umgangsmuster mit Herkunftsdifferenz im Grundschulunterricht. Springer VS.
Koßmann, R. (2019). Schule und "Lernbehinderung". Wechselseitige Erschließung. Verlag Julius Klinkhardt.
Lindmeier, B. & Lindmeier, C. (2012). Pädagogik bei Behinderungen und Benachteiligungen. Kohlhammer.
Straehler-Pohl, H. (2014). Wie Bildung scheitert - Mathematikunterricht im Kontext eingeschränkter Erwartungen. Schulheft, (154), 63–68.
Werning, R. & Lütje-Klose, B. (2012). Einführung in die Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen. Reinhardt.
Aufgabeformate zum Kritischen Denken – Dilemmata, Entscheidungsgeschichten und Modellierungen als differenzierende Aufgaben für alle Schüler*innen
Marcus Kohnen, David Rott
Universität Münster
Kritisches Denken ist ein wichtiges Bildungsziel (Pfister, 2020). Es liegen bislang wenige didaktische Vorschläge vor (Dwyer, 2017; bell hooks, 2024), wie Kritisches Denken in inklusiven Unterrichtsangeboten gelehrt und gelernt werden kann. Oftmals wird Kritisches Denken angebunden an die Critical Thinking Skills (Facione, 1990). Diese sind wie klassische Lernstrategien zu verstehen, führen aber in ihrer stark kognitiven Ausrichtung zu einer Verengung auf Schüler*innen, die entsprechende Leistungsvoraussetzungen einbringen können (Hitchcock, 2020).
Vorgestellt werden Aufgabenformate, die im Schuljahr 2022-23 mit Siebtklässler*innen einer Sekundarschule und im Schuljahr 2023-24 in zwei ersten Klassen erprobt wurden. Hierbei werden die Aufgabenbearbeitungen der Schüler*innen präsentiert, analysiert und diskutiert. Die Versprachlichungen werden im Sinne von Gruppendiskussionen analysiert (Przyborski, 2004). Leitend ist das sequenzanalytische Vorgehen (Meseth, 2013) unter Berücksichtigung des erstellten Produkts, auf das in der Versprachlichung Bezug genommen wird. Aufgearbeitet werden anhand der konkreten Bearbeitungen durch die Schüler*innen Barrieren des Materials sowie Aspekte, die einen gelingenden Einsatz im inklusiven Kontext ermöglichen. Impulse für die schulische und die wissenschaftliche Arbeit werden abgeleitet.
bell hooks (2024). Kritsch denken lernen. Antworten aus der Praxis. Münster: Unrast.
Dwyer, C. P. (2017). Critical thinking: Conceptual perspectives and practical guidelines. Cambridge University Press.
Facione, P. (1990). Critical thinking: A statement of expert consensus for purposes of educational assessment and instruction. ERIC.
Hitchcock, D. (2020). Critical thinking. In Zalta E. N. (Co Ed.), The stanford encyclopedia of philosophy (fall 2020 edition). The metaphysics research lab, Stanford University. https://plato.stanford.edu/archives/fall2020/entries/critical-thinking/
Meseth, W. (2013). Die Sequenzanalyse als Methode einer erziehungswissenschaftlichen Empirie pädagogischer Ordnungen. In B. Friebertshäuser, S. Seichter (Hrsg.), Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz. 63-80.
Pfister J. (2020). Kritisches Denken. Reclam.
Przyborski, A. (2004). Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: VS Verlag.
Transformative Potenziale selbstregulierten Lernens in der inklusiven Bildung
Christian Fischer, Timo Dexel
Universität Münster
Für das Wohlbefinden und die Lernleistungen von Schüler:innen hat Selbstregulation eine hohe Relevanz; die Förderung dieser findet im Schulalltag kaum statt (Leopoldina, 2024).
Selbstregulierte Lernformate fokussieren bislang leistungsstärkere Schüler:innen aus bildungsprivilegierten Lagen; selbstregulative Kompetenzen haben diese oftmals im außerschulischen Kontext erworben. Durch die Öffnung des Unterrichts in inklusiven Settings wird selbstreguliertes Lernen für alle Schüler:innen relevant; hier besteht die Gefahr, dass Selbstregulationskompetenzen vorausgesetzt werden. Bildungsbenachteiligte Schüler:innen können so von geöffnetem Unterricht ausgeschlossen werden (Böttcher, 2020).
Diese Herausforderungen adressieren diagnosebasierte Förderformate (diFF) zum selbstregulierten Lernen im Sinne einer `potenzialorientierten Didaktik´ der inklusiven Begabungsförderung (Seitz et al., 2016), die allen Schüler:innen zutraut, ihre Lernprozesse zu regulieren (Vohrmann et al. 2020).
Das diFF ist eine materialgestützte Lernarchitektur der innovativen Unterrichts- und Schulgestaltung, die das Ziel verfolgt, selbstreguliertes Lernen von Schüler:innen mittels Lernstrategien zu fördern sowie Lerninteressen und Lernpotenziale herauszufordern. (Fischer et al., 2021). Mit diFF-Diversity sollen Adaptationen mit Blick auf Mehrsprachigkeit, soziale Benachteiligung sowie sonderpädagogische Unterstützungsbedarfe vorgenommen werden, um die transformativen Potenziale voll auszuschöpfen.
Böttcher, W. (2020). Chancengleichheit in der Sackgasse. In C. Fischer et al. (Hrsg.), Begabungsförderung, Leistungsentwicklung, Bildungsgerechtigkeit – für alle! (S. 43–58). Waxmann.
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina. (2024). Förderung der Selbstregulationskompetenzen von Kindern und Jugendlichen in Kindertageseinrichtungen und Schulen. https://doi.org/10.26164/leopoldina_03_01157
Fischer, C., Hillmann, D., Kaiser-Haas, M. & Konrad, M. (Hrsg.). (2021). Strategien selbstregulierten Lernens in der individuellen Förderung: Ein Praxishandbuch zum Forder-Förder-Projekt. Waxmann.
Seitz, S., Pfahl, L., Lassek, M., Rastede, M. & Steinhaus, F. (2016). Hochbegabung inklusive Inklusion als Impuls für Begabungsförderung an Schulen: auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Beltz.
Vohrmann, A., Fischer, C. & Fischer-Ontrup, C. (2020). Adaptive Formate des diagnosebasierten individualisierten Forderns und Förderns. In G. Weigand, C. Fischer, F. Käpnick, C. Perleth, F. Preckel, M. Vock & H.-W. Wollersheim (Hrsg.), Leistung macht Schule. (S. 76-84). Beltz Verlag.