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Sek62: Sektion Wissenschafts- und Technikforschung: "Aktuelle Perspektiven der Wissenschafts- und Techniksoziologie"
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Covid-19 Dashboards und die Unmöglichkeit apolitischen Krisenwissens Philipps-Universität Marburg, Deutschland In einem Gesundheitsnotstand ist es entscheidend, zu wissen, was vor sich geht. Von Regierungen, die Maßnahmen ergreifen, über Gesundheitssysteme, die Vorräte verwalten, bis hin zu Bürger*innen, die Schutzmaßnahmen umsetzen – die Reaktion auf die Krise erfordert einen Wissensmodus, der als situational awareness bezeichnet wird. Während der Covid-19-Pandemie wurde diese situational awareness insbesondere durch die Veröffentlichung epidemiologischer „Echtzeitdaten“ in sogenannten Corona-Dashboards hergestellt. Diese Webanwendungen, die die Dynamik der Pandemie durch Grafiken, Listen und thematische Karten veranschaulichten, wurden zu zentralen Repräsentationen der Krise. Gleichzeitig wurde jedoch die Qualität dieser Darstellungen von Anfang an angezweifelt. Anknüpfend an die STS-Forschung zu Repräsentationen in der wissenschaftlichen Praxis und die Critical Data Studies plädiere ich dafür, nicht nur auf die ‚Richtigkeit‘ der Daten und ihrer Darstellung zu fokussieren, sondern die unvermeidlichen politischen Aspekte der Produktion dieses Notfallwissens anzuerkennen. Dashboards können keine perfekte, simultane Darstellung einer sich entfaltenden Notfallsituation bieten. Damit ein Fall auf einem Dashboard angezeigt werden kann, muss er eine lange Kette von Mediatoren durchlaufen, die jeweils eigene Einschränkungen mitbringen. Basierend auf 26 Interviews mit Dashboard-Macher*innen, ausgewertet mit Situationsanalyse (Clarke, Friese, Washburn 2018), kartiere ich diese mehr-als-menschlichen Konstellationen, die an der Produktion von Covid-19-Daten beteiligt sind, und lege die Kontingenzen, Entscheidungen sowie sozialen und technologischen Einschränkungen offen, die die Erfassung und Darstellung der Pandemie prägen. Die Einsicht, dass es kein unmediatisiertes, direktes Wissen über den sich entfaltenden Notfall gibt, eröffnet eine Sicht darauf, dass was als „gute Daten“ gilt, davon abhängig ist, wozu diese genutzt werden sollen und welche Verzögerungen und Unschärfen dabei akzeptiert werden können. Obwohl die empirische Studie sich mit Covid-19-Dashboards befasst, bleibt die theoretische Einsicht in der gegenwärtigen Transition in eine Ära intensiver und permanenter sozial-natürlicher Notfälle und Krisen auch nach der Covid-19-Pandemie relevant. Eiswesten und sweat sticker. Zur thermischen Medialität tragbarer Kühltechnologien Universität Duisburg-Essen (UA Ruhr), Deutschland Mit zunehmenden Hitzewellen und steigenden globalen Temperaturen gewinnen tragbare Kühltechnologien an Bedeutung. Digitalisierte Eiswesten oder sensorbasierte sweat sticker versprechen eine Messung und temporäre Erleichterung von Hitzebelastung, etwa in Arbeitskontexten, im Sport oder Gesundheitswesen. Dabei reicht ihr Effekt weit über bloße Temperaturregulation hinaus. Der Vortrag untersucht die thermische Medialität dieser Technologien – ihre materiell-semiotische Vermittlungsleistung zwischen Körper und Umwelt, insbesondere bei Hitze und Luftfeuchtigkeit. Die medientechnische Materialität im Kontakt von Haut bzw. Pore und Sensor rückt dabei in den Blick. Eine wichtige Bedeutung kommt dem Schwitzen zu: Während Schwitzen als zentrale physiologische Funktion einer Abkühlung des Körpers dient, ist es sozial und kulturell negativ konnotiert – mit Assoziationen zu Unsauberkeit, Kontrollverlust oder sozialem Stigma. Tragbare Kühltechnologien reduzieren einerseits die Notwendigkeit des Schwitzens und ermöglichen so eine Kühlung ohne sichtbare Feuchtigkeitsabsonderung. Andererseits werfen sie Fragen nach der langfristigen Adaptionsfähigkeit des Körpers auf, insbesondere unter extremen „Wet-Bulb“-Bedingungen, in denen hohe Temperaturen und Luftfeuchtigkeit die Kühlfunktion des Körpers durch Verdunstung von Schweiß unwirksam machen. Wie verschieben sich die Grenzen zwischen Körper und Umwelt, wenn Kühlung nicht mehr aus dem Körperinneren, sondern über externe Technologien erfolgt? Der Vortrag argumentiert, dass Eiswesten eine thermische Medialität verkörpern, die neue Erfahrungsweisen von körperlicher Porosität schafft. Als soziotechnische Schnittstellen sind die diskutierten Technologien Ausdruck sich wandelnder Körper-Umwelt-Verhältnisse. In Zeiten, in denen der Umgang mit Hitze zunehmend individualisiert wird, offenbaren sich auch neue Formen thermischer Ungleichheit: Welche Körper gelten als schützenswert, wer erhält Zugang zu Kühlung? Analytisch ist der Vortrag im Feld der Critical Temperature Studies verortet, einem jüngeren Bereich innerhalb der Science and Technology Studies sowie der Wissenschafts- und Körpersoziologie. Skizziert werden neue Perspektiven auf die Rolle tragbarer Technologien im gesellschaftlichen Umgang mit Hitze. Selektion & Selbstselektion unter prekären Rahmenbedingungen in der Wissenschaft 1Humboldt-Universität zu Berlin; 2Robert K. Merton Zentrum für Wissenschaftsforschung Geht es um die Gewinnung wissenschaftlichen Personals, konzentrieren sich Wissenschaftspolitik und -Mangement häufig einseitig auf Selektionsprozesse und vernachlässigen dahinterstehende Selbstselektionen. Damit setzten sie implizit voraus, dass genügend fähige „Nachwuchskräfte“ in die Wissenschaft strömen und es ausreichende „Auswahl“ gibt, um geeignete Kandidat:innen zu selektieren. In dem Beitrag hinterfragen wir diese Annahme und beleuchten die Selbstselektionsprozesse im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft. Anhand empirischer Daten des Berlin Science Surveys, argumentieren wir, dass es aktuell zu einer wesentlichen Verschiebung auf dem akademischen Arbeitsmarkt kommt, die die Universitäten zwingt, die Arbeitsbedingungen und Rahmenbedingungen der Forschung zu verbessern. Es zeigt sich erstens, dass die Arbeitsbelastungen sehr hoch sind und viele Wissenschaftler:innen an ihre Grenzen bringen. Das gilt für Postdocs mehr als für Prädocs, am meisten jedoch für die Professor:innenschaft. Diese weist nicht nur die höchsten Wochenarbeitszeiten auf, sondern auch die höchsten Stresswerte. Zweitens möchte die Mehrheit derjenigen Postdocs, die ein Berufsziel in der Wissenschaft verfolgen, keine Professur, sondern präferiert andere Positionen. Dieser Befund korrespondiert mit einer nur mäßigen Einschätzung der Attraktivität des Berufsbilds „Professur“. Wir interpretieren diese Befunde in direktem Zusammenhang mit den hohen Arbeitsbelastungen, den teils entgrenzten Arbeitszeiten und dem Stress, der vor allem bei den Professor:innen sichtbar wird. Drittens, zeigen sich in einigen Fächern bereits Schwierigkeiten, offene Stellen mit geeigneten Bewerber:innen zu besetzen. Wir sehen hier klare Anzeichen dafür, dass sich das Angebot-Nachfrageverhältnis im wissenschaftlichen Arbeitsmarkt verschiebt. Das bietet Chancen für die Beschäftigten, denn es setzt die Einrichtungen unter Druck die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wenn Sie „die besten Köpfe“ gewinnen wollen. Wir erwarten einen zunehmenden Wettbewerbsdruck zwischen den Hochschulen und Forschungseinrichtungen, um geeignete Kandidat:innen zu gewinnen. Hier sehen wir eine realistische Chance, dass die Einrichtungen ihre Attraktivität durch die Verbesserung der Arbeitssituation und Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre steigern könnten. Soziotechnische Felder: Ein Konzept zur Untersuchung der digitalen Transformation sozialer Mesoordnungen Johannes Kepler Universität Linz, Österreich Die digitale Transformation verstärkt das Interesse der Soziologie an der Wechselwirkung von Technik und Gesellschaft. Dabei liegt der Fokus auf den Ebenen der Gesamtgesellschaft und der Organisation sowie auf spezifischen Entwicklungs- und Nutzungspraktiken. Soziale Mesoordnungen stehen nur dort im Zentrum des Interesses, wo es um technikzentrierte Bereiche wie Innovationsfelder, Industrien oder Technologiemärkte geht. Heute sind aber fast alle Bereiche des sozialen Lebens hochgradig technisiert, so dass technischer und sozialer Wandel allerorten eng verwoben stattfinden. Der vorliegende Beitrag schlägt daher das Konzept des soziotechnischen Feldes vor, um Technik als integralen Bestandteil sozialer Mesoordnungen zu analysieren. Felder werden als Bereiche des sozialen Lebens definiert, in denen (1) die aufeinander bezogenen Handlungen (2) heterogener Akteure strukturiert sind durch geteilte (wenngleich wandelbare und oft umkämpfte) Verständnisse über die im Feld relevanten (3) Themen und Ziele, (4) Akteurspositionen und (Macht-)Beziehungen, sowie (5) Regeln des legitimes Handelns. Die These des Beitrags lautet, dass Technik nicht als zusätzliche Felddimension betrachtet werden sollte, sondern grundlegend mit allen Dimensionen sozialer Felder verwoben ist. Im ersten Schritt wird gezeigt, wie Technik in etablierten Feldtheorien einbezogen wird. Bourdieus Feldtheorie hebt habituelle Dispositionen von Akteuren (2) zur Technik und technisches Kapital als Machtressource (4) hervor. Neo-institutionalistische Ansätze betonen Technik als Rationalitätsmythos und Quelle von Isomorphie und diskutieren so ihre Bedeutung für die Regeln legitimen Handelns (5). Mit dem Konzept der Issue-Based Fields wird Technik als Quelle zentraler Feldthemen (3) aufgegriffen. Im zweiten Schritt wird argumentiert, dass im Zuge der digitalen Transformation die gegenseitige Wahrnehmung und Interaktionen zwischen Akteuren in immer mehr Feldern technisch vermittelt sind, so dass auch die Bezugnahme auf die Handlungen anderer (1) durch Technik geprägt ist. Exemplarisch hierfür stehen soziale Medien, Suchmaschinen und digitale Plattformen mit ihren Möglichkeiten der algorithmischen Kuratierung von Sozialität. Damit verbunden ist sowohl der Wandel einer Vielzahl einzelner Felder, als auch der Aufstieg von Feldern wie Social Media, Cloud Computing und AI zu neuen gesellschaftlichen Machtzentren. Transnationale Transitionsprozesse der globalen Wissenschaft Robert K. Merton Zentrum, Humboldt-Universität zu Berlin Der Beitrag präsentiert Überlegungen dazu, wie geopolitische und postkoloniale Transitionen in der Wissenschaft auf epistemischer und institutioneller Ebene aus einer machtkritischen Perspektive heraus untersucht werden können. Im Zuge der Dekolonisierungsbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts erlangten nicht nur postkoloniale Staaten ihre Unabhängigkeit, sondern es konfiguierten sich auch deren Wissenschaftssysteme institutionell und epistemisch neu. Diese Transitionsprozesse spielten sich sowohl auf epistemischer Ebene ab – in anti-kolonialen Denktraditionen – als auch auf organisatorischer – im Aufbau eigener Forschungsinfrastrukturen oder der Neu-Ausrichtung von Universitäten. Der Beitrag entwickelt eine wissenschaftssoziologische Perspektive auf die Transitionsprozesse postkolonialer Wissenschaftssysteme und baut dafür auf bestehende Debatten in den globalen Soziologien auf und schlägt einen Dialog beider Forschungsfelder vor. Bisher besteht ein geringer Austausch zwischen ‚science studies‘ und globalen Soziologien welche den Eurozentrismus akademischer Wissensproduktion kritisieren: die Debatte in den globalen Soziologien ist größtenteils epistemologisch geprägt und bezieht sich auf makro-theoretische Beobachtungen, während sich insbesondere science and technology studies auf mikro-soziologische Ethnographien konzentrieren. Ich greife auf Merton’s wissenschaftssoziologische Arbeiten zurück, der Fragen nach institutionalisierten Belohnungsprozessen in der Wissenschaft im Vordergrund stellt und Macht- und Ungleichheitsverhältnisse auf der Meso-Ebene betrachtet. Im Gegenzug können globale Soziologien als machtkritische und historisch informierte Kritik an Mertons Wissenschaftssoziologie interpretiert werden können. Empirisch illustriere ich anhand bestehender Forschung zur akademischen Wissensproduktion in Lateinamerika, wie sich auf der meso-Ebene und aus einer transnationalen Perspektive heraus, ein Wissenschaftssystem untersuchen lässt, dass sich institutionell zu einem regionalen System transformiert hat, das nicht von westlichen Datenbanken, Verlagshäusern etc. abhängt. |