Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
Sek56: Sektion Soziologische Theorie; Sektion Wissenschafts- und Technikforschung: "Soziologie der Transformation oder Transformation der Soziologie? Zum Verhältnis von Soziologie und ›außersoziologischem Soziologisieren"
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Youssef Ibrahim, Universität Hamburg
Chair der Sitzung: Fabian Anicker, HHU Düsseldorf
Chair der Sitzung: Katharina Block, Universität Rostock
Chair der Sitzung: Katharina Hoppe, Goethe-Universität Frankfurt
Chair der Sitzung: Anne K. Krüger, Weizenbaum-Institut
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Die Soziologisierung der Klimaforschung – Oder: wie die Attributionsforschung begann, sich für das Wetter zu interessieren

Julia Schubert

Goethe Universität Frankfurt, Deutschland

Im Februar 2003 begeht Myles Allen, ein prominenter Klimawissenschaftler an der Universität Oxford, einen disziplinären „Tabubruch“ (vgl. Allen & Lord 2004: 551). Inspiriert von der Epidemiologie schlägt er vor, über Wahrscheinlichkeitsanalysen einen direkten Zusammenhang zwischen Treibhausgasemissionen und einzelnen Wetterereignissen herzustellen (Allen 2003). Heute, rund 20 Jahre nach dem umstrittenen Gedankenexperiment, sucht die sogenannte Extreme Event Attribution ihrem Selbstverständnis nach routinemäßig „nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme” (Otto 2020). Die Formierung der Extreme Event Attribution ist bemerkenswert. Sie lässt sich nicht einfach durch neuartige empirische Erkenntnisse oder ein besseres Verständnis dynamischer Prozesse erklären. Tatsächlich konnte der Klimawandel zum Zeitpunkt von Allens Gedankenexperiment nur in stark aggregierten Beobachtungsdaten dokumentiert werden. In Bezug auf Extremereignisse wie Fluten, Stürme oder Hitzewellen ließen sich nur vorsichtig Trends ausmachen (Houghton & IPCC, 2001: 713). Es waren also weder neue Daten noch bessere Modelle, die im Jahr 2003 plötzlich neuartige Aussagen über den Zusammenhang von Treibhausgasemissionen und Wetterereignissen denkbar machten. Stattdessen, so möchte ich in Anlehnung an den Titel der Sektionsveranstaltung vorschlagen, ist die Formierung dieses neuen Forschungsfeldes Ausdruck einer Soziologisierung der Klimawissenschaften: Zusammen mit einem kleinen Kreis von Kolleg*innen artikuliert Myles Allen in den folgenden Jahren eine Methode, die klimawissenschaftliche Evidenzen auf ganz neue Art mit gesell-schaftspolitischen Kategorien verstrickt. In meinem Beitrag rekonstruiere ich diesen Prozess der Soziologisierung. Dabei stütze ich mich auf zentrale wissenschaftliche Publikationen des Feldes, methodische Protokolle, Sachstandsberichte und Expert*inneninterviews. Ich zeige, dass es bei diesem Prozess nicht lediglich um eine Verfeinerung der üblichen klimawissenschaftlichen Skalen geht, sondern um die Artikulierung einer klimawissenschaftlichen Forschungsagenda, die ihre Fragen, Begriffe, und Methoden ganz explizit an soziologischen Anliegen orientiert.



Gehirne als Vorbild für pandemische Kontrolle? Die soziale Epistemologie der COVID 19 Modelle

Finn Langbein1,2

1Philipps-Universität Marburg, Deutschland; 2SFB 138 "Dynamiken der Sicherheit"

Kein Wissen hat unser Verständnis der COVID 19 Pandemie so nachhaltig geprägt wie jenes, das von Simulationsmodellen produziert worden ist. Bemerkenswert: Die Modellierenden, die die deutsche Bundesregierung in dieser Krise berieten, verfügten größtenteils nicht über eine ausgewiesene epidemiologische Expertise. Stattdessen kamen sie aus Fachgebieten wie der Zellbiologie (Meyer-Hermann), der Erforschung neuronaler Netze (Priesemann) und der Verkehrsforschung (Nagel). Um angesichts eines Mangels an epidemiologischer Expertise schnell Entscheidungswissen bereitzustellen, übersetzten sie ihre Konzepte in die Epidemiologie, wobei sie diese mit etablierten Ansätzen wie dem S(E)IR-Modell verknüpften.

Um die soziale Epistemologie dieser Modelle näher zu beleuchten, richtet der Beitrag den Fokus exemplarisch auf eine Übersetzungsleistung, die Priesemanns Forschungsgruppe in einer einflussreichen COVID 19 Modellierungsstudie (Contreras et al. 2021) vorgenommen hat. In dieser wird eine Strategie zur Kontrolle der Pandemie entworfen, der ein spezifisches Verständnis des Sozialen innewohnt, an der sich jedoch auch Rückstände aus der Hirnforschung ausmachen lassen. Im Anschluss an Opitz (2017) wird dabei argumentiert, dass Pandemiemodelle als operabel gemachte Gesellschaftstheorien verstanden werden können – als Formen nichtsoziologischer Soziologien, die der Gesellschaft ein virtuelles Experimentieren mit ihrer eigenen Kontingenz ermöglichen. Die Modelle produzieren Realitätsverdopplungen, in denen das Soziale mathematisch abstrahiert und durch Reduktionen steuerbar gemacht wird. Analysiert werden in diesem Zusammenhang erstens die Universalisierungsprozesse, durch die Konzepte aus der Hirnforschung in die epidemiologische Modellierung übersetzt wurden, zweitens die Reduktion des Sozialen auf wenige steuerungsrelevante Parameter, und drittens die Spurenelemente neurowissenschaftlicher Denkfiguren, die Priesemanns Herkunft in der pandemischen Kontrollstrategie hinterlassen hat.



Der Soziologe auf dem Richterstuhl. Die soziologische Jurisprudenz und ihr Verhältnis zur Soziologie

Karlson Preuß

MLU Halle Wittenberg, Germany

Die Entstehung der Soziologie im späten 19. Jahrhundert wurde von einem starken Interesse der Rechtswissenschaft begleitet. Viele Juristen um 1900 sahen in der neuen Disziplin eine attraktive Anlaufstelle, um die juristische Methodenlehre zu bereichern und eine „soziale Wende“ im Rechtsdenken herbeizuführen. In progressiven juristischen Zirkeln galt eine Soziologisierung der Rechtsprechung als vielversprechendes Mittel, um den Aufbau des modernen Sozialstaats auf rechtspraktischem Wege voranzutreiben. Die Hoffnungen ruhten auf dem soziologischen Richter, dessen Aufgabe vor allem darin gesehen wurde, das Gemeinwohl der Gesellschaft zu fördern. Doch ausgerechnet in der Soziologie stoßen diese rechtswissenschaftlichen Avancen immer wieder auf Protest. Bereits Max Weber hält in seiner Rechtssoziologie Abstand zu den zivilrechtlichen Reformdiskursen um 1900, die sich von einer Zusammenführung von Soziologie und Rechtswissenschaft eine substanzielle Verbesserung der Rechtspraxis erhofften. Ganz ähnlich haben Helmut Schelsky und Niklas Luhmann dieser Fusionsidee in den 1970er Jahren, als die Diskussionen um eine Annäherung von Rechts- und Sozialwissenschaften wiederaufflammten, eine deutliche Absage erteilt. Insbesondere in der soziologischen Gesellschaftstheorie dominiert die Skepsis, dass Rechtswissenschaft und -praxis von einer Soziologisierung ihrer Theorien und Methoden profitieren könnten.

Ziel des Beitrags ist es, die Spannung zwischen juristischem und soziologischem Soziologisieren aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive einzuordnen. Am Beispiel konkreter Programme der soziologischen Jurisprudenz möchte der Beitrag die Erwartungen kenntlich machen, die die Rechtswissenschaft an die Disziplin der Soziologie herantrug und heranträgt. Hierbei soll der Frage nachgegangen werden, ob sich das juristische Interesse an der Soziologie allein auf die gesellschaftspolitischen Anliegen juristischer Akteure zurückführen lässt oder ob dieses Interesse auf ein tieferes Strukturmerkmal des Rechts verweist. Schließlich möchte der Beitrag die Frage beantworten, worin die Abwehrhaltung, die die soziologische Gesellschaftstheorie gegenüber dem Projekt der soziologischen Jurisprudenz erkennen lässt, begründet liegt.



Öffentliche Kommunikation als „außersoziologisches Soziologisieren“ – Zum Verhältnis von Soziologie und (außersoziologischen) Öffentlichkeiten

Tobias Tönsfeuerborn

Universität Bonn, Deutschland

Der Beitrag widmet sich dem Verhältnis von Soziologie und „außersoziologischem Soziologisieren“ anhand der Perspektive auf die öffentliche Kommunikation von Soziolog:innen. Die Überlegungen basieren auf einer empirischen Untersuchung der Praxiszusammenhänge öffentlicher Kommunikation durch eine Kombination aus der Analyse teilstrukturierter Interviews sowie der Medienauftritte von Soziolog:innen.

Die Analyse zeigt, dass Strategien der Soziolog:innen, öffentliche Kommunikation insbesondere anhand empirischer Daten oder theoretischer Überlegungen aus der eigenen Forschung zu fundieren, sich bisweilen nicht in ihren Medienauftritten widerspiegeln. Diese beinhalten zwar mitunter durchaus soziologische Beobachtungen, die jedoch in den seltensten Fällen empirisch oder theoretisch fundiert sind.

Damit ist das Verhältnis von Soziologie und ihren externen Öffentlichkeiten geprägt vom Konflikt zwischen Rationalitäten von Öffentlichkeiten auf der einen sowie wissenschaftlicher Forschung auf der anderen Seite. Der Status öffentlicher Kommunikation innerhalb des akademischen Feldes bleibt dabei undurchsichtig. Zwar antizipieren Soziolog:innen zum Teil die Rezeption ihrer öffentlichen Kommunikation auch innerhalb der eigenen Disziplin. Diese Art der Aufmerksamkeit wird in der Regel jedoch gegenüber der Logik wissenschaftlicher Reputation stark abgegrenzt und eher vernachlässigt.

Diese Befunde betrachte ich vor dem Hintergrund von Bourdieus Konzept des wissenschaftlichen Feldes insbesondere mit der Frage, inwiefern sich öffentliche Kommunikation mit Blick auf die Differenzierung zwischen reinem und institutionellem wissenschaftlichen Kapital verorten lässt. Zudem diskutiere ich anhand der Gegenüberstellung von on Burawoys Konzept der öffentlichen Soziologie und Weingarts Diagnose der Medialisierung das Verhältnis zwischen Soziologie und Öffentlichkeit.

Insgesamt deuten die Befunde auf einen insgesamt hohen Grad wissenschaftlicher Autonomie gegenüber öffentlichen oder medialen Einflussnahmen. Insofern lässt sich die öffentliche Kommunikation von Soziolog:innen als außersoziologisches Soziologisieren auffassen, das sich gerade in der Distanz zur eigenen soziologischen Forschung auszeichnet. An die Stelle der Vermittlung professioneller Forschungsergebnisse treten allgemeinere soziologische Deutungsangebote, die in externen Öffentlichkeiten anschlussfähig sind.



Überall Soziologie und nirgendwo Soziolog*innen? Soziologisches Wissen im Übergang

Annette Treibel

Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Deutschland

Der Beitrag erörtert den Status und die Rezeption von Soziologie im akademischen und im öffentlichen Kontext. Die Transformationsprozesse des Faches sind vielfältig und in sich widersprüchlich: Neben die multiparadigmatische Struktur, die so etwas wie das Markenzeichen einer vergleichsweise entspannten Soziologie war, treten institutionelle Grenzziehungen und Alleinvertretungsansprüche mit Blick auf die ‚einzig wahre‘ Soziologie. Öffentlich agierende Soziolog*innen erhalten hohe Aufmerksamkeit, riskieren aber auch Anfeindungen. Wissenschaften und damit auch die Soziologie sollen sich als gesellschaftlich nützlich legitimieren, sich seriös präsentieren und gleichzeitig in der Atemlosigkeit multipler Krisen möglichst sofort Bescheid wissen.

Man gewinnt den Eindruck, Soziologie sei überall. Wissenschaftler*innen soziologisieren zu ganz unterschiedlichen Themen – seien es soziale Ungleichheit, Migration, Emotionen, Liebesbeziehungen, Populismus, Deindustrialisierung oder Digitalisierung. Sehr häufig sind sie selbst keine Soziolog*innen, sondern gehören der Philosophie, Psychologie, Ökonomie, Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft und anderen verwandten Sozialwissenschaften an. Auch in den Feuilletons wird kräftig soziologisiert. Zugespitzt gesagt: die Soziologie wird gekapert.

Denn: Die ‚Schar‘ öffentlich präsenter Kolleg*innen, mehrheitlich Kollegen, kann man kaum als solche bezeichnen. Öffentlich als Soziolog*in zu gelten und Geltung zu haben, gelingt noch am ehesten denjenigen, die mit Zeitdiagnosen und eingängigen Begrifflichkeiten unterwegs sind, an denen Journalist*innen auch ihr eigenes Milieu spiegeln können. Im Übrigen ist es in den Redaktionen ressourcenschonend, auf die zurückzugreifen, ‚die man kennt‘.

Der Beitrag plädiert dafür, die eigene Rolle im akademischen und im öffentlichen Feld zu überdenken. Wenn wir nicht wollen, dass in der derzeitigen fach- und gesellschaftsgeschichtlichen Umbruchphase nur bestimmte Stimmen zu hören sind, sollten wir uns tummeln. Das verbreitete Soziologisieren von Nicht-Soziolog*innen kann uns strukturell nicht gefallen. Wir sollten gesellschaftliche Fragen selbst offensiv und öffentlich erörtern. Jedes soziologische Paradigma sollte außenpolitisch tätig werden und das soziologische Soziologisieren stärker publik machen. Etwas Übung und Selbstdisziplin bei der Schärfung unserer Argumente hilft dabei.



 
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