Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Sek55: Sektion Soziologische Theorie: "Von der Theorie zum Theoretisieren: Die vielen Gesichter soziologischer Theoriebildung"
Zeit:
Donnerstag, 25.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Fabian Anicker, HHU Düsseldorf
Chair der Sitzung: Ulf Bohmann, TU Chemnitz
Chair der Sitzung: Alexis Gros
Chair der Sitzung: Charlotte Nell, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Chair der Sitzung: Leo Schwarz, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Chair der Sitzung: Daniel Witte
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch., Meine Vortragssprache ist Englisch.

Zusammenfassung der Sitzung

Der Vortrag “How to Combine Abductive and Functional Analysis “ wird auf Englisch gehalten. Alle anderen Vorträge der Veranstaltung sind auf Deutsch.


Präsentationen

How to Combine Abductive and Functional Analysis

Kurt Rachlitz

Norwegian University of Science and Technology (NTNU), Norway

In my contribution, I would like to ask the following question: how can abductive analysis be complemented by functional analysis?

To explain the motivation behind this question, I start with addressing three shortcomings of abductive analysis. I argue that these three shortcomings can be counteracted by supplementing abductive analysis with functional analysis. (1) By distinguishing between problem and solution, functional analysis provides a search heuristic that is neither too abstract (which leads to arbitrariness in the search) nor too concrete (which impairs creativity). (2) Through the step of abstracting in the comparison of theoretical problems, functional analysis offers a possibility to interrelate the theoretical approaches considered during data analysis. (3) Through its focus on problem-defining concepts, functional analysis makes explicit different ways of refining theoretical problems.

I propose that functional analysis and abductive analysis are a perfect match: Functional analysis serves abductive analysis by limiting its risk of arbitrariness or indeterminacy, while abductive analysis provides functional analysis with a more concrete approach to empirical research. Based on such an argumentation, I will work out the central techniques that result from a combination of abductive and functional analysis in order to bring the theorizing debate more into conversation with genuinely methodological discussions.



Subversive Theorie. Anti-essentialistische Theoriebildung als paradigmatische Theorietechnik – und wo sie gegenwärtig an Grenzen stößt

Jenni Brichzin

Universität der Bundeswehr München, Deutschland

Geht man von Richard Swedbergs diskursprägenden Texten zum Thema Theorizing aus, dann erscheint soziologische Theoriebildung als eine vollständig positiv-produktive Tätigkeit: Handfest und optimistisch wird hier über Theoriebildung nachgedacht, werden Begriffe und Beziehungen zwischen ihnen dem empirischen Material freudig ab-assoziiert. Gar nicht zur Sprache kommt hingegen die dunklere Seite der Theoriebildung: die potentiell ausschließende, gegenstandsverzerrende, erkenntnisbehindernde Wirkung von begrifflichen Festlegungen und theoretischen Erklärungsmustern.

Dieser Beitrag fokussiert auf Theoriebildung innerhalb jener großen Familie von Theorien, die sich an genau diesem Problem – nämlich der erkenntnisverzerrenden Wirkung von Theorie – abarbeiten. Dazu rechne ich unterschiedliche Theorierichtungen, von poststrukturalistischen über feministische und pragmatistische bis zu neo-materialistischen Ansätzen. Solche Ansätze unterscheiden sich zwar inhaltlich mitunter deutlich, in Bezug auf die zur Lösung jenes Bezugsproblems eingesetzten theorietechnischen Mittel konvergieren sie jedoch. Da das Problem häufig mit dem Begriff des Essentialismus gefasst wird, wird im Folgenden von anti-essentialistischen Theorien (aeT) die Rede sein.

Wie aeT dieses Problem lösen, welche theoretischen Mittel sie dazu einsetzen, wird entlang von anti-essentialistischen Schlüsselwerken – z.B. von Derrida, Rorty, Butler, Latour, Haraway – analysiert. Drei Theorietechniken erweisen sich dabei als zentral: Dichotomie-Kritik, Dislokation formaler Logik und ontologischer Amorphismus. Der Vortrag dreht sich um die Funktionsweise dieser Techniken und leistet damit einen Beitrag zu einem differenzierten Blick auf die Praxis des Theorizing – insbesondere auf eine Funktion von Theorie, die im entsprechenden Diskurs praktisch nicht vorkommt: ihre Subversionsfunktion.

Abschließend werden aber auch die Grenzen der aeT reflektiert. Denn die Feststellung, dass Theorien immer auf ein privilegiertes Bezugsproblem hin entwickelt werden – im Falle der aeT das Essentialismus-Problem –, impliziert ihre konstitutive Beschränktheit. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Problemlagen offenbart die Analyse wiederum vor allem drei Grenzen in Form alternativer Bezugsprobleme: das Faktizitätsproblem, das Totalitätsproblem sowie das Kipppunkt-Problem.



Die Affekte des Theoretisierens

Irina Christiani, Christian von Scheve

Freie Universität Berlin, Deutschland

In der soziologischen Theoriediskussion hat in den vergangenen Jahren zunehmend das Theoretisieren selbst verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Theoretisieren meint dabei die Praxis der Theoriebildung oder Theoriearbeit, also jene Handlungen und mentalen Operationen, die der Entwicklung einer Theorie dienen. Die Mehrzahl der existierenden Arbeiten betrachtet das Theoretisieren tendenziell als eine vorwiegend kognitive Tätigkeit. Zwar betont Richard Swedberg, dass “theorizing” nicht grundsätzlich mit “reasoning” gleichzusetzen sei, gleichwohl spielen logisches Denken und Schlussfolgern fraglos eine zentrale Rolle in der Praxis der Theoriebildung. Wir nehmen in unserem Beitrag solche Arbeiten zum Ausgangspunkt, die dementgegen vor allem die kreativen, intuitiven und nichtreflexiven Aspekte des Theoretisierens betonen. Innerhalb dieser Arbeiten wiederum gelten Affekte und Emotionen als wesentliche Impulsgeber dessen, was Swedberg als logic of discovery bezeichnet hat, also jene Phase des Theoretisierens, die sich auf die Entdeckung theoriewürdiger bzw. theoriebedürftiger Sachverhalte konzentriert. Obgleich Affekte und Emotionen dabei immer wieder Erwähnung finden, bleibt ihre Diskussion doch vergleichsweise unsystematisch und lückenhaft. Unser Beitrag ist als ein erster Aufschlag zu verstehen, diese Lücke zu schließen, in dem wir die Relevanz von Affekten und Emotionen für das Theoretisieren in mehreren Schritten skizzieren, zunächst in Bezug auf das allgemeine Verhältnis von Emotionen, Kognition und Vernunft und anschließend hinsichtlich spezifischer Elemente der Praxis des Theoretisierens.



Zeit für Theorie

Herbert Kalthoff

Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland

Nicht selten fragen Soziolog:innen danach, was (eine) Theorie leisten „kann“: Was kann mit ihr (besser) erklärt oder theoretisch adäquater gefasst werden? Für eine solche Auffassung von Theorie spricht, dass sie den Fokus auf das Resultat der Theoriearbeit legt, den mitunter vorläufigen Charakter hervorhebt und Theorie als ein Werkzeug versteht. So richtig diese Zweckorientierung von Theoriearbeit ist, so lässt sie einige wichtige Punkte unberücksichtigt: Klar ist, wozu Theorie dient oder dienen soll, unklar bleibt aber die Situation derer, die sie praktizieren und produzieren – der Subjekte der Theoriearbeit. Der Vortrag will hierzu über drei Aspekte nachdenken.

1. Verfügbarkeit: Gegen die Annahme, Soziolog:innen verfügten über Theorie(n) oder entsprechende Werkzeuge, schlägt der Vortrag eine symmetrische Perspektive vor und fragt danach, wie Theorien ihrerseits von Soziolog:innen Besitz ergreifen (können). Diese Dynamik ist nicht von sozialisatorischen Effekten des Studiums und von Qualifikationsarbeiten, von Theoriekonjunkturen und Forschungsprojekten zu trennen, die je nach Intensität die Neigung für bestimmte Denkschulen stärkt.

2. Theorie-Empirie-Verhältnisse: Die Debatte ist ferner durch die Annahme geprägt, dass Theorie stets in der Auseinandersetzung mit anderen Theorien zu entdecken ist. Der Vortrag wird im Hinblick auf eine empirisch orientierte Theoriebildung dafür plädieren, dass Theorie oder theoretische Annahmen noch an ganz anderen Orten zu entdecken sind, und zwar in empirischen Materialien selbst. Wenn also die empirischen Gegenstände in der soziologischen Theoriebildung mitsprechen (sollen), braucht es Autor:innen, die diese (Mit-)Sprecherschaft reflexiv betreiben.

3. Sorge-um-sich: Die Praxis des Theorie-Treibens gilt oft als ein rationales Unterfangen, das von den Subjekten der Theoriearbeit absieht. Gegen diese soziologische Neigung zur Subjektlosigkeit plädiert der Vortrag dafür, die theoretische Tätigkeit als eine Praxis der Selbstbildung zu verstehen, in der sich in den (schriftlichen) Bemühungen ein Erkennen und Selbsterkennen entfalten kann. Versteht man Zeit (und auch Zeitlichkeit) als Sozialität mit sich selbst und mit anderen, dann bezieht sich ‚Zeit für Theorie‘ auf eben dieses Selbst-Theorie-Verhältnis: eine Zeit der kontinuierlichen Reflexion und des (Über-)Schreibens, in die ein theoretisierendes Selbst eingebunden ist.