Tertiarität versus Alterität. Neuere Phänomenologie als sozialtheoretische Kritik der Kritischen Theorie der Gesellschaft
Joachim Fischer
TU Dresden, Deutschland
Die Kritische Theorie der Gesellschaft ist eine Gesellschaftstheorie, die – in neomarxistischer Denktradition (Lukács, Horkheimer, Adorno, Habermas, Honneth). – die gegenwärtige Gesellschaft als prinzipiell ‚verkehrte‘ Gesellschaft voller Fehlentwicklungen der ‚Entfremdung‘ und ‚Verdinglichung‘ kritisch analysiert. Die Sozialphänomenologie (Husserl, Schütz, Lévinas, Sartre) zielt hingegen zeitgleich auf eine Sozialtheorie, die Basisfiguren der Intersubjektivität freilegen will, die jeder Sozialität überhaupt zugrunde liegen.
Aus sozialtheoretischer Sicht rekurriert die Kritische Gesellschaftstheorie zur Grundlegung ihrer Kritik an den verkehrten, entfremdeten Gesellschaftsverhältnissen implizit und explizit immer auf positive dyadische Intersubjektivitätsfiguren mit den Leitbegriffen der „Versöhnung“ (Adorno), „vernünftigen Verständigung“ (Habermas) oder des gelingenden „Kampfes um Anerkennung" (Honneth) zwischen Ego und Alter Ego. Im ‚zwanglosen Zwang‘ des Anderen in der Liebe oder in der Vernunft des besseren Arguments schlummern die durch die verdinglichten und entfremdeten Gesellschaftsverhältnisse verdeckten utopischen Gesellschaftspotentiale der Alterität.
Der Beitrag will das kritische Potential der neueren Sozialphänomenologie (Tertiarität) gegenüber der sozialtheoretischen Prämisse der Kritischen Theorie der Gesellschaft (Alterität) vorführen. Bereits seit Simmel, Sartre, Lévinas und Berger/Luckmann leistet die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie die Aufklärung der konstitutiven Funktion des Dritten (Tertius) über Alter und Ego hinaus. Gemeint ist damit nicht ‚das‘ Dritte (wie Sprache, Institution, Kollektiv und Medium), sondern ‚der‘ oder ‚die‘ Dritte, der/die die dyadische Figuration von Beginn an in ihren Möglichkeiten stört und überbietet: Es tauchen prinzipiell soziale Innovationen der Exklusion, der Botenfunktion, der Vermittlung, des Schiedsrichtertums, der Koalitions- und Mehrheitsbildung, der Intrige, der Institutionalisierung auf – alles basale soziale Figurationen, die sich nicht aus dyadischen Interaktionen ableiten lassen.
Figuren der Tertiarität erweisen sich über Alterität hinaus für die Steigerung und Ausdifferenzierung jeder komplexen Vergesellschaftung als unhintergehbar. Sozialtheoretisch gesehen erreicht die Sozialphänomenologie eine größere Komplexität als die Kritische Theorie der Gesellschaft.
Günther Anders’ Kritik der politischen Technologie – ein Vermittlungsversuch zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie
Christian Dries
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland
Günther Anders (1902–1992) ist ein Denker zwischen den Stühlen: von Heidegger geprägt, bei Husserl promoviert, im Umkreis Brechts marxistisch geschult und schließlich von Plessner zur Philosophischen Anthropologie bekehrt, deren Grundunterscheidung – die Mensch-Tier-Differenz – er um die Folie der Technik erweitert. Derart vagabundierend galt er lange als „ein kaum einordenbarer Outsider“. Umfangreiche Nachlassveröffentlichungen und ein stetig wachsendes Forschungsinteresse zeigen sein Werk nun in neuem Licht: als innovative Synthese von Phänomenologie und Kritischer Theorie, als ,Kritik der politischen Technologie'. Denn mit seinem von Freiburger und Frankfurter Einflüssen geprägten Ansatz, dem er im US-amerikanischen Exil (1936-1950) umfangreiche methodologische Überlegungen zur Aktualität der Philosophie und zur Antiquiertheit der klassischen Phänomenologie vorausschickt, will Anders einen blinden Fleck der marxistischen Theoriebildung korrigieren: die Nicht-Neutralität der Produktionsmittel.
Anders zufolge sind moderne technische Geräte und Apparate nämlich keine bloßen Werkzeuge mehr. Die Technik ist nicht neutral; sie sei vielmehr zum neuen „Subjekt der Geschichte“ avanciert und in Gestalt der Atombombe zur Bedrohung für die Existenz der gesamten Menschheit geworden. Hinzu kommt die zentrale Einsicht, dass viele spätmoderne Phänomene respektive ,Gegenstände‘ wie das Fernsehen oder Atomwaffen und deren Folgen mit klassisch-phänomenologischen Mitteln nicht mehr zu erfassen sind; sie entziehen sich nach Anders der Erfahrung und übersteigen menschliche Vermögen wie Wahrnehmung, Denken oder Fantasie. Deshalb verschiebt Anders den phänomenologischen Fokus von der Intentionalität als ,Bewusstsein von etwas‘ auf das Registrieren von Verlusterfahrungen, Fehlanzeigen und Unfähigkeiten, spätmoderne ,Phänomene‘ kognitiv und emotional angemessen zu bewältigen. Indem er wie die negative Theologie um Leerstellen des Verstehens kreist und diese als für die moderne Lebenswelt konstitutiv ausweist, macht er die Krise der Phänomenologie für die Krisendiagnose der Gegenwart produktiv. Vor diesem Hintergrund kann man sein zweibändiges Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen (1956/1980) als einen der bedeutendsten Vermittlungsversuche zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie betrachten.
Die Bedeutung der Autoritären Persönlichkeit für die mittlere und späte Phänomenologie Merleau-Pontys
Antonia Schirgi
Universität Graz, Österreich
In Maurice Merleau-Pontys Manuskripten zur Vorlesung Les relations avec autrui chez l’enfant, die er 1951, an der Sorbonne gehalten hat, finden sich einige Verweise auf Arbeiten von Else Frenkel-Brunswik. Im Fokus stehen ihre Konzepte der (In-)Toleranz der Ambiguität und Ambivalenz sowie die ‚rigide‘ Persönlichkeit. Historisch ist Merleau-Ponty wohl durch die Übersetzung eines Artikels Frenkel-Brunswiks in Les Temps Modernes auf ihre Arbeiten aufmerksam geworden und hat sich dann mit weiteren Teilen ihres Werkes auseinandergesetzt.
Frenkel-Brunswiks Konzeption der (In-)Toleranz von Ambivalenz und Ambiguität steht in engem Zusammenhang mit den Studien über The Authoritarian Personality, auch wenn sich ihre Überlegungen nicht auf diesen Kontext beschränken. Initiiert wurden die Studien als Studie zu Antisemitismus an der University of Berkeley, geleitet von Nevitt Sanford unter Beteiligung von Daniel J. Levinson und Frenkel-Brunswik. Bald kam es jedoch zu einer Verbindung mit den im US-amerikanischen Exil befindlichen Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und einer Projektbeteiligung von Theodor W. Adorno, der zumeist als Hauptautor der Studie genannt wird. Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind diese Arbeiten zur autoritären Persönlichkeit, die ich jedoch auch in den weiteren Kontext von Frenkel-Brunswik stelle.
Merleau-Pontys eher knappe Bezüge auf Frenkel-Brunswik sind insofern bedeutsam, als er häufig als der „Philosoph der Ambiguität“ (Waelhens) gelesen wird. Ursprünglich bezog sich dieses Label auf sein Frühwerk, die Begreiflichkeit der Ambiguität und Ambivalenz findet sich jedoch mit größerer Regelmäßigkeit und Bedeutsamkeit in Merleau-Pontys mittlerem und späten Werk. Auch wenn sich in seinem späten Werk keine weiteren direkten Bezüge auf das Werk Frenkel-Brunswiks finden, trägt es weiterhin Züge, die einen Einfluss ihres Werks auf Merleau-Pontys Überlegungen nahelegen.
In meinem Vortrag möchte ich (1) zunächst auf die Bedeutung von Frenkel-Brunswiks Konzepten der Toleranz und Intoleranz von Ambiguität und Ambivalenz im Kontext der Autoritarismusstudien eingehen, (2) sodann der Rezeption dieser Konzepte durch Merleau-Ponty nachgehen und (3) die Bedeutung dieser Rezeption für Merleau-Pontys mittlere und späte Phänomenologie aufzeigen.
Hans Blumenbergs Theorie der Lebenswelt – Ein implizit gesellschaftstheoretisches Forschungsprogramm?
Martin Repohl
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland
Der Beitrag untersucht das bislang wenig beachtete gesellschaftstheoretische Potenzial von Hans Blumenbergs Theorie der Lebenswelt. Ausgangspunkt ist eine bemerkenswerte Phänomenvielfalt in der gesellschaftstheoretischen Debatte – etwa Resonanz (Rosa), Singularität (Reckwitz) oder Externalisierung (Lessenich). Diese Pluralität verweist auf eine grundlegende Voraussetzung von Theoriebildung: Gesellschaftstheorien konstituieren ihren Gegenstand nicht a priori, sondern sind durch die kontingente Relevanz bestimmter Phänomene geprägt, die durch den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit überhaupt erst der Reflexion zugänglich werden. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, ob Blumenbergs Konzept der Lebenswelt eine metatheoretische Folie bereitstellt, um die Bedingungen gesellschaftlicher Phänomenbildung selbst in den Blick nehmen zu können.
Zentrale These des Beitrags ist, dass Blumenbergs Phänomenologie geeignet ist, die Fragilität von Selbstverständlichkeiten – verstanden als Meta-Phänomen – selbst zum eigentlichen Gegenstand einer reflexiven Gesellschaftstheorie zu machen. Gesellschaft erscheint so als dynamischer Prozess der Destruktion und Restitution von Selbstverständlichkeit. Die Theorie der Lebenswelt wird so zum Werkzeug einer reflexiven Gesellschaftstheorie, die nicht allein auf Krisendiagnostik abzielt, sondern die zyklische Bewegung von Selbstverständlichungen und deren Erosion phänomenologisch analysiert.
Der Beitrag schlägt vor, zentrale Kategorien der Gesellschaftstheorie – Synthesis, Dynamis, Praxis – in Anschluss an Blumenberg neu zu denken. Synthesis als fragile Balance von Stabilisierung und Desintegration; Dynamis als Prozess der Selbstverständlichung und Praxis als Vermittlungsleistung zwischen subjektiven Erwartungen und widerständiger Realität. Ziel des Beitrages ist es, Blumenbergs Werk als ergiebige Quelle für eine phänomenologisch fundierte Gesellschaftstheorie vorzustellen, die der Erscheinungsweise gesellschaftlicher Phänomene selbst theoriebildende Bedeutung beimisst. Der Beitrag versteht sich als Einladung, Blumenberg als einen "bekannten-unbekannten Klassiker" der Gesellschaftstheorie zu lesen.
Säkulare Gnosis und subjektive Erfahrung: Skeptische Rückblicke auf Phänomenologie und Kritische Theorie zugunsten einer erneuerten, soziologischen Positivismus-Kritik
Joachim Renn
UNiversität Münster, Deutschland
Der Beitrag hebt erstens grundlegende Aspekte einer Konzeption unverstellter Erfahrung hervor, die – jeweils anders eingebettet – von Teilen der Phänomenologie wie von der Kritischen Theorie gegen szientistische und verdinglichende Verzerrungen empirischer Welterschließung vorgebracht wurden. Zweitens kontrastiert der Vortrag die darin liegenden kritischen Impulse gegen problematische gegenwärtige Aktualisierungen dieser beiden großen Traditionslinien (in einem Falle betrifft das die Regression Kritischer Theorie der Gesellschaft in Weltanschauungsphilosophie, im andern Falle die Verdinglichung einer hermeneutisch situierten, existentiellen Reflexion zur Unmittelbarkeits-Illusion anthropologischer oder leibphänomenologischer Modellbildungen). Drittens deuten die Überlegungen an, in welche Richtung die methodischen Schlussfolgerungen der Insistenz auf einer existentiellen, negativ dialektischen Erfahrungsart führen. Weniger dramatisch als die Titel der Traditionsbestände einer phänomenologischen Dekonstruktion oder einer negativen Dialektik, einer „säkularen Gnosis“ vermutet lassen, finden sich Ankerpunkte aktuell adäquater Erfahrungsverarbeitung und Distanzierung von neopositivistischen Verengungen in der Soziologie, in den Spuren, die die Hermeneutik im Fach hinterlassen hat.
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