Sitzung | |
Sek51: Sektion Soziologiegeschichte: "Soziologie und demokratische Transition(en) – historisch-vergleichende Perspektiven"
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Die Entdeckung des Proletariats aus dem Geist der Industriesoziologie. Hans Paul Bahrdt als soziologischer Intellektueller der Bundesrepublik Universität Göttingen, Deutschland Wird die Soziologie der frühen BRD als „Demokratisierungswissenschaft“ bezeichnet, so geraten zumeist gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Aushandlungsprozesse in den Blick, die sich im Halbschatten soziologischer Beratung und Aufklärung auf einen bestimmten Typus von Demokratie westlich-liberalen Typs zubewegten. Sinnvoll fachgeschichtlich entfaltet werden kann dieser Terminus hingegen nur dann, wenn man ihn auf die intellektuellen Biographien der Soziolog:innen der jungen Republik bezieht, die diese Prozesse in ihrem politisch-gesellschaftlichen Wirken begleiteten. Dies gilt allem voran für diejenigen, die als Mitglieder der sogenannten „45er“-Generation unter den Bedingungen von Nationalsozialismus und Weltkrieg sozialisiert wurden. Soziologie als Demokratisierungswissenschaft kann speziell für diese Kohorte, die zu jung war, um etwa einschlägige demokratische Erfahrungen unter den Vorzeichen der Weimarer Republik gesammelt zu haben, als ein gleichermaßen historisch-gesellschaftlicher und individuell-biographischer Lernprozess verstanden werden. Der Beitrag soll diesen doppelten Lernprozess am Beispiel des späteren Göttinger Soziologen Hans Paul Bahrdt rekonstruieren. Wie viele andere Vertreter:innen seiner Generation kann Bahrdt als soziologischer und demokratischer „Autodidakt“ bezeichnet werden. Als promovierter Philosoph erschloss er sich die Soziologie in empirischen Auftragsstudien über Arbeiterbewusstsein. Sein industriesoziologisches Interesse, das sich nicht zufällig mit einem Engagement in der SPD verbindet, ist Ausdruck einer schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit erwachsenen Überzeugung, dass der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle für die Demokratisierung der westdeutschen Nachkriegsordnung zukomme. Die Verschränkung des soziologischen und intellektuellen Engagements Bahrdts werden in verstreuten Kommentaren, Eingriffen und Beiträgen aus Presse und Rundfunk plastisch, die in seinem Nachlass (SAK Konstanz) zugänglich sind. Bahrdts Parteinahme für die Anliegen der jungen „3/5 Intellektuellen“ zwischen SPD und SDS, sein Ringen nach Antworten auf die Herausforderungen der westdeutschen Studentenbewegung und seine tagespolitischen Kommentare zur Situation der sozialliberalen Koalition können als Beiträge zu einer historischen Soziologie der BRD gelesen werden, die wissenschaftliche Aufklärung mit demokratischer Reform verbinden soll. Demokratische Umerziehung im Medium der Sozialwissenschaften – Die US-amerikanische Re-Education-Politik aus Perspektive des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Institut für Sozialforschung, Deutschland Das 1949 aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrte Institut für Sozialforschung (IfS) wies den Sozialwissenschaften und insbesondere der Soziologie eine zentrale Rolle für die demokratische Erziehung der deutschen Nachkriegsjugend in Schule und Universität zu. Darum hatte es sich bereits seit Beginn der 1940er-Jahre an die US-Administration und andere wichtige Akteure wie das American Jewish Committe (AJC) gewandt, um ihnen historisches und gegenwartsbezogenes Wissen über die gesellschaftliche und bildungspolitische Lage in Deutschland vor und nach 1933 bereitzustellen und Einfluss zu nehmen auf die Ideen und Reformpläne der US-amerikanischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Der Vortrag widmet sich dem Beitrag des Frankfurter Instituts zur konzeptionellen Ausgestaltung und politischen Umsetzung des US-amerikanischen Re-Education-Programms, insbesondere im Hinblick auf dessen Social-Studies-Konzept. Rekonstruiert werden die Auseinandersetzungen des IfS mit den Konzepten und Anstrengungen der US-amerikanischen Umerziehungspolitiker und Social-Studies-Experten sowie sein Einfluss auf deren Vorstellungen einer demokratischen Erziehung durch sozialwissenschaftliche Forschung. Die ideen- und wissenshistorisch ausgerichtete Analyse befasst sich mit den (erkenntnis-)theoretischen Voraussetzungen einer sozialwissenschaftlich fundierten Erziehung und Bildung zur Demokratie sowie der Rechtfertigung ihrer Bedeutung für die Demokratisierung des Bildungs- und Hochschulwesens in der frühen Nachkriegszeit. Als Grundlage der Untersuchung dient insbesondere eine Reihe von teilweise unveröffentlichten kultur- und bildungspolitischen Memoranden und Forschungsplänen, die von Mitgliedern des IfS zwischen 1942 und 1953 verfasst wurden. Zwillingsgeburt. Angewandte Sozialpsychologie und Gruppendynamik zwischen Demokratisierungs- und Produktivitätsversprechungen Freiberuflicher Sozialwissenschaftler, Köln, Deutschland Nur wenige Jahre nach seiner Emigration in die USA führte Kurt Lewin Ende der 1930er-Jahre in Iowa seine Führungsstilexperimente durch. Aus ihnen wurde ein positiver Zusammenhang von demokratischer Leitung und Gruppenleistung abgeleitet, obwohl die Experimente dies bei näherem Hinsehen nicht hergaben. In der amerikanischen Diskussion der 1940er-Jahre um die Re-Education Deutschlands und der Deutschen wurde dies aufgegriffen und spiegelte sich nach 1945 wider in der Gleichzeitigkeit einer Politik wirtschaftlicher Entwicklungshilfe und Demokratisierung aller Lebensbereiche. Ende der 1940er-Jahre veränderte sich dies erneut unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Ab den frühen 1960er-Jahren wurden die Demokratisierungskonzepte erneut expliziter aufgegriffen und fanden ihren praktischen Ausdruck u.a. in Konzepten einer angewandten Sozialwissenschaft, insbesondere Sozialpsychologie, Gruppendynamik und Psychoanalyse. Diese Ansätze arbeiteten sich am Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierungs- und Produktivitätsversprechungen ab, bevor sich ab Ende der 1970er-Jahre dieser Zusammenhang aufzulösen begann. Die schwierige Institutionalisierung der Soziologie in Italien in der Nachkriegszeit: zwischen politischen Bedingungen und sozialen Problemen Universität Mailand-Bicocca, Italien Der Beitrag zielt darauf ab, den Prozess der Demokratisierung unter Berücksichtigung der Institutionalisierung der italienischen Soziologie während der sogenannten „Ersten Republik“ (1946-1992) zu untersuchen. Somit richtet sich der Fokus darauf, wie in Italien in der betrachteten Zeitspanne die Beziehung zwischen dem bürokratischen Feld, dem akademischen Feld und dem wissenschaftlichen Feld sich verändert hat und dadurch die Entwicklung der Soziologie als ein relativ autonomes ‚disziplinäres Feld‘ bedingt hat. In dieser Hinsicht kann die Entwicklung der italienischen Soziologie in der ersten Nachkriegszeitphase als paradigmatisch für eine vergleichende Analyse im Kontext der „europäischen Soziologie“ angesehen werden. Im Blick auf Bourdieus Feldtheorie wird dann die Analyse auf drei miteinander verwobenen Ebenen durchgeführt. Erstens wird die Geschichte der italienischen Soziologie in der Nachkriegszeit als nicht getrennt von der vorhergehenden Phase der faschistischen Diktatur betrachtet. Obwohl es wegen der idealistischen Strukturierung der Disziplinhierarchie während des Regimes keinen Lehrstuhl im Fach Soziologie gab, konnten dennoch soziologische Erkenntnisse auf andere Weise verbreitet werden, z.B. durch statistische Analysen und organische Theorien. Zweitens war die Soziologie im akademischen Feld bis Anfang der 1960er-Jahre fast unsichtbar. Andererseits hatte der Industrialisierungssprung in Norditalien linksorientierte liberale Gelehrte ohne soziologischen Hintergrund dazu geführt, bestimmte soziale Probleme empirisch zu untersuchen. Mit der Entstehung der ersten Lehrstühle wurde jedoch die politische Spaltung der italienischen Politik in dem entstehenden disziplinären Feld allmählich verschoben: zunächst in den 1960er-Jahren mit der Entwicklung einer der liberalen Soziologie gegenüberstehenden katholischen Soziologie, und spätesten anfangs der 80er Jahre mit dem Aufstieg einer dritten Strömung („Ais Tre“). Letztlich fehlt innerhalb der italienischen Soziologie noch ein disziplinäres Gedächtnis. Wenngleich in den 1950er-Jahren die Soziologie nicht als Vorreiterin der Demokratisierungsprozesse im italienischen intellektuellen Feld konkurrieren konnte, überschattet die Tatsache, dass die Geschichte der Disziplin bis heute kaum ein Thema darstellt, die Überlegung über die eigenen antidemokratischen Wurzeln. Soziologie und Demokratisierung in Ecuador Universidad Central del Ecuador, Ecuador Ecuador war in den 1960ern und 1970ern von drei Diktaturen und politischer Instabilität geprägt. Die Diktatur von 1963 bis 1966 kombinierte eine Verfolgung der politischen Linken mit Modernisierungsbestrebungen im Sinne der Allianz für den Fortschritt. Neben einer Landreform 1964 wurden die Universitäten in Kooperationen mit US-amerikanischen Universitäten umgebaut. Ein Ergebnis dieser Prozesse war der erste Studiengang in Soziologie (und Anthropologie), der ab 1964 den Studiengang in Politikwissenschaften, der seit 1961 existiert hatte, ergänzte. Nach dem Ende der Diktatur wurden viele Neuerungen wieder abgeschafft – und Soziologie wurde mit Politikwissenschaften in einem einzigen Studiengang zusammengelegt. Das war der Moment der vollkommenen Erneuerung der ecuadorianischen Soziologie. Die Pioniere, von Spencer, Tarde und Simmel beeinflusst, verloren an Einfluss und junge, radikale Soziologen nahmen ihren Platz ein. Ab 1967 bestimmten Agustín Cueva, Alejandro Moreano, Esteban del Campo und andere die Diskussionen über die Gesellschaft in Ecuador. Sie versuchten systematisch, Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaften und andere Disziplinen zu einer Gesellschaftskritik aus marxistischer Perspektive zu kombinieren. Die zweite Diktatur - der 1968 gewählte Präsident Velasco Ibarra erklärte sich 1970 zum Diktator - bedeutete einen ersten Bruch. Cueva verließ das Land. Im Februar 1972 wurde Velasco Ibarra von Militärs gestürzt. Bis 1979 herrschte eine Militärdiktatur, die sich der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verschrieb. Diese Zeit erlebte eine sich radikalisierende Soziologie. Ihre Protagonisten verstanden sich explizit als Akteure des Klassenkampfes und banden politische Organisationen systematisch in die Universitäten ein. 1978 fanden die ersten Wahlen seit 1968 statt. Diese Rückkehr zur Demokratie ging mit einer Erneuerung der ecuadorianischen Sozialwissenschaften einher: Die in den 1970ern etablierten Themen (ländliche Entwicklung, wirtschaftliche Abhängigkeit und Populismus) wurden deutlich erweitert. Eine zweite Generation kritischer Sozialwissenschaftler arbeitete wieder in den etablierten Disziplinen, vor allem Philosophie und Politikwissenschaften. Das erlaubte die Einführung von neuen Referenzen und die weitere Anbindung an kontinentale Debatten. |