Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Sek48: Sektion Sozialpolitik: "20 Jahre Strukturreform der Grundsicherung: Sozialpolitische Instrumente, öffentliche Diskurse, gesellschaftliche Dynamiken"
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Stefanie Börner, Otto-von-Guericke-Univesität Magdeburg
Chair der Sitzung: Jan Gellermann
Chair der Sitzung: Julia Höppner, Universität Kassel
Chair der Sitzung: Philipp Ramos Lobato
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Leistungsbezieher:innen im Blick der Demoskopie – Deutungswandel der Grundsicherung in medialen Meinungsumfragen

Christof Wittmaack

Universität Bremen, Deutschland

Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende 2005 als Teil der sogenannten Hartz-Reformen bedeutete einen Paradigmenwechsel in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Begleitet wurden die Reformen von großen öffentlichen Protesten. Kern der Kritik war die Schwächung der Statussicherung zugunsten einer aktivierungspolitischen Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Knapp 20 Jahre später wurde mit der Einführung des Bürgergeldes zumindest diskursiv eine Schwächung des Leitbildes der Arbeitsmarktaktivierung vorgenommen – und wieder war die Reform äußerst unbeliebt. Die teils kontroversen arbeitsmarktpolitischen und öffentlichen Diskussionen über Grundsicherungsleistungen und deren Bezieher:innen wurden unter dem wachsamen Auge der Demoskop:innen geführt. Ihre Umfrageergebnisse haben als wichtiger Teil der medialen Berichterstattung eine Doppelfunktion: sie messen die öffentliche Meinung zu relevanten Themen und beeinflussen als Gegenstand der politischen Debatte die Meinungsbildung. Obwohl die Fragestellung das Antwortverhalten beeinflusst, wird der normative Blickwinkel von Meinungsumfragen auf ein Thema kaum hinterfragt. Dabei greifen Inhalt und Wording der gestellten Fragen im Diskurs verwendete Deutungen und Frames in stark reduzierter Form auf und reproduzieren diese. Zugleich ermöglicht die begrenzte Anzahl von monatlich gestellten Fragen Rückschlüsse über die relative Bedeutung eines Themas in der öffentlichen Diskussion. Somit sind die erhobenen Fragen und die in ihnen enthaltenen Deutungen einzigartige Artefakte über den Wandel des politischen Diskurses. Basierend auf der Population der zwischen 2002 und 2023 im ARD-Deutschlandtrend und ZDF-Politbarometer zum Thema Grundsicherung gestellten Fragen untersucht dieser Beitrag, wie sich die Darstellung von Grundsicherungsleistungen und ihren Bezieher:innen im Spannungsverhältnis zwischen Arbeitsmarktintegration und Teilhabesicherung im Zeitverlauf gewandelt hat. Die Analyse offenbart einen verzerrten Blick der Demoskopie auf die Grundsicherung. Während Umfragen aktivierungspolitische Deutungen häufig reproduzieren, bleiben Argumente der Existenz- oder Teilhabesicherung die Ausnahme – selbst wenn Reformen auf eine Stärkung teilhabeorientierter Elemente abzielen. Dieses diskursive Ungleichgewicht wirkt sich möglicherweise nachhaltig auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Leistungsbezieher:innen aus.



Rolle vorwärts und zurück? Zur narrativen Ambivalenz der Bürgergeldreform in Krisenzeiten

Christopher Smith Ochoa, Simone Leiber

Universität Duisburg-Essen, Deutschland

Dieser Beitrag untersucht die diskursive Verhandlung des Bürgergelds im Kontext ineinandergreifender Krisen. Die COVID-19-Pandemie leitete eine Rückbesinnung auf den Staat als Steuerungsinstanz der Krisenbewältigung ein. Eingriffe von zuvor ungekannter Reichweite wurden plötzlich möglich. Das Ringen um staatliche Handlungsfähigkeit zeigte sich auch in der Sozialpolitik, wo Notmaßnahmen eingeführt wurden, die vor allem Beschäftigteninteressen berücksichtigten.

In der Grundsicherung eröffnete die Pandemie ein Gelegenheitsfenster des Experimentierens. Umstrittene Maßnahmen wie ein Sanktionsmoratorium oder vereinfachter Zugang ohne Vermögensprüfung wurden vorübergehend umgesetzt. Während diese Änderungen primär als Reaktion auf das drohende Abrutschen der Mittelschicht in die Grundsicherung zu verstehen sind, wurde die Lebenssituation Langzeitarbeitsloser politisch zunächst vernachlässigt. Notmaßnahmen wie Einmalzahlungen oder Zuschüsse für Schulcomputer folgten erst nach intensiver Lobbyarbeit und sozialgerichtlichen Entscheidungen. Wie die Ampel-Regierung 2022 argumentierte, stellten diese Experimente wichtige Impulse für die größte Grundsicherungsreform seit 2005.

Gleichzeitig lösten die Folgen des Ukraine-Kriegs neue Grundsicherungsdebatten aus, die den Rückbau der Bürgergeldreform bewirkten. Der Fokus der Kritiker:innen lag auf dem vermeintlichen Missbrauch durch ‚unwürdige‘ Ausländer:innen und sogenannte ‚Totalverweigerer‘. Kritische Akteure erweiterten so den Konfliktrahmen um die Reform, rückten neue Perspektiven auf die ‚deservingness‘ von Grundsicherungsbeziehenden in den Vordergrund und drehten Kernaspekte der Reform zurück. Diese Entwicklungen zeigen, dass Krisen keine Garantie für expansive Reformen sind, sondern auch Rückabwicklungen ermöglichen.

Die Ambivalenzen verdeutlichen, wie Narrative gebraucht werden, um Reformen zu (de)legitimieren. Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag mithilfe des Narrative Policy Framework (NPF) die kaum erforschte Funktion von Narrativen in den Debatten vor und nach der Einführung des Bürgergelds. Auf Basis einer Analyse von Bundestagsreden (2022-24) werden zentrale Narrative identifiziert, die durch Charakterzuweisungen Diskursverschiebungen entlang der Krisen- und Reformereignisse offenlegen. Die Ergebnisse erklären schließlich, wie sich ein Wandel ‚vorwärts und zurück‘ in kurzer Zeit vollziehen konnte.



Wer muss den Gürtel enger schnallen – und warum? Symbolische Grenzziehungen gegenüber Migrant*innen und Erwerbslosen in oberen Schichten

Sebastian Jürss, Arne Koevel, Patrick Sachweh

Universität Bremen, Deutschland

Während man sowohl für die erwerbslosen oder prekär beschäftigten Unter- als auch die Mittelschichten konstatieren kann, dass Forderungen nach einem partikularen Wohlfahrtsstaat dem eigenen Konkurrenzkampf um verknappte Güter und Ressourcen entspringen, ist für die obere Mittel- und Oberschicht nicht bekannt, aus welchen Motiven und Deutungen sich Forderungen nach einer partikularen wohlfahrtsstaatlichen Solidarität speisen. Angehörige dieser Schichten laufen selten Gefahr, selbst Sozialleistungen zu beziehen und konkurrieren somit auch nicht mit anderen um die knappen wohlfahrtstaatlichen Ressourcen. Finden sich deshalb bei ihnen stärker universalistische Deutungen wohlfahrtsstaatlicher Solidarität? Und wenn nicht, wie begründen sie exklusive Forderungen?

Für unsere Analysen greifen wir auf Daten aus dem Quali-Panel zurück. Aus einem Sample von 91 Personen, die wir in zwei Erhebungswellen gesprochen haben, wählen wir diejenigen Interviewpartner*innen aus, die wir der oberen Mittelschicht bzw. der Oberschicht zurechnen können. Diese Interviews haben wir deutungsmusteranalytisch ausgewertet und auf symbolische Grenzziehungen gegenüber Migrant*innen und Erwerbslosen hin untersucht.

Hervor sticht dabei, dass die Interviewten etwas zur sozialstaatlichen Verteilung zu sagen haben und dabei die benannten gesellschaftlichen Diskurse um die deservingness von Erwerbslosen und Migrant*innen aufgreifen. Aus den drei verschiedenen Grenzziehungen zu den Empfänger*innen lässt sich eine Gemeinsamkeit herleiten: Das Leistungsnarrativ ist stabil und trägt zur Legitimierung bestehender Ungleichheiten bei. Es zeigt sich, dass die diskursiven Figuren sich im Vergleich zum Diskurs um Hartz IV wenig gewandelt haben. Dass Hartz IV nun Bürgergeld heißt, ändert in der Regel nicht viel an den stigmatisierenden Konnotationen bedarfsgeprüfter Grundsicherungsleistungen. Zum Abschluss unseres Beitrags wollen wir einen Blick auf die Konsequenzen dieser Grenzziehungen wagen: Was etwa sollte mit den „Leistungslosen“ passieren? Sind sie nicht unterstützungswürdig?



‚Deservingsness‘, Bedürftigkeit und die (Nicht-)Inanspruchnahme von Sozialleistungen

Jennifer Eckhardt

Technische Universität Dortmund

Der Begriff der (Hilfe-)Bedürftigkeit ist eine zentrale Kategorie im deutschen Sozialstaat, der weitere Differenzierungslinien beigeordnet sind. Sie birgt „zahlreiche praktische, ideologische und symbolische Implikationen“ (Jütte 2000, 7) und prägt die dichotome Vorstellung von würdiger und unwürdiger Armut, die sich als zentraler moralischer Bezugspunkt der gesellschaftlichen Konstitution von Bedürftigkeit herausgebildet hat. Im Anschluss an Simmels Armutskonzeption lässt sich Bedürftigkeit als Sozialbeziehung verstehen, deren Analyse dazu beitragen kann, das „Verhältnis von bedürftigem Einzelnen und leistender Allgemeinheit“ (Lessenich 2003, 216) zu erschließen. Insbesondere im Lichte eines Sozialstaats, der die Überwindung von Bedürftigkeit durch die Aktivierung einer als gegeben angenommenen Arbeitsfähigkeit zur Beendigung individueller Bedürftigkeit zum sozialpolitischen Ziel erklärt, die Verantwortung dafür aber in die Hände der Einzelnen legt, können spezifische Ausschlüsse sichtbar gemacht werden. Denn verbunden hiermit sind weitere, ebenfalls sozialstaatlich relevante Klassifikationen der menschlichen Konstitution (z.B. gesund vs. krank, nichtbehindert vs. behindert, mündig vs. unmündig, arbeitsfähig vs. arbeitsunfähig, ausgebildet vs. unausgebildet, nicht-kriminell vs. kriminell, nicht-süchtig vs. süchtig, erfolgreich vs. gescheitert usw.) (vgl. Eckhardt 2023), die ebenfalls das diskursive Umfeld prägen, in dem Hilfeleistungen für die einen als legitim, für andere als illegitim markiert sind und das das Bedingungsgefüge zur (Nicht-)Inanspruchnahme von Sozialleistungen ko-konstituiert.

Der Beitrag stellt einen Zusammenhang her zwischen ‚deservingness‘ (van Oorschot 2006; Knotz et al. 2022), Diskursen zu Bedürftigkeit und zur aktuellen Sozialleistungsdebatte, innerhalb derer die relativ neu konstruierte Subjektfigur der Totalverweigerer*innen als Symbol einer Überschreitung sozialstaatlicher Akzeptanzgrenzen dient. Es wird argumentiert, dass das soziale Sicherungssystem nicht nur durch materielle Zugangshürden, sondern auch durch symbolische Exklusion und moralische Deutungsmuster beeinflusst wird, die auch durch die Kollektivsymbolik der „Überwindbaren Bedürftigkeit“ geprägt werden.



Zwischen fragmentierter Advokatisierung und partikularer Solidarität: Über den Strukturwandel der Vertretung schwacher sozialer Interessen am Beispiel arbeitsloser Grundsicherungsbeziehender

Fabian Beckmann1, Florian Spohr2

1Universität Duisburg-Essen, Deutschland; 2Universität Stuttgart, Deutschland

Im Angesicht des jüngst wiederentdeckten Interesses der Sozialpolitikforschung an der Repräsentation schwacher Interessen im Wohlfahrtsstaat untersucht der Beitrag 20 Jahre nach den Hartz-Reformen den Strukturwandel der Interessenrepräsentation arbeitsloser Grundsicherungsbeziehender. Dabei gehen wir den Fragen nach, ob die Interessen arbeitsloser Grundsicherungsbeziehender seitdem eine Aufwertung erfahren haben und wie sich Organisations- und Repräsentationsformen seit der Hartz-IV-Reform entwickelt haben. Wir analysieren die Repräsentation der Interessen von arbeitslosen Grundsicherungsbeziehenden in drei Schritten. Erstens nehmen wir an, dass sich im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung die Interessen der Arbeitslosen fragmentieren. Unter Rückgriff auf eine eigene empirische Befragung von Langzeitarbeitslosen in Nordrhein-Westfalen zeigen wir, wie sich hier partikulare Solidaritäten und Grenzziehungen zwischen „guten“ und „schlechten“ Arbeitslosen manifestieren, welche die öffentlichen Debatten um „welfare deservigness“ widerspiegeln. Dieses schwächt die ohnehin schon geringe Mobilisierungsfähigkeit arbeitsloser Grundsicherungsbeziehender weiter. In einem zweiten Schritt beleuchten wir auf Grundlage von Theorien zur Repräsentation starker und schwacher Interessen die Organisationsperspektive von (Langzeit-)Arbeitslosen und nehmen eine Typologisierung empirisch auffindbarer Organisations- und Repräsentationsformen vor. Mithilfe dieser überprüfen wir die These der NGOisierung der Interessenvertretung, wonach Organisationen wie Sanktionsfrei e.V., die über keine klassische Mitgliederstruktur mit basisdemokratischer Rückkopplung verfügen und sich primär über Spenden finanzieren, an Bedeutung gewinnen. In einem dritten Schritt zeigen wir, dass die Pluralisierung der Verbändelandschaft das Potential besitzt, neue Konkurrenzsituationen zu schaffen und diskutieren das dieser Pluralisierung innewohnende Spannungsverhältnis: einerseits können neue Organisationsformen einer fragmentierten Repräsentation von Partikularinteressen, etwa von sanktionierten Grundsicherungsbeziehenden, Vorschub leisten. Andererseits bieten ihre neuen Repräsentationsformen das Potential, durch Skandalisierungen die wahrgenommene „undeservingness“ von Arbeitslosen in der Bevölkerung zu reduzieren und so einen Beitrag zur Artikulation aggregierter Kollektivinteressen zu leisten.