Sitzung | |
Sek36: Sektion Professionssoziologie: "Professionalitäten in sozialen Beruflichkeiten: Pflege, Medizin, Therapie, Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung"
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Gerechtigkeit als Motiv und Ideologie der Sozialen Arbeit – Alltag als „Basis“, professionelle Praxis als „Überbau“? IU Internationale Hochschule - Campus Stuttgart, Deutschland Die oft mit dem „doppelten Mandat“ in Zusammenhang gebrachte Grundspannungen der professionellen Haltung in der sozialen Arbeit: der Konflikt zwischen „Hilfe“ und „Kontrolle“ reflektiert sich im Widerspruch eines akademisch zugeschriebenen Selbstverständnisses als „Gerechtigkeitsprofession“ einerseits und unbestreitbarer „systemrelevanter“ Funktionalität andererseits. Um Gerechtigkeitsstreben und Arbeit am Systemerhalt als gleichzeitig gegebene und interdependente Aspekte der Praxis der Sozialen Arbeit dialektisch zu fassen, ohne in einen Parsonsschen Zynismus rückzufallen, wird vorgeschlagen, auf Grundlage einer von Ágnes Heller eingeworfenen alternativen Deutung und unter Hinzuziehung der Begrifflichkeiten Alfred Schütz‘ (Alltagshandeln als „working“) Alltag und Professionalität hier als Basis-Überbau-Verhältnis zu verstehen. In diesem reformulierten und, obwohl auf ihm aufbauend, wesentlich vom Marxschen Theorem divergierenden Verständnis koinzidieren die Reflexions- und Unterstützungsbedarfe eines gebrochenen und leiderzeugenden Alltags und die Funktionalitätserwartungen des Gesamtsystems an die alltägliche soziale Reproduktion (Lise Vogel). Dies resultiert in einer widersprüchlichen und fragilen Legitimität der Profession als Agentur außeralltäglicher sozialer Reproduktion. Der Ertrag eines solchen Perspektivwechsels hinsichtlich der Debatte um die Idee einer „Gerechtigkeitsprofession“ ist eine Verschiebung der Fragestellung. Thematisch ist nun nicht mehr, ob nun Gerechtigkeit oder etwas anderes „das Proprium“ (Mark Schrödter) der Sozialen Arbeit als Profession sei, sondern wie professionsethisch verankerte und zur Motivation professionellen Handelns unabdingbare Gerechtigkeitsvorstellungen mit systemisch verankerter Ungleichheit im Auftrag individualisierter Bearbeitung sozialen Leids sich zwar oft in „Gelegenheitsstrukturen“ (Albert Scherr) auflösen lassen, aber ebenso oft unausweichlich kollidieren – und wie solche Kollisionen individuell und kollektiv verhandelt werden. Dabei ist das aus systemischen Gründen unausweichliche Scheitern im und am Alltag als Anlaß zu begreifen, aus professioneller Positionalität heraus Gerechtigkeits-sensitiver und -anspruchsvoller zu sein als andere Berufsgruppen, ohne daß daraus der pragmatisch uneinlösbare Titel einer „Gerechtigkeitsprofession“ abzuleiten wäre. Handlungsfeld Wissenschaft? Soziale Arbeit und wissenschaftliches Wissen 1HS Fulda; 2PH Freiburg, Deutschland Der Beitrag untersucht das Wissenschaftsverständnis von Studierenden und Lehrenden der Sozialen Arbeit und dessen Bedeutung für professionelles Handeln. Im Zentrum steht die Frage, welche Rolle wissenschaftliches Wissen bei der Herausbildung eines professionellen Habitus spielt. Professionstheoretische Ansätze betonen die Allzuständigkeit der Sozialen Arbeit für lebensweltliche Belange, was Interdisziplinarität und die Verbindung von wissenschaftlichem, berufspraktischem und Erfahrungswissen erfordert. Die Literatur zeigt jedoch, dass in der Praxis häufig nur fragmentarisch auf im Studium erworbenes Wissen zurückgegriffen wird. Als Handlungswissenschaft ist Soziale Arbeit auf die Verbindung von Theorie und Praxis ausgerichtet; Wissensproduktion soll professionelles Handeln verbessern. Im Rahmen des Forschungsprojekts sAwA (studentische Aneignung wissenschaftlichen Arbeitens, 2023–2025, HS Fulda/PH Freiburg) wurden Interviews mit Studierenden verschiedener Semester und Lehrenden geführt. Die Analyse ergab sechs Wissenschaftsverständnisse: Wissenschaft als Standardisierung, als objektives Wissen, als abstraktes Ideal, als praxisrelevantes Wissen, als realitätsferne Theorie und als Abgrenzung zu Meinung und Ideologie. Zwei zentrale Befunde werden diskutiert: Erstens zeigt sich eine Tautologie im Verhältnis von Wissenschaft und Professionalität: Studierende begründen die Notwendigkeit wissenschaftlichen Wissens mit Professionalitätsansprüchen, definieren Professionalität aber gleichzeitig durch Wissenschaftlichkeit, ohne diese Begriffe inhaltlich zu füllen. Dieses diffuse Verständnis spiegelt Unsicherheiten in der Professionsidentität wider. Zudem empfinden Studierende die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Anforderungen der Lehrenden als überfordernd, was die Entwicklung eines kohärenten Verständnisses wissenschaftlicher Praxis und eines professionellen Habitus erschwert. Lehrende hingegen betonen die Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von lebensweltlichen Wissensformen und thematisieren das Theorie-Praxis-Problem. Sie sehen Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten nicht nur als technokratisches Instrument, sondern messen ihnen einen eigenen Wert bei. Hier zeigt sich eine Leerstelle im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit: Ist Wissenschaft lediglich Mittel zur besseren Praxis oder etabliert sich ein eigenständiges Handlungsfeld Wissenschaft? Im Schatten der Professionen: Medizinische Technolog:innen zwischen Substitutionsängsten und Suche nach beruflicher Identität Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland Insbesondere die Integration künstlicher Intelligenz (KI) verändert nicht nur die Versorgungspraxis, sondern auch Berufsrollen im Gesundheitswesen nachhaltig. Medizinische Technolog:innen in der Radiologie und Strahlentherapie (MTR) – zwei hochgradig technisierte Disziplinen, in denen KI-Systeme zunehmend in diagnostische und therapeutische Prozesse integriert werden (Najjar 2023) – sind davon besonders betroffen. Als intermediäre Akteure zwischen Technik, ärztlicher Steuerung und Patient:innen stellt die Integration von KI eine substanzielle Herausforderung für die bestehende Schnittstellenposition und das Aufgabenprofil von MTRs dar und führt zu neuen Spannungsfeldern hinsichtlich der beruflichen Orientierung und Zukunft. Diskutiert werden etwa Verschiebungen innerhalb des Tätigkeitsfeldes – von der technischen Steuerung hin zu supervisorisch-patientennahen Aufgaben – bis hin zur potenziellen Substitution der eigentlichen Kerntätigkeiten (Quinsten & Heße 2024). Paradoxerweise geschieht dies in einem Kontext des Fachkräftemangels, in dem gleichzeitig neue arbeitsorganisatorische Modelle wie Remote Scanning entwickelt werden, um Effizienz zu steigern und die Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten (Quinsten u. a. 2022). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie MTRs mit ihrer strukturell verankerten subordinativen Position in einem professionsförmig organisierten Feld umgehen. Welche Handlungsspielräume eröffnen sich im ‚Schatten der Professionen‘ und welche Formen beruflicher Selbstdeutung und Identitätsbildung sind in einem organisatorischen Gefüge möglich, das durch Delegation, Hierarchie und technologische Fremdsteuerung geprägt ist (Wilkesmann 2009; Starystach u. a. 2018)? Lässt sich die Entwicklung der MTRs als „profession in the making“ fassen (Nicklich u. a. 2020)? Und welche Rolle spielt KI in diesen Transitionsprozessen: Disruption, Substitution oder vielmehr Katalysator für neue Formen beruflicher Kompetenz (Ibrahim & Rashad 2024)? Der Beitrag präsentiert die ersten Befunde einer andauernden qualitativen Studie unter Medizinischen Technolog:innen. Gleichwohl die befragten MTRs eine durchgängig positive Einstellung gegenüber KI aufweisen zeichnen sich zugleich Befürchtungen hinsichtlich technologischer Marginalisierung sowie Ambitionen ab, ihre technologische Expertise strategisch zur Aufwertung ihres Berufsbildes einzusetzen. Professionalitätsforschung als normatives Projekt Sozialer Arbeit: Professionsproklamationen und empirische Erkenntnisgrundlagen sozialarbeiterischer Professionalität. HAW Hamburg, Deutschland Die Genese und Verarbeitung professionstheoretischer Modelle in der Sozialen Arbeit könnte kaum heterogener sein, als sie sich augenblicklich abzeichnet. Einerseits kann die Professionsdebatte in der Sozialen Arbeit als eine Art Motor für soziologische Professionsforschung gesehen werden. Andererseits muss die empirische Basis prozessionstheoretischer Thesen kritisch hinterfragt werden. Es geht in dem Beitrag darum, eine Interpretation der Diskrepanzen, Heterogenitäten und Widersprüche der Professionsforschung der Sozialen Arbeit zu (ver)suchen, den Blickwinkel auf professionstheoretische Forschungsdesigns zu schärfen sowie einen Alternativvorschlag zwischen Normativität und Empirie zur Diskussion zu unterbreiten. Erstens wird in der (hochschulorientierten) Qualifikation zur Sozialen Arbeit, aber auch in der nationalen wie auch internationalen Fachverbandssemantik Soziale Arbeit unhintergehbar als Profession geführt. Zweitens stehen sich im wissenschaftlichen Diskurs ebenso proklamativ-normative Professionsansätze (wie z. B. Menschenrechtsprofession (vgl. Staub-Bernasconi 2007) oder Gerechtigkeitsprofession (vgl. Schrödter 2007)) bzw. andere eher kryptonormative Ansätze bis hin zu Infragestellungen des Profession(alität)s- status gegenüber. Drittens scheinen leitende Modell auf einer Praxis-Theorie-Allianz des Arbeitsfeldes der Kinder- und Jugendhilfe mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft (Sozialpädagogik) zu gründen. Auf der Basis eines Scoping Review einschlägiger Veröffentlichung sozialarbeiterischer Professionsforschung wird den Fragen nachgegangen, welche Konsequenzen erstens die normative Überformung professionstheoretischer Proklamationen in der Sozialen Arbeit haben kann und zweitens welche Konsequenzen aus dem Status Quo für weitere empirische Forschung gezogen werden können. Eine institutionsanalytisch erweiterte Praxologie als Alternativvorschlag soll kurz skizziert und diskutiert werden. Zwischen Theorie und Praxis: Digitale Fallarbeit als reflexiver Lernraum für Professionalisierung in sozialen und gesundheitsbezogenen Berufen 1Hochschule Niederrhein, Deutschland; 2TU Dortmund, Deutschland; 3Fachhochschule Dortmund, Deutschland Professionelles Handeln in sozialen und gesundheitsbezogenen Berufen basiert auf theoretischem Wissen, praktischer Erfahrung und der Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns und der professionellen Rolle (Franz, Spatscheck & van Rießen, 2024). Im Studium stellt der Theorie-Praxis-Transfer eine zentrale Herausforderung dar, da berufsbezogene Kompetenzen oft abstrakt vermittelt werden (Hempel et al., 2021; Diederichs et al., 2023). Das Projekt DigiFall („Digitale Fallarbeit – Transdisziplinäres Self-Assessment in pädagogischen und gesundheitsbezogenen Kontexten“, gefördert vom MKW NRW im Rahmen von oercontent.nrw) reagiert darauf. Entwickelt wird ein digitales Self-Assessment, das Studierende mittels videografierter Branching-Szenarien in simulierte Berufssituationen versetzt. Ziele sind die Förderung professionsspezifischer Kommunikations- und Beratungskompetenzen sowie die Reflexion transdisziplinärer Zusammenarbeit. Die Fälle werden in interaktiven Szenarien kollaborativ bearbeitet. Studierende übernehmen professionelle Rollen, analysieren komplexe Fälle und reflektieren ihr Handeln anhand theoretischer Konzepte. Unterstützt wird dies durch strukturierte Reflexionsphasen, Feedback und Transfers in Studium und Berufspraxis (Claus & Wiese, 2021). DigiFall basiert auf Prinzipien des problemorientierten Lernens, welches eigenständiges, erfahrungsbasiertes Lernen und die Auseinandersetzung mit Handlungsmustern fördert (Lubna, 2020) und als digital wirksam gilt (Car et al., 2019). Die Fallentwicklung basiert u.a. auf Fokusgruppen mit Praxisakteur*innen und Studierenden (n = 28), wodurch Relevanz und Anpassbarkeit gesichert wurden (Winkelkotte et al., 2023). Zentral ist die Frage, wie digitale Fallarbeit reflexive Professionalisierung im Studium fördern kann. Erste Evaluationen an Hochschulen (n = 40) zeigen mehr Praxisnähe, Selbstreflexion und besseres Verständnis professioneller Rollenerwartungen. Gleichzeitig bestehen Herausforderungen bei Technik, interdisziplinärem Austausch und curricularer Verankerung. Der Beitrag diskutiert das Potenzial digitaler Fallarbeit als Brücke zwischen Theorie und Handlungskompetenz. Gezeigt wird, wie digitale Lernräume reflexive Prozesse anstoßen und zur Ausbildung eines professionellen Habitus beitragen. DigiFall liefert eine methodische Innovation und Impulse für reflexive Kulturen in sozialen und gesundheitsbezogenen Berufen. |