Das Soziale als politischer Raum. Gegen die Ontologisierung des Politischen mit einer postfundamentalistischen Sozialtheorie
Conrad Lluis
Universität Kassel, Deutschland
Alles ist in letzter Instanz politisch, weil alle sozialen Verhältnisse einen antagonistischen Ursprung haben, so das postfundamentalistische Axiom, das offenbar auch den hiesigen Call grundiert. Dieser Vortrag plädiert dafür, den Begriff des Politischen zu deontologisieren, indem er an seinen Gegenbegriff, das Soziale, gekoppelt wird. Ich vertrete eine scheinbar paradoxe These: Erst indem der Begriff des Politischen begrenzt wird, kann er für die (politische) Soziologie zur empirisch operativen Heuristik avancieren.
Die These untermauere ich in vier Schritten. Erstens ist das Gegensatzpaar Politisches versus Soziales aufzugreifen, wie es der späte Laclau, die an ihn anschließende Essex School of Discourse Analysis und Oliver Marchart stark machen. Das Politische steht für die umkämpfte Gründung sozialer Verhältnisse, das Soziale für ihre entpolitisierte Sedimentierung. Das Politische erhält eine ontologische Primatstellung, das Soziale regrediert zum ontischen Epiphänomen. Entlang meiner Forschung zur politischen Soziologie Spaniens plädiere ich zweitens dafür, dass diese Dichotomie nicht haltbar ist. Selbst hochgradig politisierte Praktiken werden von sozialen Sedimenten durchzogen.
Die Empirie spiegle ich, drittens, auf die Theorie zurück. Die bei Laclau/Mouffe (2001: 132f.) fragmentarisch bleibende Kategorie des politischen Raumes kann die Gleichzeitigkeit von Politisierung und Sedimentierung in einem Begriff mittlerer Reichweite verdichten. Der politische Raum steht für die (partielle) Fixierung von Bedeutung. Ähnlich einer Gelegenheitsstruktur werden politische Praktiken reguliert und beschränkt. Zugleich wird dieser Rahmen fortwährend umstrukturiert. Viertens zeige ich anhand meines Habil-Projekts zur Langzeitpflege, wie sich das Konzept des politischen Raumes operationalisieren lässt. Im Pflegeheim laufen Praktiken so zusammen, dass ein Raum mit eigenen Regeln, Ritualen und Temporalitäten entsteht. Politisch ist dieser Raum deshalb, weil er zur internen Peripherie westlicher Gesellschaften sedimentiert. Doch das Pflegeheim ist auch deshalb politisch, weil es sich als dynamisches Gefüge von Körpern, Artefakten, Semantiken und Praktiken erweist. Dort wird immer wieder aufs Neue entschieden und ausgefochten, wie gepflegt wird, wie die Vulnerabilität der Bewohner:innen genauso wie eines (großen) Teils der Belegschaft bearbeitet und hervorgebracht wird.
Die Analyse der identitätspolitischen Semantik als Entwurf einer spätmodernen politischen Soziologie
Marlene Müller-Brandeck
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutschland
Identitätspolitik gilt als Paradebeispiel für die Entgrenzung und Pluralisierung von Politik, die soziale Interaktionen bis in den Alltag hinein politisiert. Mein Anliegen ist es daher, eine gesellschaftstheoretische Beschreibung von Identitätspolitik zu vorzustellen, die die zunehmende Komplexität von Ungleichheitsbeschreibungen erklären kann.
Meine Studie 'Die Sakralisierung der Identität' untersucht, wie in identitätspolitischen Autosoziobiographien soziale Ungleichheit und ihre Verbindung mit Identität konstruiert werden. Zwei zentrale Ergebnisse werden in meinem Vortrag vorgestellt:
Erstens analysiert meine Studie die semantische Konstruktion zentraler Konzepte wie sozialer Ungleichheit, Politik und Identität, ohne diese vorab soziologisch zu definieren. Dabei kommt das systemtheoretische Instrument der Leitunterscheidung zum Einsatz. Leitunterscheidungen ermöglichen die Beobachtung der Konstruktion eines Gegenstandes anhand einer konstitutiven Differenz, die alle weiteren Beobachtungen anleitet. Im untersuchten Material zeigt sich eine Verschiebung der Leitunterscheidung: von Kapital/Arbeit in der Arbeiterbewegung über Mann/Frau im Feminismus der 1970er und 1980er Jahre hin zu Privileg/Diskriminierung in der Identitätspolitik der Gegenwart.
Zweitens verändert die identitätspolitische Semantik durch diese neue Leitunterscheidung auch die Konstitution des politischen Kollektivs. Durch die Sakralisierung der Identität wird die Identität des Einzelnen, in seiner individuellen Kombination privilegierter und diskriminierter Merkmale, zum zentralen schützenswerten Gut und damit zur politischen Kategorie. Gleichzeitig löst sich die Vorstellung auf, dass soziale Ungleichheit durch den Kampf gegen eine klar definierte soziale Gruppe (z. B. die Klasse der Kapitalist:innen) überwunden werden kann. Stattdessen rückt die Aufklärung privilegierter Personen über die Wirkmechanismen ihrer Privilegien in den Mittelpunkt – gerade weil „die Privilegierten“ kein homogenes, klar adressierbares Kollektiv mehr bilden.
So kann eine politische Soziologie gelingen, die gesellschaftliche Konstruktionsprozesse sichtbar macht und analysiert, anstatt entweder die Komplexität gegenwärtiger Politik unreflektiert zu reproduzieren oder sich ihr normativ zu entziehen.
Die Ebenen der Existenz: Plurale Verhältnisse von Wissenschaften und Politiken
Frieder Vogelmann
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland
Einfache Dichotomien führen schnell in theoretische Sackgassen. So auch die Dichotomie zweier populärer Vorstellungen des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft: die einer kategorischen Differenz und die einer reduktionistischen Identität.
Einerseits ist nach wie vor die Vorstellung einer kategorischen Differenz verbreitet: Wissenschaft und Politik werden dann als soziale Funktionssysteme, Sphären oder Teilbereiche anhand ihrer Codes, Werte oder Verfahrensweisen getrennt. Hier Macht, dort Wahrheit; hier die Pluralität von Meinungen und die Notwendigkeit von Kompromissbildung, dort die Herrschaft einer singulären Wahrheit und ihre unerbittliche Durchsetzung; hier Entscheidungen unter Zeitdruck, dort handlungsentlasteten Diskurse.
Andererseits wird Wissenschaft als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“(Latour) beschrieben, ja manchmal sogar als durch und durch politisch. Unterschiede zwischen den Laboren, Bibliotheken und Schreibtischen von Forscher*innen und den Parlamenten, Hinterzimmern und Büros von Berufspolitiker*innen verschwinden angesichts der ubiquitären Politizität wissenschaftlicher Praktiken, die unsere Welt eben nicht nur erklären, verstehen oder interpretieren, sondern für alle verändern.
Wie bei falschen Dichotomien üblich, haben beide Bestandteile ihre Berechtigung: Wissenschaftliche Praktiken sind politisch und ihre Differenz zu politischen Praktiken muss markieren werden. Beiden Anforderungen gemeinsam kann man nur gerecht werden, wenn man drei Voraussetzungen akzeptiert: Erstens muss man auf die Kollektivsingulare „der Politik“ und „der Wissenschaft“ verzichten, die jene Unterscheidungskriterien schon voraussetzen, die erst zu erarbeiten sind. Zweitens müssen die Verflechtungen politischer und wissenschaftlicher Praktiken auf der Ebene ihrer Existenzbedingungen von ihren Beziehungen im Vollzug der Praktiken unterschieden werden. Drittens braucht es eine Unterscheidung zwischen Mikropolitik und institutionalisierter Politik.
Konzeptionen der pluralen Verhältnisse zwischen Wissenschaften und Politiken, die diese Vorannahmen akzeptieren, so die abschließende These, können nicht nur an soziologische Beschreibungen wissenschaftlicher und politischer Praktiken anschließen, sondern bieten auch eine tragfähige Basis für die epistemischen Evaluationen der politischen Epistemologie und der Wissenschaftsphilosophie.
Entgrenzungen des Politischen und die Reflexivität sozialwissenschaftlichen Wissens. Das Beispiel der Problematisierung negativer Körpergefühle
Nina Sökefeld
Universität Hamburg, Deutschland
Forschungsgegenstände, die sich selbst im Sinne eines entgrenzten Politikbegriffs als ‚politisch‘ verstehen, sind oftmals von sozialwissenschaftlichen Konzepten durchzogen. Das gilt insbesondere für die mittlerweile weitreichende Verbreitung konstruktivistischer und machtkritischer Theorieperspektiven, die es erlauben, jegliche gesellschaftliche Konstellation als Ergebnis ungleicher Machtverhältnisse und damit als ‚politisch‘ zu begreifen. Daraus ergibt sich für soziologische Untersuchungen die Herausforderung, sich zu möglichen begrifflichen und gesellschaftsanalytischen Verstrickungen verhalten zu müssen. In welchem Verhältnis stehen die eigenen analytischen Konzepte zu denen, die im Phänomenbereich zur Anwendung kommen? Wie verhält sich das eigene Forschungsproblem zu den im untersuchten Feld vorgefundenen Problematisierungen? Der Beitrag schlägt vor, Phänomene entgrenzter Politisierung unter dem Vorzeichen der Verbreitung sozialwissenschaftlichen Wissens in den Blick zu nehmen und illustriert ein exemplarisches Vorgehen anhand ethnographischer Untersuchungen zur gezielten Auseinandersetzung mit körperbezogenen Gefühlen, die negative Emotionen explizit als ‚politisch‘ begreifen. Auf den ersten Blick scheinen sich die Anliegen etwa der Fettakzeptanz- und Body- Positivity-Bewegung(en) als klassische identitätspolitische Kämpfe darzustellen, die sich gegen die Diskriminierung spezifischer Gruppen von Körpern richten, die beispielsweise in Form und Gewicht von ästhetischen und medizinischen Normen abweichen. Meine Analyse zeigt jedoch, dass die Problematisierung negativer Körpergefühle umfassender vorangetrieben und mit einem politischen Programm verbunden wird, das letztlich ‚alle‘ Körper einschließt; und zwar mit umfassendem Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Perspektiven, die Eingang in alltägliche Gefühls- und Körperpraktiken gefunden haben. Negativen Gefühlen, die den eigenen Körper zum Gegenstand haben, wird im untersuchten Feld selbst eine ordnungsstiftende Funktion zugeschrieben: Sie erscheinen als Instrument affektiver Herrschaft über Körperformen, die es zu bekämpfen gilt. Ziel ist damit schlussendlich zwar auch die Überwindung konkreter Diskriminierungen. Im Kern geht es aber um eine Umstrukturierung der als ‚politisch‘ verstandenen Konfiguration von Körper, Gefühl und Bewertung, die im je einzelnen Subjekt
zusammentrifft.
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