Active Inference basierte Multi-System Simulationen als theoretische Werkzeuge
Kolja J. Kurzer
Active Inference Institute, USA
Das in den Feldern der Neurowissenschaften und Artificial Intelligence mittlerweile weit verbreitete Paradigma der Active Inference, bzw. des Free Energy Principles, initiiert durch Karl J. Friston (2006, 2010), ermöglicht es diverse Systeme zu formalisieren und so für Modelle und Simulationen einsetzbar zu machen. Relevant ist für die Soziologie die Fassung verschiedener verschachtelter Systeme, die auf verschiedenen Zeitskalen operieren. Diese lassen sich als psychische und soziale Systeme anordnen.
Durch die vergleichende Gegenüberstellung zentraler Formationen können archetypische Paradigmen der Soziologie verglichen werden, und so ein grundlegendes Problem und Spannungsfeld der Soziologie bearbeitet werden. So ließen sich, analog zu Micro Ansätzen, die Konstellationen aus einzelnen direkt interagierenden psychischen Systemen modellieren. In einem Makro Ansatz, wären die Psychen nur einzelne Beobachtungen und Handlungs-Policies eines Kommunikationssystems. Darüber hinaus können verschiedene Ordnungen der Verschachtelung von Systemen getestet werden: Es soll eine koproduzierende Interaktion zeitunterschiedlicher aber im Falle der Kommunikation immer aufeinander angewiesener Systeme (Luhmann 1984, 1997, Fuchs 2015), mit dem strikten Dreischritt Struktur, Situation, Agent (Esser 1999) verglichen werden.
Die Präsentation möchte Vorteile und Beschränkungen der Simulation mit dem Active Inference Paradigma erläutern und vorsichtige theoretische Rückschlüsse aus dem Vergleich auf die (Ko)Organisation von psychischen und sozialen Systemen ziehen.
Die Illusion der Automatisierung des Zensus
Rainer Schnell, Severin V. Weiand
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Zurzeit arbeitet das Statistische Bundesamt an der Umstellung des Zensusverfahrens, von einem registergestützten Verfahren hin zu einem vollständigen Registerzensus. Im Vergleich zum registergestützten Verfahren, bei dem eine 10\%-Stichprobe der Bevölkerung befragt wurde, um Fehler insbesondere in den Einwohnermelderegistern zu korrigieren, soll das neue Verfahren nur noch auf Basis von Registern funktionieren. Die Register sollen dabei anhand einer eindeutigen Identifikationsnummer (IDNr) verknüpft werden. Um die IDNr jedoch in ein vorhandenes Register einzuführen, muss dieses Register mit einem anderen Register mittels Record-Linkage verknüpft werden. Insbesondere bei dezentralen Registern, wie den Melderegistern, muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass das konsolidierte Register frei von Duplikaten ist.
Das Ziel des Projekts ist, die einzelnen Aspekte des Registerzensus systematisch zu simulieren. Der Vortrag behandelt die Simulation des zentralen Schritts der Mehrfachfallprüfung -- die Deduplizierung des konsolidierten Melderegisters. Hierzu wurde zunächst eine synthetische Bevölkerung der deutschen Bevölkerung auf Basis der Ergebnisse des Zensus 2011 simuliert. Der Datensatz umfasst ca. 80 Mio. geolokalisierte Fälle. Bei der Simulation wurden die Haushaltsstrukturen sowie die Region, das Alter und die Nationalität bei den Namensverteilungen und Geburtsdaten berücksichtigt. Bisherige Simulationen vernachlässigen diese Abhängigkeiten immer, sodass die Leistungsfähigkeit automatischer Verfahren überschätzt wird.
Aus der synthetischen Bevölkerung wurde ein konsolidiertes Melderegister abgeleitet und anschließend mit Fehlern auf der Basis empirischer Verteilungen aus administrativen Daten behaftet. Dabei wurden unterschiedliche Annahmen über die Datenqualität getroffen. Die Deduplizierung zeigt, dass ein großer Teil der Duplikate durch kein Verfahren gefunden werden kann. Die Ergebnisse zeigen besonders, dass die für den Zensus verwendeten Kernmerkmale häufig zur zweifelsfreien Identifikation nicht ausreichen, insbesondere wenn Datenfehler vorliegen.
Kommunikation und die Konstruktion von Status
Marius Kaffai1, Mark Wittek2
1Universität Stuttgart, Deutschland; 2Central European University (CEU), Österreich
Soziale Statusordnungen sind seit langem Untersuchungsgegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Auf besonderes Interesse stoßen dabei die typischerweise stark ungleiche Verteilung von Status sowie die Entkoppelung von Status und Kompetenz. Statusordnungen werden in den Sozialwissenschaften einerseits häufig als Nebenprodukt des individuellen Strebens nach sozialem Status erklärt. Andererseits werden sie als das Ergebnis relationaler Prozesse, in welchen Status durch wiederholte Akte gegenseitiger Bewertung erzeugt wird, verstanden.
Die bisherigen Forschungsansätze führten zwar zu vielen wertvollen Einsichten, doch wurde zugleich die Rolle der Kommunikation für die Konstruktion von sozialem Status vernachlässigt. So zeigen beispielsweise Untersuchungen zu Gossip, dass in Gesprächen häufig wertend über nicht anwesende Dritte und deren Kompetenzen gesprochen wird. Diese Gespräche sind selektiv darin, über wen gesprochen wird und beinhalten subjektive Wertungen, die von objektiven Qualitäten abweichen können. In der Folge können sich immer weniger nachprüfbare Bewertungen in selektiven und verzerrenden Kommunikationsketten im sozialen System ausbreiten. Dadurch – so unsere These – kann es zur Entkoppelung von Status und den bewerteten Kompetenzen kommen und hohe Ungleichheit in der sozialen Statusordnung entstehen.
Für die Prüfung des Erklärungsansatzes wurde ein agentenbasiertes Modell (ABM), das die gegenseitige Bewertung sowie die Weitergabe von Bewertungen durch das Sprechen über Dritte simuliert, entwickelt. Simulationsexperimente zeigen, dass Szenarien, in denen Bewertungen über Konversationen weitergetragen werden, signifikant mehr Ungleichheit im sozialen Status erzeugen als Szenarien, in denen Bewertungen nur durch Beobachtung gebildet werden. Netzwerkgröße und -clustering scheinen dabei eine moderierende Rolle einzunehmen. Zudem zeigt sich, dass große Abweichungen zwischen der Bewertung eines Agenten und dessen Qualität besonders dann auftreten, wenn die Distanz zwischen zwei Agenten groß ist.
Unser Beitrag reiht sich in eine seit langem in den Sozialwissenschaften geführte Debatte zur Entstehung von sozialen Statusordnungen ein. Mit der Kommunikation über Dritte rücken wir dabei ein zunächst trivial wirkendes alltägliches Handeln in den Erklärungshorizont. Das ABM bestätigt unsere Annahmen vorläufig und identifiziert zugleich entscheidendem Bedingungen für ihre Gültigkeit.
Transition durch Stimme? Simulierte Sozialtransformationen zwischen Offenheit und Verschluss
Verena Marke
Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland
Wie entstehen soziale Transitionen aus Mikrodynamiken der Aufmerksamkeit, Artikulation und Anerkennung und wie lassen sie sich simulieren? Aufbauend auf einer Classic Grounded Theory (Glaser, 2005) zu Voice-Awareness-Kontexten wird in diesem Beitrag ein agentenbasiertes Simulationsmodell vorgestellt, das die Verschränkung zwischen individuellen Bewusstseinsprozessen und emergenten gesellschaftlichen Transformationen untersucht.
Neben dem Konzept der Bewusstseinskontexte (Glaser & Strauss, 1965) erklären offene und geschlossene Stimmkontexte wie Individuen in sozialen Systemen zur Artikulation ermächtigt oder zum Schweigen strukturell gezwungen werden. Diese Kontexte (z.B. Bildung, Politik) wirken als Voice-Filter sozialer Partizipation. Die Kategorie der institutionellen Resonanz (Marke 2024), fungiert als Modulationsvariable für die Verfügbarkeit von Stimme und die damit verbundene Transformationsfähigkeit kollektiver Dynamiken. Das vorgestellte Modell basiert auf agentenbasierter Simulation (ABM). Es bildet Settings nach, in denen sich Stimmräume situativ sowie graduell öffnen oder schließen – abhängig von Rückkopplungseffekten wie normativer Rahmung, symbolischem Kapital, Machtverhältnissen und Resonanzbeziehungen.
Das Ziel ist es, gesellschaftliche Transitionen nicht nur im Nachhinein zu erklären, sondern sie als komplexe emergente Phänomene zu simulieren (Epstein, 2006; Gilbert & Troitzsch, 2005). Stimme wird als latenter Mechanismus behandelt, der Transitionen katalysieren oder blockieren kann – je nachdem, ob institutionelle Resonanzräume geöffnet oder verschlossen werden. Das Modell verdeutlicht, wie graduelle Verschiebungen (z.B. veränderte Rückmeldungen, Moderationsfiguren, Bewertungen) zu emergenten Makroveränderungen führen können (Macy & Willer, 2002).
Die empirische Basis wurde in Bildungssettings gewonnen und erlaubt eine detaillierte Unterscheidung stimmlicher Reaktionsformen: vom aktiven Sprechen über Resonieren, passiviertes Verstummen bis zu widerständiger Artikulation. Diese Differenzierungen werden in der Modellierung auf symbolisch codierte Handlungsstrategien der Agent:innen übertragen. Das Modell leistet einen Beitrag zur Theoriebildung über Transition als emergentes, nichtlineares Geschehen und reflektiert kritisch die Voraussetzungen, unter denen Stimme zu einem Hebel sozialer Transformation werden kann, oder daran gehindert wird.
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