Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Sek27: Sektion Methoden der qualitiativen Sozialforschung: "Grenzgänge qualitativer Methoden: Übergänge und Transformationen zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung"
Zeit:
Donnerstag, 25.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Laura Behrmann, Bergische Universität Wuppertal
Chair der Sitzung: Tobias Röhl, PH Zürich
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Differenzierungsarbeit zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung. (Auto-)Ethnografische Erkundungen eines Forschungsnetzwerks

Katharina Leimbach1, Maren Oldenburg2, Doerte Negnal3, Thomas Hoebel1

1Universität Bielefeld, Deutschland; 2Universität Innsbruck, Österreich; 3Universität Siegen, Deutschland

Das Forschungsnetzwerk „Differenzierungsarbeit“ befasst sich mit dem konkreten Vollzug qualitativer Forschungen mit Blick auf Kategorien der Humandifferenzierungen. Ausgangspunkt ist die Reflexion über die Verortung von Forschungsprojekten zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsinteressen und dem damit verbundenen Gebrauch von Kategorien von zweifelhafter Gegenstandsangemessenheit. Uns interessieren die alltäglichen routinierten Praktiken des Differenzierens. Wir fragen, wie Forschende soziale Kategorien verfestigen, reproduzieren oder auch zu ihrem Bedeutungsverlust beitragen.

Wir hinterfragen jene Selbstverständlichkeiten, indem wir sie (auto-)ethnografisch im Netzwerk erkunden und exemplarisch an zwei Forschungsprojekten - zu polizeilichen Interventionen und zur Bildungsforschung - vorstellen, die (a) qua Disziplin mit der Anforderung konfrontiert sind, anwendungsorientierte Ergebnisse zu produzieren, und (b) deren Erkenntnisse nachträglich „Anwendungsinteressen“ hervorrufen, ohne dass es sich dabei bereits um ein definiertes Ziel im Forschungsprozess handelte.

In dem wir unsere wissenschaftliche Praxis in Bezug auf Humandifferenzierungen und Kategorisierungen objektifizieren (Bourdieu et al. 1991), also zum Gegenstand erheben, legen wir ein besonderes Augenmerk auf die transitiven Bedeutung(en) der Differenzierungspraktiken

zwischen der Grundlagen- und Anwendungsforschung.

Literatur:

Bourdieu, P./Chamboredon, J.C./Passeron, J.C. (1991): Soziologie als Beruf: wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis (dt. Ausgabe hrsg. Beate Krais). Berlin/New York: Walter de Gruyter.

Gaus, D. / Uhle, R. (2006): Verstehen und Pädagogik. Annäherungen an ein nicht zu vergessenes Thema. In: Gaus, D. / Uhle, R. (Hrsg.): Wie verstehen Pädagogen? Begriffe und Methoden des Verstehens in der Erziehungswissenschaft. Springer. 7-13

Uhle, R. (2006): Konzepte praktischen Verstehens in der Pädagogik. In: Gaus, D. / Uhle, R. (Hrsg.): Wie verstehen Pädagogen? Begriffe und Methoden des Verstehens in der Erziehungswissenschaft. Springer. 213-230



Inhaltsanalyse im Methoden-Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis

Christian Schneijderberg1, Erik Hofedank2, Bettina Langfeldt1, Christoph Thewes3, Ingmar Zalewski1

1Universität Kassel, Deutschland; 2Praxisforschungsstelle Heinersdorf; 3BTU Cottbus

Im Beitrag erfolgt eine methodische und wissenskulturelle Diskussion von Inhaltsanalyse basierend auf zwei Beispielen aus zwei BMBF-geförderten Forschungsprojekten. Anhand der Beispiele soll a) die inhaltsanalytische Methodenanwendung in der Praxis und deren qualitativ-vertiefende Weiterführung in der Wissenschaft diskutiert werden, und b) wie inhaltsanalytische Verfahren genutzt werden, um Co-Forschende in der Praxis zu identifizieren.

Diese wechselseitige Methodenherausforderung ist Gegenstand im Projekt AlterPerimentale (AlPer, T!Raum-Förderung strukturschwache Regionen). In der Praxisforschungsstelle Heinersdorf (Brandenburg) wird von Sozialwissenschaftler*innen die Situationsanalyse nach Clarke (2012) für die methodische Exploration des Forschungsfeldes altern im ländlichen Raum in der deutsch-polnischen Grenzregion angewandt. In einem zweiten Schritt wurde das kartografische Verfahren zur Identifikation von Schlüsselakteur*innen, den „Boundary Spanners“ (Aldrich/Herker 1977) genutzt, welche gezielt als Co-Forschende eingebunden werden und an verschiedenen Schnittstellen zwischen sozialweltlicher Praxis und Wissenschaft wirken.

Das zweite Beispiel stammt aus der Untersuchung der Akademisierung der Gesundheits- und Pflegeberufe (AGePf). Im AGePf-Projekt werden prozessproduzierte Dokumente zu Akkreditierungen von Studiengängen qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei baut die qualitative Inhaltsanalyse auf einer quantitativen „thematischen Analyse“ von Programmakkreditierungen auf (Neuhaus 2023). Im Beitrag zeigen wir, wie die Transformation der Verwaltungsthemen in ein Kategoriensystem für qualitative Inhaltsanalyse mit wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse erfolgte, und welchen Mehrwert die Methodenanwendung aus dem administrativen Kontext als rein technisches Werkzeug für die AGePf-Forschung brachte.

Weiter möchten wir diskutieren, warum im AGePf-Projekt eine klassische, kategoriengeleitete Inhaltsanalyse erfolgte, statt die von Neuhaus (2023) titulierte „thematische Analyse“ nach dem gleichnamigen Ansatz von Braun und Clarke (2022) weiterzuführen, was eine im CfP angesprochene „potenziellen Verflachung der methodischen Fundierung“ von qualitativer Inhaltsanalyse bedeutet hätte. Dies leitet über zur abschließenden reflexiven Betrachtung der methodischen und wissenskulturellen Transformationen der beiden Beispiele im Spiegel der Literatur.



Eine praktische Art, Probleme anzugehen – Qualitative Methoden zwischen Praxisproblemen und Forschungsproblemen am Beispiel der Evaluationsforschung

Anja Frank, Maruta Herding, Maria Jakob

Da-Jiang Innovations Science and Technology Co.

Als Forscherinnen im Bereich der Evaluation stehen wir auf den Schultern einiger Riesen, die Metho-den gerade im Kontext von und im Austausch mit praktischen Anwendungsfeldern entwickelt haben (z.B. Glaser/Strauss, Ulrich Oevermann, Ralf Bohnsack, Fritz Schütze). Fraglich ist aber, wie eine enge Verbindung zwischen praktischen Anwendungsproblemen und qualitativen Forschungsinteressen im Feld der heutigen Anwendungsforschung, in der ökonomische und zeitliche Zwänge sehr deutlich werden und der forscherische Freiraum oft stark begrenzt ist, möglich ist.

Beauftragt vom Bundesfamilienministerium forschen wir im Rahmen der Evaluation von sozialpäda-gogischen Projekten im Bereich der Extremismusprävention im Strafvollzug im Rahmen des Bundes-programms „Demokratie leben!“. Wir setzen diese Evaluation größtenteils als rekonstruktive For-schung um. Aus dieser Konstellation resultieren Spannungen zwischen praktischen und forscherischen Problemen: zwischen geforderten Wirkungsnachweisen und Bewertungsimperativen einerseits und der Orientierung am Prozesshaften des Sozialen sowie der Anerkennung der Prinzipien rekonstruktiver Sozialforschung andererseits. Diese Probleme stellen wir im Vortrag dar und gehen darauf ein, wie man mit qualitativen Strategien produktiv damit umgehen kann. Wir zeigen, dass eine konsequente, aber auch flexible Rückbindung an sozialtheoretische und methodologische Grundlagen qualitativer Forschung uns hilft, a) methodologische Kurzschlüsse zu vermeiden, die im Evaluationskontext ange-legt sind, b) Komplexität zu vermitteln entgegen den gewünschten Vereinfachungen, c) gegenstands-angemessen zu analysieren und zu bewerten und damit sowohl für Auftraggeber als auch für die Praxis einen Reflexionsmehrwert zu generieren, und d) Grundlagen- und Anwendungsorientierung sowie eigene methodologische Interessen zu vermitteln.



Transformationen qualitativer Forschungsmethoden: Methodische Anpassungen in digitalisierten Arbeitskontexten

Nelli Feist, Katja Schönian

FAU Erlangen-Nürnberg, Deutschland

Die qualitative Sozialforschung hat in den letzten Jahren zunehmend Eingang in anwendungsorientierte Forschungskontexte gefunden. Unser Beitrag greift die im Call angesprochene Transition qualitativer Forschungsmethoden in anwendungsbezogene Felder auf und analysiert die damit einhergehenden methodologischen Transformationsprozesse anhand konkreter Beispiele aus der Forschungspraxis. Ausgangspunkt sind zwei Forschungsprojekte, an denen wir exemplarisch zeigen, wie sich qualitative Methoden durch ihre Anwendung in spezifischen Arbeitskontexten verändern und welche Implikationen sich daraus für die methodische Ausrichtung ergeben. Der Beitrag fokussiert auf die Anpassung digitaler und analoger Interviewformate in den Feldern Cybersicherheit, E-Learning und Lebensmittelhandel.

Die fortschreitende Digitalisierung stellt die qualitative Forschung in Unternehmen vor neue methodische Herausforderungen: Standorte und Betriebsstrukturen verschwimmen, der Feldzugang wird dadurch komplexer und bestimmte Untersuchungsfelder erfordern eine größere methodische Flexibilität. Diese praxisbezogenen Anforderungen machen eine Weiterentwicklung etablierter qualitativer Verfahren notwendig und veranschaulichen die im Call thematisierte Spannung zwischen methodischer Innovation und potenzieller Verflachung.

Unsere Studien zeigen differenzierte Adaptionsprozesse: Im sensiblen Bereich der Cybersicherheit, der stark mit Bedrohung und Industriespionage assoziiert ist, war der Feldzugang erst durch virtuelle Interviewsettings möglich. Bei der Untersuchung betrieblicher Lernplattformen hingegen konnte der Laptop bzw. Computer als zentraler Ort des Geschehens in die Datengenerierung integriert werden – etwa durch Screen-Sharing – und eröffnete dadurch neue methodische Zugänge. Im Kontrast dazu erwies sich im Lebensmittelhandel die physische Präsenz in den Filialen als wesentlich, um den Arbeitsort und relevante Arbeitspraktiken erfassen und nachvollziehen zu können.

Die Gegenstandsangemessenheit erweist sich für uns als ein zentrales Kriterium, das die methodische Transformation leitet. In unserem Beitrag systematisieren wir den Entscheidungsprozess, der den methodischen Anpassungen vorausgeht und reflektieren kritisch, inwieweit solche Adaptionen in anwendungsorientierten Kontexten die methodologische Fundierung beeinflussen.



Partizipative Technikentwicklung – Ein (epistemologisches) Spannungsfeld

Michael Schaller, Florian Fischer

Bayerisches Zentrum Pflege Digital, Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten, Deutschland

Die Digitalisierung von Gesundheit, Pflege und Medizin ist mittlerweile zu einem modernen Imperativ geworden. Nichtsdestotrotz scheitern viele Technikentwicklungsprojekte in ebendiesen Bereichen. Dies wird u.a. der Komplexität der Anwendungsbereiche und dem Ausblenden sozialer und politischer Prozesse sowie dem Nichtwissen um die sozialen Lebens- und Arbeitswirklichkeiten potentieller Nutzer:innen zugeschrieben. Partizipative Ansätze in Forschung und (Technik-)Entwicklung sind daher bereits seit einigen Jahren (wieder) Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und öffentlicher Debatten geworden – insbesondere vor dem Hintergrund digitaler und sozialer Transformationsprozesse.

Während auf der einen Seite die Nähe der partizipativen Forschung zur qualitativen Sozialforschung durch den Bezug zum sozialkonstruktivistischen Paradigma an verschiedenen Stellen aufgezeigt wurde, werden auf der anderen Seite im Kontext der Technikentwicklung und -gestaltung partizipative Ansätze und damit auch qualitative Methoden von verschiedenen Disziplinen aufgegriffen und für eigene Zielsetzungen modifiziert. Nichtsdestotrotz bleibt die partizipative Technikentwicklung, u.a. bedingt durch eine Vielzahl von Ansätzen und Vorgehensweisen und insbesondere mit Blick auf Wirkmechanismen, noch eine ‚black box‘ und muss dahingehend erst entpackt werden.

In diesem Beitrag werden daher systematisch Ansätze der partizipativen Technikentwicklung – hier am Beispiel eines Forschungsprojektes zu informell Pflegenden als marginalisierter Zielgruppe – und der genutzten Methoden unter epistemologisch-methodologischen Gesichtspunkten und insbesondere im zeitlichen Verlauf betrachtet. Grundlage dieser Betrachtung stellt ein Scoping Review dar, dessen Datenkorpus auf wissenschaftlichen Primärstudien diverser Disziplinen (u.a. Medizin, Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Technikwissenschaften, Soziologie, Psychologie) beruht. Dabei werden folgende Fragen adressiert: Wie werden qualitative Methoden in der partizipativen Technikentwicklung mit informell Pflegenden genutzt und welche Modifikationen durchlaufen sie dort? Welche methodologischen Begründungen für die Nutzung/Modifikation dieser Methoden werden angeführt? Und wie kann verhindert werden, dass Partizipationsmethoden mit Forschungsmethoden gleichgesetzt und qualitative Methoden lediglich als Tools und/oder Artefakte zur Technikentwicklung genutzt werden?