Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Sek23: Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie: "Aktuelle Beiträge zur Medizin- und Gesundheitssoziologie"
Zeit:
Donnerstag, 25.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Johann Behrens
Chair der Sitzung: Stefan Dreßke, OvGU Magdeburg
Chair der Sitzung: Peter Kriwy, TU Chemnitz
Chair der Sitzung: Alina Schmitz, Technische Universität Dortmund
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Der „totale Schmerz“ und seine Linderung: Zum Einsatz von Opioid-Schmerzmitteln in der Hospizarbeit

Lilian Coates

JGU Mainz, Deutschland

Der Vortrag beschäftigt sich auf der Grundlage ethnografischer Daten mit dem Einsatz von Schmerz- und Schlafmitteln im Kontext der stationären Hospizarbeit und ihrem Ziel eines ‚guten Sterbens‘. Ein zentraler Fokus dieses Unternehmens liegt in der Linderung des sog. „totalen Schmerzes“, der sich bei terminalen Erkrankungen „physisch, psychisch, sozial und spirituell“ manifestiere.

Neben einem vielseitigen, multiprofessionellen Behandlungsangebot besteht eine Kerntechnologie der Schmerzlinderung im Hospiz in der Verabreichung starker Opioide. Dies klingt zwar im Versprechen der Bewegung an, niemand müsse ‚am Lebensende Schmerzen leiden‘, bleibt aber weitestgehend implizit. Wie die Schmerzlinderung praktisch bewerkstelligt wird, entzieht sich damit als pflegerisches und medizinisches Expertenwissen bislang sowohl der gesellschaftlichen als auch der soziologischen Aufmerksamkeit.

In einem kurzen historischen Rückblick soll gezeigt werden, wie die Hospizbewegung Opiate und insbesondere das Morphin ‚wieder entdeckt‘ hat, nachdem sie in der Medizin aufgrund von (Sucht-)risiken zwischenzeitlich gemieden worden waren. Die Hospizarbeit beforschte und entwickelte die Verabreichung dieser starken Analgetika systematisch weiter: Ihr Kniff dabei ist die sehr regelmäßige Gabe von verhältnismäßig geringen Dosen. So werden die Rauschzustände eines klassischen ‚Drogenkonsums' vermieden und es kommt zu einem ‚komfortablen‘ Pegel. Anschließend soll am empirischen Material gezeigt werden, wie Schmerzmittel im Hospizalltag eingesetzt werden. Eine These des Vortrags lautet, dass die Schmerzmittel über den Auftrag der ‚Schmerzlinderung‘ hinaus und durch ihn vermittelt, den Pflegenden bei der Bewältigung vieler Aufgaben und Herausforderungen im Hospizalltag helfen. Weiterhin befördert der Einsatz dieser Medikamente implizite Sterbeideale (zentral etwa das ‚friedliche Einschlafen‘ am Lebensende), die den expliziten Idealen der Bewegung zur Seite gestellt werden können.



Freigabe von Gesundheitsdaten in der digitalen Transformation: Bürger:innen zwischen Gemeinwohl, Unsicherheit und Skepsis

Felix Wilke, Elias Kühnel

Ernst-Abbe-Hochschule Jena, Deutschland

Die Digitalisierung verändert das Gesundheitswesen grundlegend. Die Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke eröffnet neue Möglichkeiten für medizinischen Fortschritt und gesundheitspolitische Entscheidungen. Während die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten in vielen Ländern etabliert ist, steht Deutschland noch am Anfang. Mit der elektronischen Patientenakte und Initiativen wie der Medizininformatik-Initiative entsteht derzeit eine technische Infrastruktur zur Weitergabe von Gesundheitsdaten. Dies wirft zentrale gesellschaftliche Fragen auf: Wer ist bereit, Daten zu teilen? Welche Faktoren beeinflussen diese Bereitschaft? Und wie hängen Unterschiede mit sozialen Merkmalen wie Bildung oder technischer Kompetenz zusammen?

Der Beitrag untersucht die Einstellungen der Bevölkerung zur Weitergabe von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke und analysiert diese auf Basis soziologischer Theorieansätze aus der Digitalisierungsforschung, Vertrauenstheorien und Ungleichheitsforschung in zwei Schritten: Erstens wird die Bereitschaft zur Datenspende untersucht und analysiert, wie sich diese durch individuelle und kulturell-normative Faktoren erklären lässt. Zweitens werden mittels Clusteranalyse verschiedene Motivationstypen identifiziert, die unterschiedliche Zugänge zur Weitergabe von Gesundheitsdaten aufzeigen.

Die empirische Grundlage bildet eine repräsentative Telefonbefragung der deutschen Bevölkerung (N = 1.004) aus dem Dezember 2023 im Rahmen des vom BMBF geförderten Drittmittelprojekts AVATAR. Im ersten Analyseschritt wird mittels multipler linearer Regressionsanalysen untersucht, welche Faktoren die Datenfreigabebereitschaft beeinflussen. Im zweiten Schritt werden typische Motivationslagen herausgearbeitet, um gezielte Kommunikationsstrategien für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen.

Die Ergebnisse werden abschließend im Lichte aktueller gesetzlicher Entwicklungen wie dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz diskutiert.



Großeltern in familialer Sorgearbeit. Eine multiperspektivische qualitative Studie zu Pflegearbeit bei seltenen Erkrankungen im Kindesalter

Hai Ha Nguyen1, Laura M. Koehly2

1Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Deutschland; 2National Human Genome Research Institute, National Institutes of Health, Bethesda, USA

Pflegeprozesse in Familien vollziehen sich in komplexen sozialen Konstellationen, in denen insbesondere Großeltern eine bislang wenig beachtete Rolle spielen. Grundlage unserer Analyse sind qualitative Interviews aus dem Projekt „Inherited Diseases, Caregiving and Social Networks“ unter der Leitung von Laura M. Koehly, PhD, gefördert vom United States Department of Health and Human Services. Die betroffenen Pflegebedürftigen sind Kinder mit angeborenen Stoffwechselstörungen in den USA. Aus den verfügbaren reichhaltigen Daten von 161 Familien wurden 21 Familien mit insgesamt 65 Informant:innen untersucht, darunter 26 Großeltern. In diesen Familien stehen Eltern typischerweise vor der Doppelbelastung als pflegende und emotionale Bezugspersonen.

Während die Forschung lange auf die dyadische Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten fokussierte, liegt es in diesem Fall nahe, auch die Bedeutung erweiterter familialer Sorgebeziehungen in den Blick zu nehmen und insbesondere auf die Rolle von Großeltern zu fokussieren.

Konkret geht es dabei um die Fragen,

a) wie unterschiedliche Mitglieder eines erweiterten Familienkreises Pflegeentscheidungen und Pflegepraktiken interpretieren und beurteilen,

b) wie diese Interpretationen und Beurteilungen von den jeweils anderen Familienmitgliedern aufgenommen und verarbeitet werden und

c) welche besondere Rolle Großeltern in diesem Arrangement spielen.

Wir zeigen in unserem Vortrag, dass Großeltern oft bedeutsame, aber zum Teil weniger sichtbare Unterstützungsaufgaben übernehmen. Ihre Perspektiven und Berichte geben Aufschluss über intergenerationale Dynamiken, verdeckte Unterstützungsleistungen und Aushandlungsprozesse innerhalb familiärer Sorgearrangements, die womöglich verborgen geblieben wären.

Über unsere Studie hinaus wirft unser Vortrag die Frage auf, inwieweit auch in anderen familiären Sorgearrangements die Rolle von Großeltern in der Forschung bislang unterschätzt wurde.



Schlafmedizin als Ort der Sinnintegration. Kontingenzbewältigung zwischen subjektivem Erleben und medizinischer Kategorisierung

Svenja Reinhardt

Philipps-Universität Marburg, Deutschland

Die Schlafmedizin fokussiert sich nicht auf ein einzelnes Organ oder eine klar abgrenzbare Pathologie, sondern ist mit einem prozesshaften Zustand beschäftigt: dem Schlaf. Ich untersuche in diesem Vortrag, wie Personen ihre individuellen, kontingenten Erfahrungen – etwa Müdigkeit oder Durchschlafprobleme – durch den Kontakt mit der Schlafmedizin in eine medizinische Sinnwelt integrieren (wollen) oder auch daran scheitern. Dazu werde ich, mit der Hilfe von Berger und Luckmanns Konzept der Sinnintegration analysieren, wie Personen versuchen, ihre anomischen schlafbezogenen Erfahrungen in ein medizinisch-gesellschaftliches Ordnungs- und Wissenssystem einzugliedern und dabei zu Patient:innen werden können. Spannend ist etwa ihre Entstehung: die seit den 1980ern sich weiter verbreitete medizinische Richtung scheint explizit zu versuchen, Sinndeutungsangebote zu schaffen und zu teilen. Dabei scheint die Disziplin sogar so aufgebaut zu werden, um möglichst viele Personen derart zu integrieren. Ich möchte jedoch zeigen, dass dieser Prozess nicht immer gelingt: Während einige Patient:innen die Deutungsmuster übernehmen, führen unerfüllte Erwartungen an Heilung oder eine mangelnde Passung zwischen subjektiver Erfahrung und medizinischer Kategorisierung teils zu Therapieabbrüchen und alternativen Sinnbildungsprozessen.

Der Vortrag beruht auf einer Ethnografie, die seit Januar 2021 in mehreren schlafmedizinischen Institutionen durchgeführt wurde. Ergänzt wird sie durch Interviews sowie einer internet- sowie medienbasierten – auch historischen – Ethnografie im Umfeld der Schlafmedizin und -forschung. Ich zeige, dass Sinnintegration in der Schlafmedizin stark von interaktiven, institutionellen und technischen Faktoren abhängt. So wirken nicht nur Diagnosen, sondern auch Praktiken wie die Polysomnografie, Ärzt:in-Patient:innen-Gespräche und bürokratische Dokumentationen sinnstiftend oder -verhindernd. Medizinische Sinnintegration ist so keine selbstverständliche Folge einer Diagnose, sondern eine prekäre, interaktive Leistung, die von der Anerkennung medizinischer Deutungen durch die Patient:innen abhängt. Die Ergebnisse tragen dazu bei, medizinsoziologische Theorien zur Sinnintegration empirisch zu erweitern und zeigen, dass die Schlafmedizin als eine noch emergierende Disziplin besondere Herausforderungen in der Legitimation und Stabilisierung ihrer Sinnwelt aufweist.



Wer entscheidet? Elterliche Einstellungen und ihre Bedeutung für die Covid-19-Impfung von Kindern

Miriam Trübner1, Alexander Patzina2, Martin Bujard3

1Johannes Gutenberg Universitat Mainz; 2Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 3Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung & Universität Heidelberg

Der weltweit zunehmende Rückgang von Kinderimpfungen, stellt einen entscheidenden Rückschlag für die globale Gesundheitsvorsorge dar. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir die Einstellungen und Entscheidungen von Eltern zur Covid-19-Impfung von Kindern. Bisherige Forschung zeigt, dass die Impfentscheidungen von Eltern auf komplexen Aushandlungsprozessen basieren. Jedoch beziehen sich bisherige Studien zumeist auf Samples von impfskeptischen Eltern, was allgemeingültige Aussagen erschwert. Ferner ist uns keine Untersuchung bekannt, die auf Basis repräsentativer Daten untersucht, ob Einstellungen zu kindlichen Impfungen zwischen Elternteilen abweichen und welche Rolle Gendernormen sowie die Organisation der Kinderbetreuung in Aushandlungsprozessen für tatsächliche Impfentscheidungen spielen.

Basierend auf Welle 2 (2022/23) des familiendemografischen Panels FReDA untersuchen wir daher heterosexuelle Paare mit Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren (N=957) und im Alter von 12 bis 17 Jahren (N=485) mittels binär logistischer Regressionen und zeigen die Wahrscheinlichkeit auf, mit der Kinder eine Covid-19-Impfung erhalten haben in Abhängigkeit der Einstellung des Vaters und der Mutter zur Covid-19-Impfung. Darüber hinaus betrachten wir vermutete Heterogenität von Familien mit unterschiedlichen Auffassungen über Geschlechterrollen und Betreuungsarrangements. Dabei berücksichtigen wir soziostrukturelle und individuelle Merkmale, sowie die elterlichen Erfahrungen mit Covid-19, um mögliche Verzerrungen durch unbeobachtete Heterogenität zu reduzieren.

Unsere Befunde implizieren, dass Gesundheitsentscheidungen für Kinder nicht allein durch Mütter getroffen werden. Dass die Einstellungen der Mütter entscheidender sind, lässt sich darauf zurückführen, dass Frauen verstärkt die Kinderbetreuung übernehmen. Lehnt jedoch ein Elternteil, bspw. der Vater, die Impfung ab, wird das Kind (zunächst) nicht geimpft, auch wenn der andere Elternteil eine Impfung befürwortet. Die Ergebnisse über die dyadische Entscheidung von Eltern in Bezug auf die Covid-19-Impfung ihrer Kinder liefern somit wichtige Implikationen für politische Entscheidungsträger*innen, Gesundheitsämter und Kinderärzt*innen – etwa für die Ausgestaltung von Impfprogrammen und Maßnahmen zur Schließung neu entstehender Impflücken bei Kindern, auch im Hinblick auf andere Krankheiten.