Die Anthropomedialität ,des Avatars‘: Körpertechnik, Ritualisierung, Metamorphose“
Jens Kraushaar
Bauhaus-Universität Weimar, Deutschland
Was heißt es eigentlich, von ,einem Avatar‘ zu sprechen? Der Beitrag stellt eine grundlegende Frage zu einer Figur, die aufgrund der fortwährenden Virtualisierung lebensweltlicher Zusammenhänge des 21. Jahrhunderts ubiquitär scheint. Der Ausgangspunkt des Beitrags entspringt einer Denkbewegung, die Avatare nicht nur als digitale oder digitalisierte Körper begreifen möchte. Denn entgegen einer technischen Verkürzung dieser mannigfaltigen Figur sollen auch Körpervorstellungen in Überlegungen zu ebenjener Figur herangezogen werden, die ‚den Avatar‘ vor seiner Überführung in digitale Spielwelten geprägt haben. Dementsprechend lautet die Frage des Beitrages: Wie kann es möglich werden, eine transkulturelle Perspektive auf ,den Avatar‘ zu werfen, welche analoge ebenso wie digitale Körper-Konzepte/Körper-Vorstellungen sowie Körper-Bilder berücksichtigt?
Die Figur des Avatars befindet sich aufgrund neuartiger Technologieanwendungen in einem stetigen, metamorphischen Veränderungsprozess, weshalb sich ‚der Avatar‘ – so die Behauptung – einer allgemeingültigen Definition entzieht. Sie wird dementsprechend im Beitrag und gegenläufig zu manchen rezenten, humanzentrierten Konzeptionen nicht statisch, also nicht nur als visuelle Repräsentation eines Menschen oder als virtuelle Stellvertreterfigur perspektiviert, sondern in ihrer kontinuierlichen Variabilität als transkulturelle (Ritual)Figur, die durch die Avatāralehre im Hinduismus und die sich daran anschließenden sozialen Praktiken, religiösen Riten und Körper-Vorstellungen auf spezifische Weise präfiguriert wurde. Vor diesem Hintergrund soll die Möglichkeit der eigenständigen, anthropomedialen Existenzweise ‚des Avatars‘ durch die Engführung auf mediale Operationen verschiedener Avatarisierungen exponiert werden. In Anschluss daran schlägt der Beitrag vor, eine relationale Medienanthropologie des Avatars zu entwerfen, der (analoge sowie digitale) Avatar-Körper unter der Begriffsverwendung von je spezifischen, virtualisierten Körperbezügen (Stefan Rieger), adressiert. Drei Begriffskonzepte sollen in der Präsentation, flankiert mit Fallbeispielen, in Anschlag gebracht werden: 1. Körpertechniken (Marcel Mauss), 2. Ritualisierung (Catherine Bell), 3. Metamorphose (Bruno Latour).
Jenseits des Selbst: Avatare als Beziehungsbrücken in immersiven Multiplayer-Erfahrungen
Anna Zaglyadnova
Universität Potsdam, Deutschland
Viele Studien über die Interaktion in der Umgebung digitaler Spiele haben sich auf die Fragen der Immersion des Spielers in die generierten Welten (Murray 1998) sowie auf die Beziehungen zwischen dem Körper des Spielers und seiner Verkörperung im Spiel konzentriert (Keogh 2018, Kasprowicz 2020). Multiplayer-Spiele bieten jedoch einen neuen Diskussionspunkt, und zwar die Beziehung der Spieler:in zu anderen Spieler:innen. Bei der Anpassung eines spielbaren Charakters oder eines Avatars müssen sich die Spielenden mit einer wichtigen Frage auseinandersetzen: und das ist die Frage von relatability. Die Avatare sind nicht nur dazu da, die Aktionen der Spielenden im Spiel zu vermitteln, sondern auch, um einen Bezugspunkt für andere Spielenden zu schaffen. Bei den neuen so genannten immersiven Technologien oder erweiterten Realitäten (XR) wird das Problem sogar noch schwieriger: Sie führen den Körper der Spieler:in in die generierten Umgebungen ein und werden so zur Schnittstelle zwischen den Körpern mehrerer Spieler:inen und dem Spielerlebnis.
Avatare können per se als eine Verschränkung von Bild, Körper und Medium verstanden werden. Wir haben es mit einem Bild zu tun, das einem Körper ähnelt, ihn repräsentiert und simuliert. Die Erzeugung des Bildes wird durch die Wechselbeziehung zwischen Hardware und Software gewährleistet: In XR stützen sich die Avatare auf eine Technologie, die die Bewegungen der Spieler erfasst und sie in Echtzeit in virtuelle Repräsentationen umsetzt, was zu einer Trennung zwischen dem physischen und dem semiotischen Körper führt (Krämer, 2008). Diese Interdependenz zwischen den Körpern der Spieler:innen und ihren Avataren wird während des Spielens entscheidend, da ihre Verbindungen die immersive Erfahrung für alle Beteiligten prägen.
In meinem Vortrag möchte ich die Rolle der Avatare in den XR-Multiplayer-Umgebungen betrachten, wobei ich mich auf die Avatare „der Anderen“ konzentriere. Ich werde die Bedeutung der vermittelten Benutzer:in-Avatar-Beziehung als wesentliche Komponente immersiver Erfahrungen in Multiplayer-Umgebungen untersuchen und dabei auf technologische, (post)phänomenologische und soziale Aspekte der Avatar-Erstellung und -Nutzung eingehen.
Mats Transitionen zwischen und vermittels verschiedenen Player-Avatar Beziehungen
Kolja J. Kurzer1, David Ivanov2
1Active Inference Institute, USA; 2Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland
Avatare sind mehr als nur Masken und Rollen; Avatare sind auch Mittel und Fläche, Medien von Transitionen. In der Adoleszenz sind digitale Avatare zentrale Mittel, Begleiter, Erweiterungen des Leibes oder auch nur Masken und schließen jeweils ganze Welten an Erprobungsräumen auf, die meist nur wenig auf den körperlich gelebten Raum zurückschlagen drohen. Erlebte Erfahrungen können dann für die Eltern unerkannt bleiben, gleichzeitig aber große Bedeutung für die Kinder haben. So auch im Fall Mats Steens. Mats Steens wurde mit Muskeldystrophie Duchenne geboren und ist in seinem Erwachsenwerden zunehmend auf technische Hilfsmittel angewiesen, um grundlegende körperliche Funktionen auszuführen. Das Verarmen an körperlich erreichbaren Affordanzen, insbesondere an altersgemäßen Balzritualen, vermag Mats Steen, - unbemerkt durch seine Eltern – über den Avatar Ibelin, auszugleichen. Setzt sich Mats an seine maßangefertigten Controller vollzieht sich eine Transition, die seine schmerzhafte maschinelle Beatmung, seine begrenzte physische Ausgriffsfähigkeit vergessen lässt und eine digitale Welt aufspannt, in der Mats durch und mit Ibelin (sowie weitere Avataren) Erfahrungen sammeln kann. Dieser Fall, den die Autoren für eine Studie zur Resonanz untersuchten, stellt für das Verhältnis zwischen Personen und Avataren einen herausstechenden Randfall dar, dahier die körperlichen Affordanzen soweit eingeschränkt sind, dass manche alterstypische Erfahrungen nur noch über den Avatar erreicht werden konnten. In der Studie zur Resonanz wurde danach gefragt, ob die Transition in die Spielwelt eine resonante Weltbeziehung aufzubauen vermochte oder nur eine „Resonanzsimulation“ darstellt (Kurzer & Ivanov 2025). Hier wollen wir auf die Beziehung zwischen Ibelin und seinem Avatar und die verschiedenen Transitionen, die in diesem Hybrid aufgezogen werden, scharf stellen. In der Terminologie von Banks und Bowmann (2016) startet Mats durch die Anordnung der Charakterkreation in der Player-Avatar Relationship des "Avatar as Me", um sich durch ein stark und charaktertreues Ausleben als "Avatar as Other" in einer sehr sozialen Beziehung zu seinem Avatar zu begeben. Erfahrungen von Flirts, starker emotionaler Hilfe aber auch Streits lassen sich Transitionen in die Beziehung "Avatar as Symbiote" erkennen.
Die soziale Konstruktion und Relationierung von KI-gesteuerten Avataren in virtuellen Räumen
Jonathan Harth
Universität Witten/Herdecke, Deutschland
Die Grenze zwischen menschlichen Akteuren und digitalen Körpern durchläuft gegenwärtig eine signifikante Transformation, die durch das Aufkommen von Large Language Models (LLMs) als kommunikative Steuerungselements für die Interaktion mit Avataren eine neue Dimension erreicht. Der Beitrag untersucht diese Transition anhand von drei miteinander verknüpften empirischen Forschungsprojekten: einer Studie zu Personenzuschreibungen bei NPCs in Computerspielen (Harth 2014; 2017), einer künstlerischen Forschung namens „Reverse Turing Test“ (Knabe/Harth 2025), sowie einer Untersuchung zum Erstkontakt mit KI-Avataren in VR-Umgebungen (Harth 2024).
Aus soziologischer Perspektive erweisen sich KI-gesteuerte Avatare somit als paradigmatische Figuren einer Gesellschaft in Transition – sie verkörpern sowohl das „Nicht-Mehr“ vorprogrammierter Interaktionsmuster als auch das „Noch-Nicht“ einer umfassenden Neuverhandlung des Verhältnisses zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Empirisch stellt sich daher die Frage, wie sich dieses „Dazwischen“ von kommunikationsfähigen KI-Avataren manifestiert und welche neuen Relationen sozialer Interaktion dadurch entstehen (Karafillidis, 2018). Die empirischen Befunde zeigen, dass die Hybridisierung digitaler Körper nicht nur technologisch voranschreitet, sondern auch soziale Aushandlungsprozesse grundlegend verändert (Ihde 1990). So werden KI-gesteuerte Avatare gleichzeitig als Instrumente, Gegenüber und als eigenständige soziale Entitäten wahrgenommen – ein ambivalenter Status, der klassische Subjekt-Objekt-Dichotomien herausfordert.
Der Beitrag arbeitet dabei auf kommunikationstheoretischer und soziologischer Ebene (vgl. Muhle 2018) heraus, wie diese hybriden digitalen Körper ein transformatives Potential für Spielumgebungen und darüber hinaus entfalten. Dabei soll vor allem dem Aspekt Aufmerksamkeit gewidmet werden, dass diese Avatare heute weder vollständig programmiert noch vollständig autonomisiert sind, sondern vor allem den von der Konferenz adressierten „Zustand des Werdens“ im Sinne einer Emergenz von Kontingenz berühren. Besonders in Open-World- und Sandbox-Spielen könnten diese „sozial intelligenten“ KI-Avatare zukünftig nicht nur als verbesserte NPCs fungieren, sondern als Ko-Kreateure emergenter sozialer Räume.
Entzug des Entzugs. Das leibliche Selbst im Interaktionsanspruch des Avatars im Digital Afterlife
Carsten Ohlrogge
Universität Münster, Deutschland
Der Beitrag geht der Frage nach, wie die menschliche Person als leibliches Selbst im Interaktionsfeld mit digitalen Avataren im Digitale Afterlife verstanden werden kann. Mit dem Digital Afterlife sind Plattformen wie bspw. „You, Only Virtual“ oder „Hereafter“ gemeint, auf denen es möglich ist, eine verstorbene Person als Avatar posthum digital in Erscheinung treten zu lassen und mit ihr zu interagieren. Zu Lebzeiten oder durch posthum eingegebene Daten über die verstorbene Person werden mithilfe Generativer Künstlicher Intelligenz zu einem virtuellen Profil zusammengefügt und ermöglichen einen digitalen sozialen Bezug von lebendigen Personen zum Avatar der verstorbenen Person. Der Avatar fungiert hierbei zum einen als erinnertes Abbild einer Person, tritt jedoch zugleich als eine Art künstliche Person neu in die Interaktion ein, und kann durch die Generative Künstliche Intelligenz immer wieder abgewandelt und der jeweiligen kommunikativen Situation angepasst werden. Es ist noch nicht klar, wie sich diese Art der sozialen Interaktion soziologisch deuten lässt, denn die verstorbene Person wird in der virtuellen sozialen Bezugnahme in ihrer Abwesenheit nicht mehr in Ko-Präsenz (analog oder digital) erfahren, sondern es bildet sich ein interaktiver Zwischenraum aus lebendigen und artifiziellen sozialen Bewegungen. Hier setzt der Beitrag mit der leibphänomenologischen These an, dass sich gerade in der interaktiven Erscheinungsweise des digitalen Avatars von Verstorbenen eine Potenzierung ihrer Abwesenheit verbirgt, die sich als Entzug des Entzugs charakterisieren lässt. Durch die gefühlte und simulierte Präsenz der Verstorbenen wird ihre Abwesenheit erst recht offenbar, da sie nur dem Anschein nach, nicht aber in Wirklichkeit ein leibliches Selbst, das responsiv in die sozialen Bezüge eintritt, darstellen (können). Ihr Entzug durch den eigenen Tod wird noch einmal dadurch potenziert, dass der Avatar derart leiblos ist, dass sowohl die technologische Simulation als auch Attribution von Personalität durch die Hinterbliebenen nicht ausreichen, um den Entzug (als den Verlust) letztlich nicht noch stärker in die Erfahrung zu bringen. Die These des Beitrags wird neben der leibphänomenologischen Argumentation durch erste Befunde einer Dokumentenanalyse aus Online-Erfahrungsberichten und -Diskussionen zum Thema Digital Afterlife gestützt.
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