In the Uncanny Valley of the Dolls - Erwartungsbrüche und die Uneindeutigkeit des Humanen auf TikTok
Kimberly Schlüter
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland
Auf TikTok werden Nutzer*innen regelmäßig mit uneindeutigen und von ihren ursprünglichen Produktionskontexten entkoppelten Inhalten konfrontiert. So entpuppen sich vermeintlich alltägliche Kurzvideos schlafender Säuglinge bei näherer Betrachtung gelegentlich als Inszenierungen sogenannter Reborn Dolls – lebensechter, aber lebloser Puppen. Ähnlichkeitsunterstellungen – etwa durch äußere Gestaltung, Namensgebung, Rollenbezeichnungen und die Orientierung an Darstellungskonventionen menschlicher Säuglinge auf Social-Media-Plattformen – führen zu irritierenden Ähnlichkeitswahrnehmungen bei Rezipient*innen: Es kommt zur Verwechslung von Aufnahmen menschlicher Säuglinge mit Aufnahmen von Reborn-Dolls.
In kommunikativen Anschlüssen Dritter an solche uneindeutigen Inhalte werden Zeichen der Aufklärung gesucht und eingefordert oder durch Versuche der eindeutigen Kategorisierung selbst vorgenommen.
Hier setzt meine Arbeit an: Mithilfe hermeneutischer Analysen von Einzelkommentaren unter Reborn-Inhalten untersucht sie Differenzierungs- und Kategorisierungsprozesse als Formen der Grenzarbeit. Sie rekonstruiert dabei konkrete Mechanismen hinter Versuchen der Ambiguitätsbewältigung, der nostrifizierenden
Abstandsverringerung und der alterisierenden Abstandsvergrößerung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem.
Im Fokus stehen neben Versuchen der eindeutigen Kategorisierung als Bewältigungsmechanismus von Ambiguität und als Ordnungsleistung zur Komplexitätsreduktion auch mobilisierte Zuschreibungen, Fantasien und Ängste in Bezug auf hyperrealistische anthropomorphe Artefakte im Allgemeinen.
Die Arbeit rekonstruiert in diesem Zusammenhang historische und gegenwärtig wirksame Differenzkonstruktionen, um zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses von Menschlichem und Nicht-Menschlichem sowie verbundenen normativen Aushandlungen beizutragen.
Aufbauend darauf diskutiert sie, inwiefern Hybrid- und Grenzfiguren (etwa soziale Chatbots, Sprachassistenzsysteme, humanoide Roboter, Reborn oder Sex Dolls) die Außengrenzen des Humanen und Sozialen herausfordern und (de-)stabilisieren und entwickelt eine soziologische Perspektive auf Fragen der Sozialität von und mit hyperrealistischen anthropomorphen Artefakten.
Bildpolitiken des Pränatalen: Zur visuellen Inszenierung des Ungeborenen im Kontext internationaler Lebensrechtsproteste
Charline Kindervater
Universität Siegen (assoziiert), Deutschland
Der Diskurs um Abtreibung gehört zu den kontroversesten gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozessen der Gegenwart. Weltweite Proteste zeigen die tiefe Uneinigkeit über die rechtliche und moralische Zulässigkeit. Seit jeher dienen die Bilder des Ungeborenen als zentrale Aushandlungsobjekte im Kampf um die Deutungsmacht über das Pränatale (vgl. Petchesky 1987; Duden 2002; Hopwood 2024). Sie fungieren als Projektionsflächen für gesellschaftliche Vorstellungen von Lebensbeginn, Menschenwürde und die sexuelle sowie reproduktive Selbstbestimmung der Frau* (vgl. Hornuff/Fangerau 2020). Für die Lebensrechtsbewegung sind sie ein zentrales Instrument politischer Einflussnahme (vgl. Schankweiler 2019). In ihnen konkretisiert die Bewegung ihre Forderung nach umfassendem „Lebensschutz“ und Abtreibungsverbot.
Während sich die bisherige Forschung meist auf Einzelfallanalysen im nationalen Kontext beschränkt, fehlen systematische Untersuchungen, die die Bildlogiken transnationaler Protestvernetzungen und digitale Öffentlichkeiten berücksichtigen. Hier setzt der Beitrag an und adressiert dieses Desiderat aus der Perspektive der Visuellen Kommunikationsforschung. Eine qualitative Bildtypenanalyse soll Aufschluss darüber geben, welche Darstellungsweisen des Ungeborenen sich als regelhafte visuelle Protestschemata etabliert haben (vgl. Grittmann/Ammann 2018). Am Beispiel einer US-amerikanischen sowie einer deutschen Lebensrechtsorganisation untersucht die Studie Instagram-Beiträge aus dem Jahr 2022. Methodologisch orientiert sie sich an Prinzipien der Grounded Theory (vgl. Grittmann 2018) und verbindet dies mit interdisziplinären Bildzugängen, um die Bedeutung historisch gewachsener medienkultureller Ordnungen für aktuelle Reproduktionsdiskurse herauszuarbeiten (vgl. Lobinger 2012: 39). Ergebnis ist die Systematisierung von vier transnational etablierten Bildtypen, die als visueller Ausdruck der Proteste zwei zentralen Mustern folgen: der Darstellung als Symbol des Lebens und der Inszenierung als Mordopfer. Beide operieren mit Variationen visueller Evidenz und Vulnerabilität, um das Ungeborene als schutzbedürftiges Subjekt zu inszenieren und den gesellschaftlichen Status quo zu kritisieren. Die Studie leistet einen Beitrag zur Rolle umstrittener Bilder in globalisierten Diskursarenen und zu den Politiken des Sichtbarmachens im digitalen Raum (vgl. Šuber 2018).
Gore Content und refigurierte Ethik: Zwischen moderner Ordnung und postmoderner Ambivalenz
Ekkehard Coenen
Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät Medien, Deutschland
Gore Content – Fotografien und Videos extremer Gewalt – zählt wohl zu den umstrittensten Bildformen digitaler Öffentlichkeiten. Der Vortrag analysiert, wie diese Bilder zirkulieren, diskutiert und reguliert werden, und welche ethischen Spannungen sich daraus ergeben. Ausgangspunkt ist eine internetethnographische Untersuchung zur kommunikativen Konstruktion des Tötens.
Im Fokus steht der Umgang mit diesen Bildern, die weder im Journalismus noch in den sozialen Netzwerken einheitlich bewertet werden – sie sind zugleich Faszinosum, Tabubruch und Dokument. Während klassische Gewaltbilder (z. B. aus Kriegsberichterstattung) historisch über institutionelle Filter und ethische Kodizes geregelt wurden, bricht der digitale Medienwandel diese Ordnung auf: Soziale Netzwerke, algorithmisch gesteuerte Sichtbarkeiten und Gore-Plattformen bringen neue Formen moralischer Uneindeutigkeit hervor.
Dieser Wandel lässt sich als Übergang von einer »modernen« zu einer »postmodernen Ethik« (Bauman) verstehen: Während erstere auf universalistische Regeln setzte, ist letztere durch Ambivalenz, Unsicherheit und individuelle Entscheidungslast geprägt. Die Einzelnen werden mit moralischen Dilemmata konfrontiert, ohne auf allgemein akzeptierte Orientierungsmuster zurückgreifen zu können. Plattformen schwanken zwischen Regulierung und laissez-faire und Content Moderator*innen agieren unter prekären Bedingungen an der Grenze zwischen Schutz und Zensur.
Der Vortrag leistet einen Beitrag zur weiter gefassten Debatte über ›umstrittene Bilder‹, indem er die These einer refigurierten Ethik fruchtbar macht: Die Moderne und ihre Wertemaßstäbe werden nicht einfach durch eine neue Ordnung ersetzt, sondern in unterschiedlichen medialen Räumen pluralisiert und überlagert. In diesem Spannungsfeld entstehen widersprüchliche Geltungsordnungen für Gewaltbilder, die situativ verhandelt werden – etwa zwischen journalistischer Ethik, staatlicher Regulierung, netzbasierter Subkultur oder digitaler Alltagskommunikation.
Zugleich liegt der Mehrwert dieses Beitrags darin, dass er nicht nur moralische Bewertungen von Gewaltbildern beschreibt, sondern sie in den Kontext sich wandelnder gesellschaftlicher Figurationen und deren medialer Infrastrukturen einordnet. Gore Content wird damit zum analytischen Brennglas für die Frage, wie sich Ethik im Zeitalter der digitalen Bilderflut neu formiert.
Nicht-Mehr und Noch-Nicht: Bilder erzählen
Christina Schachtner
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Österreich
Es geht um Bilder, die Hoffnungen, Sehnsüchte, Verunsicherung, Ambivalenz zum Ausdruck bringen. Diese Bilder stammen aus zwei eigenen empirischen Untersuchungen („Transnational leben“ und „Die dinglich-mediale Welt von Migrant*innen“), in denen Migrant*innen gebeten wurden, ein Bild zu zeichnen, in dem sie sich ins Verhältnis zu ihrer Lebenssituation bzw. zu ihnen wichtigen Dingen setzen. Die vorliegenden Bilder knüpfen an dem Untertitel „Realität(en) in Transition“ an. Die Botschaft dieser Bilder bewegt sich zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht, sie symbolisieren ein Dazwischen, ein umstrittenes Dazwischen. Die Schwerpunkte werden teils auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart oder die Zukunft gelegt. Sie repräsentieren ein Leben im Fluss.
Die Funktion dieser Bilder besteht darin, dass sie einen Durchbruch zu Räumen der Wahrnehmung und Erkenntnis eröffnen, die der Sprache entzogen sind, aber sprachlich eingeholt werden können. Die Realität des Übergangs wird im Bild neu und anders zur Verfügung gestellt. Obschon diese Bilder individuelle Erfahrungs- und Handlungsfacetten verkörpern, haben sie zeitdiagnostische Bedeutung. Sie sind eingelagert „in das Kollektivgebilde der sozialen Wirklichkeit“ einer transnationalen Lebensgestaltung, mit der sich eine neue Normalität in Migrationsgesellschaften ankündigt.
Umstritten sind diese Bilder insofern, als sie im Widerspruch zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen stehen. Sie visualisieren eine Wirklichkeit, die von Hybridität, Uneindeutigkeit, Vielheit, Mehrheimischsein gekennzeichnet ist und zu einem Lebens- und Gesellschaftsmodell kontrastiert, das auf Homogenität und ethnische Reinheit setzt. Neben Positionen in Migrationsgesellschaften, die in der Vielheit eine soziale Bereicherung sehen, existieren gegensätzliche Positionen, die aus der Perspektive des Othering das Hybride ignorieren, abwerten, zum Unerwünschten erklären.
Der Schwerpunkt des Beitrags soll auf der Darstellung unterschiedlicher Erlebens- und Handlungsformen in der Auseinandersetzung mit einer Lebenssituation des Übergangs stehen, ohne diese losgelöst von globalen Trends der Gegenwartsgesellschaft zu sehen. Zugleich soll mit den Visualisierungen eine Forschungsmethode vorgestellt werden, deren Erkenntniswert verbal basierte Forschungsinstrumente ergänzt, relativiert, differenziert
Brandbilder und Climate Visuals. Umstrittene Bilder im Klimakonflikt
Marie Rosenkranz
Humboldt-Universität Berlin, Deutschland
Wenig soziale Konflikte sind so schwer darstellbar wie der Streit um den Klimawandel. Dennoch sind Bilder zentrale Werkzeuge der Klimakommunikation (Schneider 2018). Denn Bilder affizieren, und sie vermitteln, was anderswo geschieht – ihnen kommt die Funktion zu, globales Geschehen wahrnehmbar zu machen (Horn 2024). Dennoch ist umstritten, wie sich der Klimawandel eigentlich zeigt. Dies lässt sich an den Deutungsstreits über die Abbilder der global vermehrt auftretenden Brände erkennen. Nicht alle Medien ordneten etwa die jüngsten Brände in Kalifornien in eine klimapolitische Krisensituation ein. Offenbar erzeugten deren Bilder derart starke negative Gefühle – Wut, Trauer, Scham und Schuld – dass sie auch Praktiken der Leugnung und Gegenwehr mit sich brachten.
Akteure der Klimakommunikation – wie etwa die britische Initiative Climate Outreach – kennen und navigieren diese Deutungsstreits. Sie suchen daher nach Abbildern des Klimawandels, die wenig polarisieren, und welche die Rezipient*innen zwar alarmieren, sie dabei aber nicht in Schockstarre versetzen. Aktivist*innen verwenden visuelles Material, das mahnen, aber auch positive Gefühle, wie Zusammenhalt, Hoffnung und Tatendrang erzeugen soll.
Mein Vortrag untersucht, welche Rolle Bildern im Streit um angemessene Gefühle und Reaktionen auf den Klimawandel zukommt. Dabei richte ich im ersten Teil den Fokus auf Bilder der Brände in Kalifornien. Diese lösten nicht nur bei den lokal Betroffenen Wut und Trauer aus, sondern sie strahlten auch aus in (digitale) Medienöffentlichkeiten. Im zweiten Teil des Vortrags untersuche ich die Bildstrategien aktivistischer Akteure am Beispiel der Initiative Climate Outreach, die ein Bildarchiv und eine Handreichung zu aktivierenden „Climate Visuals“ publizierte.
Zwischen Krise und Normalität - Umstrittene Bilder in gesellschaftlichen Krisendiskursen
Pauline Dunkel
Technische Universität Dresden, Deutschland
Überfüllte Schlauchboote und Menschen in heruntergekommenen Zelten, Waldbrände und Überflutungen, sich die Haare raufende Männer in Kombination mit Dax-Kurvenverläufen; denkt man an Krisen, geht damit zeitgleich die Assoziation ganz bestimmter Bilder einher. Im öffentlichen Ringen um eine selbstreflexive gesellschaftliche Zustandsbeschreibung als krisenhaft kommt diesen eine herausragende Rolle zu.
Besonders anhand sogenannter ikonischer Krisenbilder werden dabei soziale Grenzen des Zeig- und Sagbaren ausgelotet. Ein prominentes Beispiel ist das Bild auf dem der ertrunkene Junge am Strand (Alan Kurdi) zu sehen ist: Einige Nachrichtenmedien entschieden sich explizit gegen das Zeigen des Fotos, während sich andere zur Publikation des Bildes als Dokument der Zeitgeschichte verpflichtet sahen. Aber auch abseits einzelner Krisenikonen, sind es massenmediale Krisendarstellungen, die in vielerlei Hinsicht als umstritten bezeichnet werden können. So werden u.a. verschiedene (Krisen-)Betroffenheiten in und um diese Bilder verhandelt. Vermutet werden kann, dass das Umstrittene mit der diskursiven kriseninhärenten Re-/Produktion spezifischer normativer Vorstellungen von Normalität in einem Zusammenhang steht, welche in diesen Krisenbildern konstruiert werden.
Vor diesem Hintergrund geht der geplante Beitrag auf empirischer und theoretischer Ebene der Frage nach, welche verschiedenen Dimensionen des Umstrittenen sich in und um Krisenbilder rekonstruieren lassen. Es soll exploriert werden, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Ikonizitätsgraden und dem Umstrittenen in diesen Bildern besteht. Und: Welche Erkenntnisse können daraus über gesellschaftliche Wissensstrukturen im Hinblick auf Krisen- und Normalitätskonstruktionen gewonnen werden?
Das empirische Material besteht aus Bildern zeitgenössischer Krisendiskurse (Corona-Krise, Finanzkrise, „Flüchtlingskrise“ und Klimakrise) in Online-Nachrichtenmedien, welche u.a. mit einem an Roland Barthes angelehnten Verfahren struktural analysiert werden. Darüber hinaus werden Ergebnisse aus Interviews mit Bildredakteur:innen verschiedener Online-Nachrichtenmedien einbezogen.
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