Analysepotenziale ländlicher Räume mit dem Mikrozensus Scientific Use File
Natalie Backes
GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Deutschland
Der Mikrozensus ist die größte amtliche Haushaltsbefragung in Deutschland und steht beginnend mit dem Erhebungsjahr 1973 als Scientific Use File (SUF) als einzigartige Datenbasis zur Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen zur Verfügung (Destatis & GESIS, 2021). Auch ohne kleinräumige Georeferenzierung enthält das Mikrozensus SUF regionalspezifische Angaben anhand derer Haushalte in ländlichen Räumen identifiziert werden können. So können beispielsweise Gemeinden mit weniger als 5.000 oder weniger als 20.000 Einwohner*innen als ländliche Kontexte abgegrenzt und ihre langfristigen Wandlungsprozesse im Rahmen querschnittlicher Trendanalysen untersucht werden.
Der Mikrozensus bietet ein breites Themenspektrum insbesondere in den Bereichen Demografie, Haushaltsstrukturen und Erwerbsverläufen. Ergänzt wird dies durch wechselnde Zusatzmodule, etwa zu Pendelverhalten, Wohnen oder Gesundheit. Durch den hohen Auswahlsatz (1% der deutschen Wohnbevölkerung) und die gesetzliche Teilnahmepflicht werden hohe Fallzahlen erzielt und systematische Ausfälle durch Unit- oder Item-Nonresponse reduziert. Dadurch eignet sich das SUF besonders für spezifische und differenzierte Gruppenvergleiche und Analysen multipler gesellschaftlicher Transformationen.
Neben langfristigen allgemein Trends im ländlichen Raum erlaubt das SUF zudem die Analyse kurzfristiger Wandlungsprozesse innerhalb derselben Nachbarschaften. Die Erhebung erfolgt als Klumpenstichprobe, bei der benachbarte Haushalte befragt werden. Diese regionalen Klumpen können als kleinräumige Raumaggregate verwendet werden. In Kombination mit der Panelstruktur liegen Informationen aus bis zu vier aufeinander folgenden Erhebungsjahren vor, wodurch dynamische Prozesse innerhalb dieser Aggregate erfasst werden können (Herter-Eschweiler & Schimpl-Neimanns, 2018). So können beispielsweise Muster ethnischer und sozialer Segregation identifiziert und deren zeitliche Veränderungen untersucht und damit Wandlungsprozesse in peripheren Räumen sichtbar gemacht werden.
Der Beitrag beleuchtet die Potenziale und Herausforderungen des Mikrozensus SUF für die Analyse ländlicher Räume und illustriert diese exemplarisch anhand der Entwicklung von Fertilität und weiterer Indikatoren. Im Fokus stehen dabei die Differenzierung sozialer Gruppen sowie die langfristige Betrachtung von Disparitäten zwischen urbanen und ländlichen Regionen.
Babyboomer in ländlichen Räumen – Hohes Wohlbefinden bei wachsenden Herausforderungen
Annette Spellerberg, Andreas Hartung
RPTU Kaiserslautern-Landau, Deutschland
Die demografische Alterung betrifft alle Siedlungsräume, die ländlichen Räume jedoch in besonde-rem Maße. Die geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ (1955 bis 1969) stellen 26 % der Be-völkerung in ländlichen Räumen (21 % im Bundesdurchschnitt); sie werden bis 2035 in den Ruhe-stand gehen (BBSR 2024). Mit dem sukzessiven Wegfall von Familien- und Erwerbsarbeit gewinnen Freizeit, Wohnen und Wohnumfeld für die individuelle Lebensqualität an Bedeutung, wobei das Wohnumfeld unterschiedliche Freizeit- und Versorgungsmöglichkeiten bereithält. Ziel ist es, auf der Basis kleinräumiger Daten das Spannungsfeld zwischen hoher Wohnzufriedenheit, Immobilität und gleichzeitigen Defiziten der Wohnung und des Wohnumfeldes zu beleuchten.
Methode: Auswertungen a) des Sozio-oekonomischen Panels zu Wohnverhältnissen und Zufrie-denheiten mit dem Wohnumfeld; b) einer eigenen repräsentativen Befragung von Babyboomern in sieben Modellkommunen, davon zwei in ländlichen Gemeinden (Kusel-Altenglan in RLP und das Geisaer Land in Thüringen) sowie c) Kombination der eigenen Befragung mit Erreichbarkeitsmodel-lierungen auf Basis von OpenStreetMap.
Ausgewählte Ergebnisse: Die Babyboomer auf dem Land wohnen in West- wie in Ostdeutschland überwiegend im Eigentum (73 % und 61 % (!); SOEP 2022). Eigentümer:innen ziehen kaum und Mie-ter:innen selten um, so dass das Altern der Person selbst und das Altern ihrer Wohnung parallel verlaufen. 30 % der deutschen Babyboomer geben an, dass ihr Haus zumindest teilweise renovie-rungsbedürftig ist. Babyboomer im ländlichen Raum sind mit ihrer Freizeit unzufriedener als Baby-boomer in suburbanen und städtischen Wohngebieten. Lediglich etwa ein Viertel erreichen fußläu-fig Geschäfte des täglichen Bedarfs, etwa jeweils ein Drittel einen gastronomischen Betrieb oder eine Bank/Zugang zu Bargeld.
Transfer: Die große Kohorte der Babyboomer führt insbesondere in ländlichen Räumen zu Heraus-forderungen. Der innere Leerstand und Leerstand ganzer Gebäude sind absehbar, ebenso wie Ver-sorgungsdefizite der alternden Bevölkerung, die zugleich ein hohes subjektives Wohlbefinden auf-weist. Ein Mix aus sozialen, organisatorischen und technologischen Innovationen wird erforderlich sein, um angemessene Wohn- und Wohnumfeldbedingungen (gemeinsam mit den Babyboomern) zu entwickeln.
Das FGZ-Regionalpanel: Eine quantitative Tiefenbohrung zu Infrastrukturen als Unterbau des sozialen Zusammenhalts
Ina Mayer1, Andrea Hense1,2, Jakob Hartl1,3
1Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ); 2SOFI Göttingen; 3Universität Halle-Wittenberg
Der Zusammenhang zwischen Deinfrastrukturalisierung und sozialem Zusammenhalt gilt als etablierter Fakt und zugleich als virulentes – gerade wiederentdecktes – politisches Problem: Der demographische Wandel und negative Wanderungsbilanzen führen zu einer Ausdünnung ländlicher Räume während urbane (sub-/periurbane) Räume wachsen. Diese Schrumpfung geht mit dem Rückzug sozialer Infrastrukturen und dem Rückbau öffentlicher Daseinsvorsorge einher, was die Teilhabe gefährdet und Gefühle des Abgehängtseins verstärkt. All dies fordert den sozialen Zusammenhalts heraus, wovon antidemokratische Kräfte profitieren.
Wir werden zum einen das quantitative Regionalpanel des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) als neue Datenquelle zur regionalen Sozialberichterstattung vorstellen, die bereits sekundäranalytisch genutzt werden kann. Das Panel erhob 2021, 2023 und 2025 in je einer Großstadt, einer Mittelstadt und einer Gemeinde im ländlichen Raum in vier deutschen Bundesländern georeferenzierbare Daten (12 Erhebungsorte; n1=11.034; n2=6.592; Welle 3 läuft im April 2025). Es enthält u.a. Daten zur Infrastrukturausstattung, Lebenszufriedenheit, Nachbarschaft und Wahrnehmung des Zusammenhalts vor Ort und in Deutschland. Die Befragungsdaten lassen sich mit Kontextdaten wie Wanderungs- oder Wirtschaftsdaten verbinden. Wir werden unser Erfahrungswissen aus drei Wellen Regionalpanel teilen, spezifische Herausforderungen bei der Kooperation mit ländlichen Kommunen reflektieren sowie Verknüpfungsmöglichkeiten mit anderen Datenquellen erläutern.
Zum anderen bieten wir einen Einblick in vielfältige Auswertungsmöglichkeiten. Wir stellen Analysen zum Zusammenhang zwischen sozialem Zusammenhalt und lokaler Daseinsvorsorge vor und nutzen unsere Längsschnittdaten, um Dynamiken auf der individuellen wie Kontextebene zu erfassen. Ferner werfen wir kurze Schlaglichter auf erfolgte Analysen, wie Topic-Modell Analysen von offenen Angaben zu den größten Herausforderungen für die Stadtentwicklung oder zum Zusammenhang vom Konsum von Regionalmedien und der Wahrnehmung von Zusammenhalt vor Ort. Ersteres ist auch ein Beispiel für Kooperations- und Transfermöglichkeiten für strukturschwache Gemeinden.
Im Ausblick geben wir Informationen zu den Folgewellen des FGZ-Regionalpanels sowie qualitativen Analysen, mit denen wir in Zukunft Mixed Methods Analysen durchführen werden.
Belebte Karten – eine mixed-methods Perspektive auf die Kartierung von Daseinsvorsorge in ländlichen Transformationsräumen
Alexander Elsner
Brandenburgische Technische Universität Cottbus - Senftenberg, Deutschland
Im mFUND-Projekt Lieferroboter für die ländliche Lausitz - 3L (2024–2027) erforschen Ingenieur:innen und Informatiker:innen gemeinsam mit Sozialwissenschaftler:innen an der BTU Cottbus-Senftenberg und der TUBAF Freiberg Szenarien der Implementierung von Lieferrobotern im ländlichen Raum. Ziel ist es, technologische Innovationen mit den sozialen Realitäten peripherer Räume zu verschränken und neue Wege der Daseinsvorsorge unter Bedingungen des demografischen und infrastrukturellen Wandels zu entwickeln.
Ein zentrales Element des Projekts ist die Orientierung der Projektentwicklung sowohl an den Bedingungen vor Ort und den daraus resultierenden Bedarfen, die durch die Bevölkerung vor Ort benannt und analysiert werden. Dieses Vorgehen wird unterstützt durch die Entwicklung einer dynamischen Regionalkarte, die unterschiedliche Datenquellen miteinander kombiniert – darunter Isochronenkarten zur Erreichbarkeit zentraler Orte, INKAR-Indikatoren zur Versorgungslage, offene Geodaten sowie qualitative, partizipativ erhobene Alltagserfahrungen. Diese mehrdimensionale Kartierung erlaubt es, nicht nur technische Infrastrukturen, sondern auch sozialräumliche Disparitäten, alltägliche Bewegungsmuster und implizite Versorgungsnetzwerke sichtbar zu machen.
Im Vortrag wird gezeigt, wie die Karte nicht als bloßes Analyseinstrument, sondern als sozio-technisches Werkzeug im Forschungsprozess fungiert: Sie dient der Validierung sozialer Indikatoren durch Praxiswissen, ermöglicht eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Versorgungsmodellen im ländlichen Raum und macht Ungleichheitsverhältnisse zwischen formeller und gelebter Daseinsvorsorge sichtbar. Damit kann das Projekt einen Beitrag leisten, zur methodischen Weiterentwicklung indikatorengestützter Erforschung sozialer Parameter im ländlichen Raum und zur Integration qualitativer Daten in raumbezogene Analysen.
Pro und Contra einer Sozialberichterstattung für ländliche Räume
Annett Steinführer1,2
1Johann Heinrich von Thünen-Institut; 2Universität Rostock
Das wissenschaftliche Interesse an ländlichen Räumen, den dort lebenden Menschen sowie deren Wahrnehmungen und Handlungsentscheidungen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Auch die Datenlage hat sich verbreitert: Mittlerweile gibt es in Deutschland und in der Europäischen Union mehrere Indikatorensysteme, die auf Daten der amtlichen Statistik basieren, ebenso wie eine Vielzahl von Bevölkerungsbefragungen, die bereits für Fragen der ländlichen Sozialforschung genutzt werden oder eine solche Sekundärverwendung zumindest ermöglichen.
Eine systematische Sozialberichterstattung über ländliche Räume bzw. eine auf konzeptioneller Grundlage ausgearbeitete Sozialindikatorik steht hingegen aus. Traditionell war nicht nur die Soziologie als Fach insgesamt relativ raumblind, sondern auch die Sozialindikatorenforschung hat sich mit Ausnahme von Arbeiten über regionale Disparitäten nur wenig mit der räumlichen Dimension sozialer und ökonomischer Unterschiede und Ungleichheiten befasst. Dies gilt insbesondere für kleinräumige Analysen. Nun lässt sich zu Recht die Frage stellen, ob eine solche Sozialberichterstattung für (bzw. über) ländliche Räume einerseits notwendig und andererseits wünschenswert ist – und zugleich müssen diese beiden Fragen aus soziologisch-fachdisziplinärer Sicht und aus Perspektive von Stakeholdern der ländlichen Entwicklung nicht notwendigerweise identisch beantwortet werden.
Aus wissenschaftlicher Perspektive ist einerseits ein Bedarf an einer Differenzierung raumbezogener Aussagen über „das Land“ oder „die Menschen im ländlichen Raum“, die nicht nur in den Medien weitverbreitet sind, zu konstatieren. Andererseits ist auf einen anhaltenden großstädtischen Wissensvorsprung zu verweisen, denn Datenbanken wie die Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR oder das europäische Urban Audit enthalten mittlerweile eine große Vielzahl und Differenziertheit an großstadtbezogenen Daten, die für ländliche Räume in vergleichbarer Form nicht verfügbar sind. Zugleich aber birgt eine eigenständige Sozialberichterstattung für ländliche Räume die Gefahr einer Wiederbelebung der doch längst vergangen geglaubten Stadt-Land-Dichotomie, die nicht nur die Komplexität der sozialen Welt reduziert, sondern raumbezogene Stereotypen gerade nicht beseitigt.
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