Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
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Sitzungsübersicht
Sitzung
Sek17: Sektion Kultursoziologie: "Aufbruch, Metamorphose, Untergang, Semantiken gesellschaftlicher Übergänge"
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Oliver Berli, PH Ludwigsburg
Chair der Sitzung: Heike Delitz, Universität Regensburg
Chair der Sitzung: Lars Gertenbach, Universität Osnabrück
Chair der Sitzung: Uta Karstein, Universität Leipzig
Chair der Sitzung: Andreas Ziemann, Bauhaus-Universität Weimar
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Von Zeitenwenden und persönlichen Wandlungen. Motive der Umkehr und Abkehr in der Gegenwart

Julian Müller

Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland

Als im Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, reagierten deutsche Politiker:innen fassungslos. Außenministerin Annalena Baerbock gab zu Protokoll, „am Morgen in einer anderen Welt aufgewacht“ zu sein; und Bundeskanzler Olaf Scholz rief seinerseits den Bundestag zusammen, um in seiner Regierungserklärung von einer „Zeitenwende“ zu sprechen. Die Welt sei nun eine andere als zuvor, ein Umdenken sei unumgänglich. Seither konnte man wiederholt von weiteren Zeitenwenden hören, etwa wenn es darum ging, dem Zusammenbruch des transatlantischen Bündnisses oder der Wehrlosigkeit postheroischer Gesellschaften etwas entgegenzusetzen. Die Gegenwart scheint in hohem Maße dadurch gekennzeichnet zu sein, eigenen Gewissheiten zu misstrauen und mit Befremden auf ihre eigene Vergangenheit zurückzublicken. Derartige kollektive Transitionserfahrungen haben auch eine Entsprechung auf individueller Ebene. Ob auf dem Buchmarkt, in den Sozialen Medien oder neuerdings in Podcasts, an ganz unterschiedlichen Stellen kann man derzeit auf Berichte der persönlichen Abkehr und Umkehr stoßen. Derartige Konversionserzählungen erleben gegenwärtig eine erstaunliche Konjunktur. Ganz gleich, ob es sich um die Abkehr von bestimmten Praktiken und Produkten (Fleisch, Plastik, Alkohol, Pornographie), um den Abbruch von klassischen Berufskarrieren oder den Wechsel des politischen Lagers handelt, Biographien werden derzeit nicht selten über eine radikale persönliche Umkehr und den ostentativen Bruch mit der eigenen Vergangenheit erzählt. Der Vortrag will daher vergleichend kollektive und individuelle Erzählungen der Abkehr und Umkehr in den Blick nehmen, in denen sich narrative Muster ausmachen lassen, die aus dem Bereich der Religion (Apostasie, Metanoia, Konversion) bzw. des Dramas (Peripetie) bekannt sind. Der Vortrag verbindet einen kultursoziologischen Zugang mit Anregungen aus der Religionssoziologie, der Erzähltheorie und der Biographieforschung.



Zum Begriff des Prozesses: Elemente einer posthumanen Prozesssoziologie

Nadine Klopf

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland

Dieser Beitrag entwickelt Elemente einer posthumanen Prozesssoziologie, die den Begriff des Prozesses mit Rückgriff auf die prozessphilosophischen Arbeiten von Gilles Deleuze und Henri Bergson neu bestimmt. Dadurch lassen sich Transitionen jenseits linearer Zeitvorstellungen und anthropozentrischer Kategorien konzeptuell fassen. Im Zentrum steht ein prozessuales Verständnis gesellschaftlicher Formationsweisen, in dem Übergänge nicht als bloße Zustandswechsel, sondern als dauerhafte Differenzierungsprozesse verstanden werden. Wenngleich figurations- und prozesssoziologische Arbeiten soziale Interdependenz und die Historizität gesellschaftlicher Formationen anerkennen, verbleiben sie doch häufig in einem linearen Zeitverständnis. Demgegenüber entwirft dieser Beitrag eine von Gilles Deleuze und Henri Bergson inspirierte Prozesssoziologie, die Prozess als Deleuze’sches Ereignis versteht, das durch Dauerhaftigkeit geprägt ist. Gesellschaftliche Transitionen werden dabei nicht als Zustandswechsel gedacht, sondern als Ausdruck einer immer schon prozessual strukturierten Gesellschaft verstanden. In diesem Rahmen wird auch die gängige Übergangssemantik – etwa in Begriffen wie Krise, Zeitenwende oder Transformation – als kontingente Form der Bedeutungsfixierung analysierbar.



Gefährliche Übergänge: Kriminalität, Degeneration und Diskurs des „kriminellen Menschen“ im 19. Jahrhundert

Abdullah Enes Özel

Universität Yalova, Türkei

Einer der klassischen gotischen Romane des 19. Jahrhunderts, “Dr. Jekyll und Mr. Hyde”, erzählt die Geschichte einer gefährlichen Transition. Es ist, wie bekannt, die Geschichte von Dr. Jekyll, einem angesehenen Arzt der oberen Mittelschicht, der durch seine eigenen chemischen Mischungen das Monster in sich hervorbringt – in der verzerrten, unheimlichen Gestalt eines anderen Menschen. Letztendlich endet die Geschichte damit, dass Dr. Jekyll selbst zum Opfer der Gestalt wird, in die er sich verwandelt. Unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem der Roman entsteht, lassen sich die wiederholten und zunehmend unkontrollierbaren Übergänge zwischen Jekyll und Hyde auch als das Sinnbild einer Bedrohung interpretieren, das über das individuelle Schicksal hinausweist und kollektive Ängste artikuliert – insbesondere die Angst der viktorianischen Gesellschaft vor Kriminalität, den Unterschichten und, mehr noch, vor der Degeneration als einer Form der unkontrollierten Transition und Transformation. Diese Ängste stehen in enger Verbindung mit einem pseudowissenschaftlichen „kriminologischen“ Diskurs derselben Zeit, der sich ausschließlich um die Figur des „kriminellen Menschen“ drehte und düstere Visionen bösartiger biologischer Gesetze verkörperte - Gesetze, die dem gesellschaftlichen „Fortschritt“ entgegenwirken und optimistische Vorstellungen gesellschaftlicher Evolution untergraben. Dieser Diskurs durchzog ein breites Spektrum an Disziplinen – von der Medizin über die Psychiatrie bis hin zur Rechtswissenschaft, Anthropologie und Soziologie. Sein zentrales Objekt war die Figur des „Verbrechers“, der als eigenständige, von der „Normalität“ unterscheidbare Spezies betrachtet wurde. Mr. Hyde wird im Roman nicht nur gemäß diesem „kriminologischen“ Diskurs typisiert, sondern steht symbolisch für all jene verborgenen individuellen und gesellschaftlichen Transformations- und Transitionsgefahren, die unter der Oberfläche lauern. Angesichts der sich häufenden gegenwärtigen Vorstellungen von Verfall – kulturellem, demographischem, ökonomischem und anderem – erscheint es umso bedeutsamer, über die historische Idee der Degeneration erneut zu reflektieren. Diese Präsentation verfolgt anhand des genannten Romans die Semantik der Degeneration im 19. Jahrhundert und untersucht, wie diese mit dem pseudowissenschaftlichen Diskurs über den „kriminellen Menschen“ verknüpft war.



Umwälzung ohne Fortschritt. Bürgerkriegssemantiken in der Gegenwart

Lukas Potsch

Philipps-Universität Marburg, Deutschland

„Civil War is inevitable“ schrieb Elon Musk auf X während der rechtsradikalen Pogrome in England 2024. Man könnte das als Einzelmeinung abtun, würden sich ähnliche Einschätzungen nicht häufen: Am „Sturm auf das Kapitol“ Beteiligte trugen T-Shirts mit der Aufschrift „MAGA Civil War January 6, 2021“, die deutsche Neue Rechte sieht sich schon lange im „Vorbürgerkrieg“ und Bruno Latour beschrieb die Situation zwischen Erdverbundenen und Klimaskeptiker:innen als „civil war“. Gemein ist solchen Aussagen, dass der Bürgerkrieg als Transitionsbegriff fungiert: Er deutet Umwälzungen an, die sich mindestens konflikthaft, wenn nicht kriegerisch vollziehen und zu einer nicht zwingend besseren, aber doch veränderten oder geklärten Lage nach einer Krise führen.

Um solche Bürgerkriegssemantiken zu erklären, wendet sich der Beitrag zunächst der Diskursgeschichte des modernen Bürgerkriegsbegriffs zu. Aufschlussreich ist dabei das Zusammenspiel zwischen ‚Bürgerkrieg‘ und ‚Revolution‘, das sich im Rückgriff auf begriffsgeschichtliche Arbeiten Reinhart Kosellecks rekonstruieren lässt: Der früh-moderne Bürgerkriegsbegriff wird als Gegensatz zur staatlichen Ordnung geprägt. Im Laufe der „Sattelzeit“ und der Öffnung des Zeithorizonts durch die Vorstellung eines geschichtlichen Fortschritts amalgamierte er sich mit dem Revolutionsbegriff. Schwindet der Glaube an den Fortschritt, dann kann sich der Bürgerkrieg wieder aus dem Konzept der Revolution lösen und als Quelle vitalistischer Kraftsteigerung als Selbstzweck erscheinen.

Auch die aktuellen Bürgerkriegssemantiken, so die gegenwartsdiagnostische These des Beitrags, sollten als Symptom fragwürdig gewordener Fortschrittsnarrative interpretiert werden: Die Verwendung des Bürgerkriegsbegriffs zeigt dann – etwa im Vergleich zum Revolutionsbegriff – eine Fokusverschiebung vom zukünftigen (besseren) Zustand hin zur friktionsreichen Transition selbst an; und anders als etwa ‚Zeitenwende‘ betont ‚Bürgerkrieg‘ die Agonalität des Übergangs, weil er in der westlichen Kulturgeschichte als Chiffre für Grausamkeit steht. Zugleich lässt sich ein breites Spektrum an Affekten aufrufen: Die Hoffnung auf eine Veränderung bei gleichzeitigem (mehr oder weniger explizit gemachten) Zweifel daran, dass sie zum Besseren führen muss, die Sorge um die Integration von Gesellschaften und die kaum verhohlene Vorfreude auf Gewalt.



Zwischen coolness und Nervosität: Zur affektiven Ambivalenz in Niklas Luhmanns Evolutionstheorie

Ole Bogner1, Leon Wolff2

1Goethe Universität Frankfurt am Main, Deutschland; 2Philipps Universität Marburg

In diesem Vortrag diskutieren wir die politische Konnotation und affektive Dynamik des Evolutionsbegriffs. Dafür konzentrieren wir uns auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in welcher der Evolutionsbegriff eine umfangreiche und einflussreiche Durcharbeitung erfahren hat. Das tun wir in zwei Schritten. Zunächst rekonstruieren wir, wie Luhmann den Evolutionsbegriff als dezidiert a-politische Erklärung sozialen Wandels konzipiert. Wir zeigen, wie Luhmann Darwins Begriff der Evolution im Lichte der biologischen Diskussion seiner Zeit modifiziert und auf die begriffliche Trias Variation, Selektion und Restabilisierung umstellt. Mit dieser Theoriefigur beschreibt er in paradoxer Weise die „extrem konservative eingestellt[e]“ (Luhmann 2021, S. 463) soziale Wirklichkeit im Modi ihrer permanenten Unruhe, die durch kommunikative Variationen und Umweltirritationen sowie Selektionsdruck perpetuiert wird.

In einem zweiten Schritt zeigen wir, wie die evolutionstheoretische Fassung des sozialen Wandels in den Texten Luhmanns eine affektive Ambivalenz entfaltet. Einerseits setzt er gegen die Diagnose einer umfassenden Krise der Gesellschaft auf die kühle Beobachtung der endogenen Nervosität sozialer Systeme. Der Evolutionsbegriff erlaubt es Luhmann, der Unruhe der Gesellschaft eine demonstrative Gelassenheit entgegenzusetzen, bis hin zum nüchtern-fatalistischen Spiel mit der Apokalypse – verstanden als Ende der Autopoiesis. Nervös, das sind aus dieser Perspektive immer die anderen.

Vor diesem Hintergrund fungiert der Evolutionsbegriff in den Schriften Luhmanns immer auch als eine Technologie der Entpolitisierung. Die Krise wird nicht nur normalisiert und außerhalb politischer Steuerung platziert. Vielmehr gilt die eigentliche Sorge der „großen Geste“ (Nassehi 2024), die achtlos im fragilen ökologischen Netz der funktional differenzierten Gesellschaft wütet. Im letzten Teil des Vortrags diskutieren wir einerseits das heuristische Potenzial dieser beruhigenden Theorietechnik und stellen andererseits heraus, dass auch in dieser theoretischen Position eine Affektpolitik angelegt ist.



 
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