Sitzung | |
Sek10: Sektion Europasoziologie: "Aktuelle europasoziologische Forschungsprojekte"
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch., Meine Vortragssprache ist Englisch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Der Vortrag "Towards a European literary field? Structures, Processes, and Networks of Book Production and Translation in Europe" wird auf Englisch, alle anderen auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
„The struggle over borders“. Konflikte um Zuwanderung und europäische Integration zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Milieus in Europa? Universität Bremen/FGZ, Deutschland Im Zentrum des Diskurses um die Gefährdung des Zusammenhalts europäischer Gesellschaften steht die Diagnose einer sich verstärkenden Konfliktlinie zwischen kosmopolitischen Befürwortern und kommunitaristischen Gegnern der Europäisierung. Erste gelten als Gewinner, letztere als Verlierer von Transnationalisierungsprozessen – im Hinblick auf sozioökonomische Ressourcen sowie den kulturell-hegemonialen Diskurs. Der Befund einer Polarisierung in zwei Lager ist jedoch empirisch umstritten. Es wird angemahnt, eine Differenzierung soziokultureller Großgruppen vorzunehmen. Hierzu stützt man sich zumeist auf ein erweitertes Berufsklassenkonzept, das Einstellungsmuster auf unterschiedliche Arbeitslogiken zurückführt. Als Alternative gilt das Konzept sozialer Milieus als nicht auf den Arbeitskontext reduzierte, sondern lebensweltlich verankerte soziokulturelle Großgruppen mit den Dimensionen sozioökonomischer Ressourcen und kultureller Werte. Der Beitrag untersucht deshalb die Polarisierungsthese unter Verwendung des Konzepts sozialer Milieus. Dazu führen wir die in einem Bremer Projekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt etablierte Typologie sozialer Milieus, die BRISC-Milieus, in den Diskurs um politische Konfliktlinien in Europa ein. Anders als bei der bekanntesten Milieutypologie, den Sinus-Milieus®, sind die BRISC-Milieus mit öffentlichen Datensätzen reproduzierbar, die kulturellen Werte mit den allgemeinen Werten nach Schwartz (1992) umfänglicher erfasst und sozioökonomische Ressourcen explizit als Milieuindikatoren einbezogen. Mit Hilfe des European Social Survey (Round 11, 2023/24) und der Methode latenter Klassenanalyse werden Typologien sozialer Milieus in 24 europäischen Ländern identifiziert. Wir untersuchen für jedes Land, inwieweit sich die Einstellungen zur Zuwanderung sowie zur Europäischen Integration zwischen sozialen Milieus unterscheiden. Schließlich werden anhand explorativer Verfahren Konfigurationen von Ländern mit ähnlichen Milieustrukturen identifiziert. Zeigt sich in den untersuchten europäischen Ländern eine generalisierte, polarisierte Konfliktlinie zwischen großen kosmopolitischen und kommunitaristischen Milieus? Oder finden sich unterschiedliche „Milieuregime“ mit je eigenen Einstellungskonstellationen zwischen Milieus? Wo sind die Milieulandschaften fragmentiert und die Konfliktlinien unschärfer? Informelle Europäisierungs- und Integrationsprozesse in der Sozialpolitik: Neo-Institutionalismus als soziologischer Beitrag in der Europäisierungsforschung Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Deutschland Europäische Wohlfahrtssysteme besitzen eine starke nationalstaatliche Verankerung. Die Europäische Union (EU) hat ihre Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahrzehnten jedoch schrittweise mit einer sozialen Dimension flankiert. Aufgrund der europäischen Wirtschaftsintegration müssen sozialpolitische Entscheidungen transnational koordiniert werden. Die soziale Absicherung von Arbeitnehmer*innen auf transnationalen Arbeitsmärkten stellt dabei einen besonderen Bereich dar, da sie nur auf transnationaler Ebene umgesetzt werden kann. Die durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie beschleunigten Prozesse der Flexibilisierung und Digitalisierung von Arbeit führt auch auf transnationalen Arbeitsmärkten zu einer Zunahme von Telearbeit. Die europäischen Regelungen zur sozialpolitischen Absicherung von Arbeiter*innen auf transnationalen Arbeitsmärkten waren aufgrund von Widersprüchen zwischen dieser Entwicklung und bestehenden Regelungen einem starken Transformationsdruck ausgesetzt. In der Folge wurde das „Framework Agreement on Cross-Border Telework“ erarbeitet und seit Juli 2023 von insgesamt 22 EU-Mitgliedsstaaten und Nicht-Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Aus einer empirischen Analyse der Daten zu zuständigen Institutionen der Unterzeichnerstaaten sowie der Aushandlungsprozesse des Framework Agreements geht hervor, dass die sozialpolitische Koordination auf transnationalen Arbeitsmärkten in einem institutionellen Netzwerk ausgehandelt wird. Es wird deutlich, dass bei sozialpolitischen Europäisierungs- und Integrationsprozesse nicht nur vertikale bottom-up- und top-down-Prozessen, sondern insbesondere informelle horizontale Prozesse abseits der großen politischen Arenen in den Blick genommen werden müssen. Mit Hilfe einer neo-institutionalistischen Perspektive werden institutionelle Netzwerke in das Zentrum sozialpolitischer Europäisierungs- und Integrationsprozesse gerückt und Analysen informeller Prozesse ermöglicht. Dieses Potential einer neo-institutionalistischen Perspektive auf sozialpolitische Europäisierungs- und Integrationsprozesse wird in dem Vortrag diskutiert. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welchen Beitrag die Soziologie im Bereich der Europäisierungsforschung leisten kann. Der Vortrag wird im Rahmen eines laufenden Dissertationsprojekts erarbeitet. Europa von unten. Europasoziologie als ethnographische Forschung Universität Kassel, Deutschland Der Beitrag plädiert dafür, die Europasoziologie an die anthropologische Haltung des going native zu koppeln. Die ethnographische Methode könnte die Ungleichheitsachsen, die den Sozialraum Europa durchziehen, in neuer Form greifbar machen. Dazu bedarf es erstens der kulturellen Immersion. Die Doppelgeste von Entfremdung aus dem einen Kontext und Immersion in einen anderen habe ich meiner Dissertation getätigt. Ein vierjähriger Aufenthalt in Barcelona samt einjähriger Ethnographie gestatte es, Spaniens Wirtschaftskrise als Gesellschaftskrise zu begreifen. Erst durch die Sensibilität für die mikroskopischen Verschiebungen des Commonsense ließ sich ein implizites Wissen darüber generieren, wie sich eine organische Krise (Gramsci) entfaltete. In der Habilitation geschieht das going native sowohl in Spanien durch mehrwöchige Ethnographien in Pflegeheimen (ab 2026) wie sur place durch Beobachtungen in deutschen Einrichtungen. Von den Ergebnissen der Pilotstudie eines Pflegeheims (Sept. 2024-Jan. 2025) berichtet der zweite Schritt. Diese Ethnographie zeigt, dass die interne Spaltung Europas (Boatcă), keine bloß kultursoziologische Beschreibung bleibt, sondern zur Realität des europäischen Care-Regimes geronnen ist. Ethnographische Vignetten versinnbildichen, dass vor allem osteuropäische Arbeitsmigrantinnen in Hilfstätigkeiten gefangen bleiben und somit einer orientalistischen Subjektposition entsprechen (als zärtliche, hart arbeitende und genügsame Osteuropäerin). Zugleich machen sich Osteuropäerinnen ein Leistungs- und Aufstiegsdenken zu eigen und gerieren sich als „Heldinnen“, die ein ramponiertes Pflegesystem aufrechterhalten. Drittens plädiere ich dafür, dass die Extended Case Method von Michael Burawoy auf methodischer Ebene eine Kontinuität zwischen ethnographischer Forschung und den makrologischen Anliegen der Europasoziologie stiftet. Die sozialen Praktiken, die ich in Dissertation wie Habilitation ethnographisch rekonstruiere, binde ich beide Male an übergeordnete Diskurse zurück. Die Ambition besteht darin, zu einem Panoramabild zu gelangen, das in die Tiefe wie in die Breite reicht, das latente soziale Praktiken wie übergeordnete Strukturen in den Fokus rückt und zueinander in Beziehung setzt. Was das praktisch heißt, eruiert der Ausblick: Das Beispiel der stationären Pflege könnte offenlegen, wie sich in Europa interne Peripherien herausbilden. Gleichstellung durch Quoten? Diskursive Konstruktionen von Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland und Spanien im europäischen Vergleich Europa-Universität Flensburg, Deutschland Trotz rechtlicher Gleichstellungsnormen und der langjährigen Integration von Gender Mainstreaming in europäische Politiken bleiben Frauen in Entscheidungspositionen auf Top-Ebene deutlich unterrepräsentiert. Diese „gläserne Decke“ zeigt sich sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der politischen Sphäre und ist aus Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit ebenso problematisch wie im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Zwar wurden auf EU-Ebene seit Amsterdam und Lissabon umfangreiche Gleichstellungsstrategien entwickelt, doch der Gender Equality Index (GEI) offenbart große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Ein aufschlussreicher Vergleich ergibt sich zwischen Deutschland und Spanien. Beide Länder haben gesetzliche Geschlechterquoten eingeführt – jedoch mit unterschiedlicher Priorisierung: Deutschland verabschiedete 2015 eine verbindliche 30 %-Quote für Aufsichtsräte großer Unternehmen, Spanien folgte erst 2024. Paradoxerweise gilt Spanien heute als Vorreiterin bei der Geschlechterparität. Bereits 2007 führte Spanien eine umfassende gesetzliche Parteienquote ein, die zu einem der weltweit geschlechtergerechtesten Parlamente beitrug – ein Schritt, der in Deutschland bisher weder mehrheitsfähig noch verfassungsrechtlich durchsetzbar erscheint. Diese gegenläufige Entwicklung verweist auf unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen sowie tiefere politische und diskursive Differenzen im Gleichstellungsverständnis. Der Beitrag analysiert auf Basis ideenorientierter Ansätze der politischen Soziologie die parlamentarischen Debatten zur Einführung gesetzlicher Geschlechterquoten in Spanien (2007, 2024) und Deutschland (2015, 2021). Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie wird das Problem konstruiert, das Quotenregelungen adressieren sollen – und wie unterscheiden sich diese Problemrepräsentationen zwischen den Ländern sowie zwischen Politik und Wirtschaft? Ein Fokus liegt dabei auf der Frage, inwieweit nationale Debatten auf europäische Regelungen Bezug nehmen oder andere Mitgliedstaaten als „Best Practices“ herangezogen werden. Der Beitrag zeigt, dass die Einführung von Quotenregelungen nicht nur von institutionellen oder sozioökonomischen Faktoren abhängt, sondern maßgeblich von hegemonialen Problemdeutungen und normativen Vorstellungen von Gleichstellung, Repräsentation und Gerechtigkeit geprägt ist. Towards a European literary field? Structures, Processes, and Networks of Book Production and Translation in Europe University of Siegen, Deutschland Have political and economic integration within Europe been accompanied by the formation of shared transnational fields of cultural production and circulation? Taking book translations as the empirical case, this talk presents the main results of a three-year research project on the Europeanization of literary exchanges. Conceptually, the project addresses Europeanization as a contested and ongoing process of field formation that is driven by top-down initiatives of the European Union and by the transnational work of cultural brokers and entrepreneurs. To examine the scope and structure of the European literary field, the project leveraged a mixed-methods approach that combined qualitative interviews with various stakeholders (e.g., writers, translators, editors, politicians) at the national and European level with quantitative network analyses of book translation flows between 32 European countries. Our findings show that literary exchanges within Europe intensified over time, indicating a growing cross-border entanglement of national book markets. At the same time, Europeanization is uneven, fragmented, and prone to create structural inequalities. Network analyses demonstrate that the European literary field is segmented into multiple sub-communities that are vertically stratified into central and peripheral countries. This polycentric structure is generated by symbolic and economic power relations as well as longstanding cultural affinities between countries. Moreover, the field’s external boundaries are highly permeable as the larger European countries orient themselves towards the more profitable global market. Qualitative analyses complement these findings by demonstrating that literary actors recognize gradual Europeanization as part of broader processes of cultural globalization and of structural inequalities within Europe to which they must adapt. Many engage in public and private initiatives that seek to develop the existing networks of exchange, cooperation, and shared practices. The practices, motivations, and strategies of these actors unveil a shared illusio that manifests in shared beliefs in the importance of further Europeanization and in the necessity of creating horizontal structures of cooperation to maintain diversity in literary production. |