Biographische Deutungsmöglichkeiten im Kontext sich wandelnder Diskurse über kollektive Gewalt und NS-Verfolgung: Nachkommen von Wehrmachts-Deserteuren
Maria Pohn-Lauggas, Miriam Schäfer, Sarah Könecke
Ruhr-Universität Bochum, Deutschland
Die Verfolgung der Wehrmacht-Deserteure durch die NS-Militärjustiz wurde bis in die 1980er Jahre in öffentlichen Diskursen entweder verleugnet oder, wenn sie thematisiert wurde, wurden die Deserteure als „Kameradenmörder“ und „Feiglinge“ positioniert und diffamiert. Waren die 1990er und 2000er Jahre von den politischen Auseinandersetzungen um die gesetzliche Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren in Deutschland und Österreich geprägt, folgte 2009 in Österreich und der BRD ihre vollständige Rehabilitierung. Dennoch sind die Zuschreibungen aus der Öffentlichkeit und aus dem Alltag bis heute nicht vollständig verschwunden.
Im Rahmen dieses Vortrages möchten wir auf Grundlage unserer biographischen Mehrgenerationen-Studie diskutieren, wie sich die verändernden öffentlichen und politischen Diskurse auf die Biographiekonstruktionen von Nachkommen von Wehrmachts-Deserteuren auswirken. In den von uns untersuchten Familien haben die Nachkommen massive Abwertungen, Grenzverletzungen und zum Teil auch (sexuelle) Gewalt durch die desertierten Männer erlebt. In den Familien finden wir darüber hinaus starke körperliche und psychische Erkrankungen vor, die als Folge der Verfolgung gedeutet werden können. Auffällig in diesen Familien ist, dass es zu keiner Anklage der Nachkommen gegen ihre Väter und Großväter kommt, sondern wir Formen der Idealisierung vorfinden. Einen Grund dafür sehen wir in dem sich gewandelten öffentlichen Diskurs und der gesellschaftlichen Anerkennung der Deserteure. Anhand von zwei empirischen Fällen zeigen wir, dass die nur wenige Jahre zurückliegende öffentliche Anerkennung und Rehabilitierung der Wehrmachts-Deserteure einerseits ermöglicht über die familialen Verfolgungserfahrungen zu sprechen und den Nachkommen ermöglicht anzuerkennen, dass die Verfolgung Auswirkungen auf ihr Leben hat. Andererseits verhindert der öffentliche Diskurs die Thematisierung der Deserteure als Täter innerhalb der eigenen Familie, mit der Konsequenz, dass die eigenerlebten leid- und gewaltvollen Erfahrungen in den lebensgeschichtlichen Selbstpräsentationen geglättet und ausgespart werden. Wir zeigen damit, wie sich wandelnde diskursive Regeln des Sprechens über kollektive Gewalt- und Verfolgungserfahrung auf biographische Selbstkonstruktionen auswirken und Möglichkeiten biographischer Bearbeitung leidvoller Erfahrung eröffnen aber auch (erneut) verhindern können.
Der Einsatz von Zeug*innen und Zeugnissen in biografischen Interviews
Mechthild Bereswill1, Rieker Peter2
1Universität Kassel, Deutschland; 2Universität Zürich, Schweiz
Gesellschaftliche Transitionen, so ist zu vermuten, sind mit Verunsicherungen im Hinblick auf Biografien verbunden und stellen Erinnerungen grundlegend in Frage. Solche Verunsicherungen zeigen sich in biografischen Interviews mit Personen, die gesellschaftliche Umbrüche erlebt haben. Entsprechende Beobachtungen konnten beispielsweise in einer Untersuchung gemacht werden, in der Personen viele Jahre nach dem Mauerfall zu den Erfahrungen befragt wurden, die sie mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR gemacht haben. Dabei wurde aber auch deutlich, dass die Biograf*innen Elemente ins Interview einbrachten, die im Dienste der Vergewisserung über die eigene Biografie gestanden haben könnten. In einigen Interviews wurden Personen zum Interview mitgebracht, die als Zeug*innen des Erlebten fungierten. In der Mehrzahl der Interviews wurden zudem Zeugnisse des vergangenen mitgebracht, sowohl Akten und andere Dokumente staatlicher Behörden als auch selbst erstellte Dokumentationen und Produkte, die im Interview als Belege des Erlebten dienten. In einem weiteren Beispiel, einer Studie zu den Reformen der Heimerziehung in Westdeutschland, bringen Zeitzeug*innen, die diese Prozesse in den 1970er und 1980er Jahren mit gesteuert haben, zum Beispiel eigene wissenschaftliche Arbeiten oder Konzepte mit und unterstreichen damit ihre damalige Involviertheit in institutionelle Umbrüche oder erwarten auch, dass das Forschungsteam mit den Daten aus der Vergangenheit arbeitet.
In dem geplanten Beitrag wird die Einführung solcher Zeug*innen und Zeugnisse durch die Befragten analysiert, um zu klären, welche Bedeutung sie für ihre Präsentation im Interview haben. Ausserdem wird dafür plädiert, dass die Biografieforschung sich offen gegenüber solchen Ergänzungen von biografischen Erzählungen und retrospektiven Positionierungen als Expert*innen zeigt und es werden Ansatzpunkte für die Einbeziehung solcher Ergänzungen in die Analyse skizziert.
Biographien in Bewegung(en)
Martina Schiebel, Johanna Raphaela Wahl
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Deutschland
Gegenwärtige globale Krisen stellen Gesellschaften, Politik und Einzelne vor Herausforderungen: etwa die globale Erwärmung und der Klimawandel, die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen, Fragen der Energieversorgung, der Ernährungssicherung und des Wirtschaftens im Kontext von Krieg, Flucht und Migration, um hier nur einige zu nennen.
Politische Entscheidungen zum Umgang mit diesen Herausforderungen, finden nicht durchgängig ihre Zustimmung in der Bevölkerung. Das kommt in verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen zum Ausdruck, die mittels Formen der „Selbstermächtigung“ (Kirsch/Kube/Zohlnhöfer 2022) ihren Unmut und ihre Ideen ‚auf die Straße‘ und in die Medien bringen, um gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse voranzubringen und mitzugestalten. Protestförmiges politisches Engagement ist verstärkt durch den medialen Diskurs auch ein internationales Phänomen, das als Ausdruck von Unzufriedenheit mit politischen Herangehensweisen bezüglich lokaler und globaler Krisen gedeutet werden kann. Zugleich können diese Protestformen als Krisensymptome der gegenwärtigen Demokratie verstanden werden, da sie einen Vertrauensverlust der Protestierenden in politisch-parlamentarische Prozesse widerspiegeln.
Im laufenden Forschungsprojekt „Generationen im Protest“ wird aktuelles zivilgesellschaftliches, protestorientiertes Engagement verschiedener politischer Couleur in der Bundesrepublik Deutschland in biographischer und intergenerationaler Perspektive untersucht und nach Prozessen der Herausbildung generationeller Zugehörigkeiten und intergenerationeller Tradierung bzw. Abgrenzung sowie nach der Bedeutung medialer Diskurse gefragt.
Im Vortragsvorschlag „Biographien in Bewegung(en)“ soll das wechselseitige prozessuale Verhältnis von biographischen und kollektiven Orientierungen ausgelotet werden. Darüber hinaus wird ein triangulierender methodologischer Ansatz (vgl. Denzin 2012; Alber/Schiebel 2018) vorgestellt, um diese Verwobenheit angemessen analysieren zu können.
Biographische Verortungen im Zuge der Pandemie: Anmerkungen zur Verwundbarkeit und Resilienz im Selbstbild von Menschen mit autoimmuner Diagnose
Michael Nijhawan, Yikun Zhao
York University, Kanada
Das Konzept des biographischen Bruches hat spätestens mit den 1990er Jahren einen zentralen Stellenwert in der qualitativen Sozialforschung eingenommen, speziell im Bereich der Soziologie chronischer Krankheiten. Das ursprünglich von Michael Bury eingeführte Konzept, dreht sich dabei um die prozessualen und symbolischen Sinnverschiebungen im Selbst-Konzept von chronisch erkrankten Menschen. Aus biographietheoretischer Perspektive betrachtet, wirken sich die Ereignishaftigkeit von Diagnose und die daraus resultierenden Sinn- und Existenzkrisen mittelbar auf das individuelle Selbst-Bild aber auch das soziale Selbst aus. Die Forschung hat sich rezent mit den empirischen und theoretischen Verkürzungen des Konzepts des biographischen Bruches eingehend auseinandergesetzt, sowohl in Bezug auf die vielfach kritisierte, lineare Ausrichtung von traditionellen Biographiekonzepten, aber auch hinsichtlich der normativen Festlegung empirisch nachweisbarer, sozial und kulturell vielfältiger Biographieentwürfe. Unser Vortrag schließt sich an diese konstruktive Kritik an und nimmt mit dem Fokus auf biographisches Erleben sowie der Relationalität von Transition(en) und biographischen Entwürfen zwei Kernthemen der Sektion Biographieforschung ins Visier. Unser Fokus bezieht sich dabei auf den Zusammenhang zwischen sich verändernder Sozialität und der materiellen Prekarisierung von Lebenswelten, die währende der Coronavirus-Pandemie zu gesellschaftlichen Brüchen und Intensivierungseffekten geführt haben. Unsere Studie beruht auf 30 umfangreichen biographischen Interviews mit Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft, sozialem Status, und biographischem Werdegang, die bereits vor oder während der Pandemie mit einer autoimmunen Krankheit diagnostiziert wurden. Sie alle vereint, dass sie ihren Lebensmittelpunkt im Großraum Toronto (Kanada) haben. Unser Sample umfasst Personen unter-schiedlichen Alters und sozialen Geschlechts, deren Krankheitsbiografien sich mit spezifischen Migrations-biographien und religiös-kulturellen Lebensweisen überkreuzen.
Phänomen Tradwife: Biographische Bearbeitung vergeschlechtlichter Transitionsprozesse
Paula Matthies, Viktoria Rösch, Michaela Köttig
Frankfurt University of Applied Sciences, Deutschland
Das Phänomen der „Tradwife“ (traditional (house-)wife) ist derzeit allgegenwärtig und Teil einer breiten Debatte über mögliche regressive Tendenzen. Dieser Trend erhebt die traditionelle Hausfrauenrolle in den sozialen Medien zur idealisierten Lebensweise und bietet gleichzeitig eine ästhetische Aufwertung von Care-Arbeit. Die Rückbesinnung auf ein re-traditionalisiertes Frauenbild, als ein Beispiel zu beobachtender gegenemanzipatorischer Trends, verweist auf Orientierungsweisen innerhalb eines von Ambivalenzen, Paradoxien und Wiedersprüchen geprägten Transitionsprozess im Geschlechterverhältnis. In unserem Beitrag wollen wir die biographische Genese solcher Positionierungen nachzeichnen und herausarbeiten, wie regressive geschlechterpolitische Angebote in Lebensgeschichten bearbeitet werden. Ziel ist es, die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Transformationsprozessen und biographischen Verortungen zu verstehen.
In unserem Projekt „Biographische Genese geschlechterpolitischer Verortung“ verfolgen wir ein multimethodisches Vorgehen, indem wir die Social-Media-Accounts rekonstruieren und biographisch-narrative Interviews führen, welche wir fallrekonstruktiv auswerten. Damit nehmen wir die Wechselwirkungen zwischen medialen Selbstinszenierungen, geschlechterpolitischen Selbstpositionierungen und der Lebensgeschichte in den Blick. Wir wollen zeigen, wie rechte Geschlechterpolitiken bzw. Identifikationsangebote auch biographische Deutungsmuster prägen – und wie diese biographischen Prozesse ihrerseits zur Stabilisierung oder Veränderung solcher politischen Angebote beitragen.
Im Rahmen des geplanten Beitrags adressieren wir anhand des Falls einer 34-jährigen Frau, die sich selbst als Tradwife positioniert folgende Fragen:
In welchem Wechselverhältnis stehen lebensgeschichtliche Erfahrungen und die Selbstpräsentation als Tradwife auf Social Media? Welchen Aufschluss geben die Darstellungen der bildlich wie textlichen Elemente über biographische Handlungs- und Deutungsmuster? Inwiefern lässt sich die mediale Selbstpräsentation als Teil der Gestaltung von Biographisierungsprozessen rekonstruieren? Und: In welchem Verhältnis stehen beide Dimensionen, die lebensgeschichtliche und die mediale, in ihrer Wechselwirkung zu sich wandelnden Geschlechterverhältnissen?
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