MCA in Transition. Zur Einführung
Dominik Gerst1, Patrik Dahl2
1Universität Duisburg-Essen, Deutschland; 2Cardiff University, Wales
Unser Beitrag verfolgt das Ziel, die Membership Categorization Analysis (MCA) als einen Ansatz vorzustellen, der einerseits in transition begriffen ist und andererseits Potentiale bietet, soziale Transitionsphänomene zu erhellen.
Der Beitrag beginnt mit der Plausibilisierung der These, dass die MCA im Kern ein soziologischer Forschungsansatz ist. Während die verwandte Konversationsanalyse immer schon linguistische und sprachpragmatische Bezüge hatte und sich vor allem international in viele (Teil-)Disziplinen hineinbewegt hat, bleiben Kategorisierungsanalysen tief in der Soziologie verwurzelt. Auch in der deutschsprachigen Soziologie haben Kategorisierungsanalysen eine lange Tradition. Die Rezeption der MCA verbleibt hier aber immer noch begrenzt auf wenige Studien. Angesichts der Popularitätssteigerung der MCA und ihrer fortschreitenden Anerkennung als ernstzunehmenden qualitativem Ansatz wie auch der jüngeren soziologischen Fokussierung auf kategorisierungsrelevante Phänomene (Humandifferenzierung, Soziologie der Bewertung etc.) scheint die Situation günstig, um das Potential und die Anschlussmöglichkeiten der MCA auszuloten. Dazu geben wir einen Überblick über zentrale Konzepte und Forschungsprinzipien, eine Skizze der Geschichte von Sacks‘ ‚the baby cried, the mommy picked it up‘ zu aktuellen Arbeiten und legen dann den Fokus auf den soziologische Anspruch, den Hester & Eglin (1998, S. 3) in ihrer Grundlegung beschrieben haben: „MCA directs attention to the locally used, invoked and organized 'presumed common-sense knowledge of social structures' which members are oriented to in the conduct of their everyday affairs“.
Mit Blick auf das Rahmenthema des Kongresses enden wir mit einigen Überlegungen darüber, wie dieses ‚presumed common-sense knowledge of social structures‘ den Blick auf Übergänge und Transitionen schärfen kann, wie MCA also Übergänge aus der Teilnehmendenperspektive nachzuzeichnen und sie als members‘ phenomena ernst zu nehmen erlaubt. Übergänge werden mithin als kategorial organisierte soziale Phänomene betrachtet, weshalb die categorial ordering work (Hester/Eglin 1997) von Übergängen und kategoriengebundenes Wissen in den Fokus rückt. Schließlich zeigt sie, dass und wie Übergänge selbst das Thema von kategorialer Praxis und in konkreten Situationen für konkrete Zwecke zum Einsatz gebracht, verhandelt und beschrieben werden.
Vergeschlechtlichte und altersbezogene Kategorisierungsprozesse im Job Center – junge Menschen im Übergang in Ausbildung, Maßnahmen oder Erwerbsarbeit
Ute Karl
Evangelische Hochschule Ludwigsburg, Deutschland
Bezugnehmend auf Einsichten aus dem Projekt "Gesprächspraktiken im Jobcenter / U 25" (Uni Hildesheim; 2008-2011) und den daraus entstandenen Publikationen (Karl, 2010; Karl, 2011; Karl, 2015; Böhringer et al., 2012) wird in dem Beitrag aus konversationsanalytischer Perspektive und mit Hilfe der membership categorization analysis herausgearbeitet, wie in Gesprächsinteraktionen zwischen "persönlichen Ansprechpartner*innen" und "Kund*innen" institutionelle Handlungsherausforderungen interaktiv bearbeitet werden, indem vergeschlechtlichte Kategorisierungen hervorgebracht werden und zum Einsatz kommen.
Indem ein Fokus auf der Analyse der praktischen Zwecke des Einsatzes vergeschlechtlichter Kategorisierungen liegt, wird deutlich, dass es institutionenspezifische Handlungsdilemmata und -herausforderungen gibt, die durch den unhinterfragten Einsatz vergeschlechtlichter Kategorisierungen kommunikativ bearbeitet werden. In diesem Zusammenhang wird ein zentraler Mechanismus gesehen, warum Gender in dieser institutionellen Kommunikation interaktiv aktualisiert und (re-)produziert wird.
Zudem werden altersbezogene Kategorisierungen und ihr praktischer Einsatz analysiert, um deutlich zu machen, wie diese mit category bound activties verbunden werden, die mit normativen Erwartungen einhergehen. Dadurch wird auch deutlich werden, dass im Kontext von Aktivierung mit Pädagogisierung gearbeitet wird.
Literatur:
Böhringer, D., Karl, U., Müller, H., Schröer, W., & Wolff, S. (2012). Den Fall bearbeitbar halten. Gespräche in Jobcentern mit jungen Menschen. B. Budrich.
Karl, U. (2010). Gender und die Gruppe der 'U 25' - zur Rekonstruktion vergeschlechtlichter Kategorisierungsprozesse in Gesprächsinteraktionen, in: Jaehrling, K, & Rudolpf, C. (Hrsg.), Grundsicherung und Geschlecht (S. 147-163). Westfälisches Dampfboot.
Karl, U. (2011). Vergeschlechtlichte Kategorisierungen im Umgang mit institutionellen Handlungsherausforderungen am Beispiel von Gesprächen in Jobcentern [143 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung, 13(1), Art. 29, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1201294.
Karl, Ute (2015). Praktiken der Ein- und Ausschließung im Jobcenter/U 25. Zur Rekonstruktion von Rationalitäten als Beitrag zur kritischen Institutionenforschung, in: Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.), Praktiken der Ein- und Ausschließung in der Sozialen Arbeit (S. 157-172), BeltzJuventa.
Kategorisierung-Bewertung-Realisierung. Zur Selbstbezüglichkeit von Automarken und -klassen in Zeiten des Klimawandels
Thomas Scheffer
Goethe Universität Frankfurt, Deutschland
Der Vortrag rekonstruiert die Rolle von "category devices" und deren Umstellung im Rahmen existentieller Realisierung, hier im Fall von Autobewertungen in Zeiten der Klimafrage. Anhand verschiedener "stages of realization" erweist sich der Grad der Realisierung für die Gesellschaftsmitglieder in alltäglichen Zusammenhängen: z.B. anhand von Autofahrberichten. Die Berichte nutzen doppelwertige Kategorien zum Aufruf und zur Anwendung asymmetrischer Bewertungsmaßstäbe. Es zeigt sich eine verzögerter bis blockierte Realisierung in verschiedenen Marktsegmenten anhand von selbstbezüglichen Bewertungen. Diese werden überformt einerseits, durch retrotopische Objekte (z.B. neueste Mega-SUVs), oder unterlaufen, durch die Umkehrung mehrwertiger Kategorisierungen im Falle von E-Fahrzeugklassen. Die Fallstudie ist Teil eines Buchprojekts zum Klimawandel als sozialer Wandel.
Moralische Ordnung im Wandel: Kategorisierungsarbeit und Deutungshoheit im Diskurs um die Rückgabe der Benin-Bronzen
Franca Heuer
Universität Bielefeld, Deutschland
„War das der Sinn der Restitution?“ - mit dieser Frage löste die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin im Mai 2023, ein knappes halbes Jahr nach der formellen Rückgabe der Benin-Bronzen, in der FAZ den Wiederaufgriff der sogenannten „Raubkunst“-Debatte aus. Dieser Vortrag erörtert mit Hilfe der Membership Categorization Analysis (Sacks 1972), wie die Teilnehmenden der nachfolgenden medialen Auseinandersetzung durch Kategorisierungsarbeit Deutungshoheit herzustellen versuchen. Analysiert wird insbesondere, wie die Benin-Bronzen durch die Teilnehmenden kategorisiert werden: „Wenn wir sie als Kunst bezeichnen, sind wir schon in der kolonialistischen Falle“ (Wolfgang Weber, 24.05.2023, Augsburger Allgemeine) und welche moralischen Implikationen dadurch hervorgerufen werden. Die Debatte um die Rückgabe der Benin-Bronzen wird als Transitionsprozess der moralischen Ordnung in Bezug auf die koloniale Vergangenheit deutscher Museumsgegenstände betrachtet. Im Mittelpunkt des Vortrags steht die Frage, welche Rolle Kategorisierungen bei der Hervorbringung dieser im Wandel befindlichen moralischen Ordnung (Jayyusi 1984) spielen. Die von den Teilnehmenden erzeugte moralische Ordnung beeinflusst in Verbindung mit der hergestellten Deutungshoheit in der Debatte, wie die Restitution der Benin-Bronzen im Nachgang in der öffentlichen Wahrnehmung bewertet wird und wie zukünftige Rückgabeforderungen öffentlich aufgenommen werden.
Die Analyse leistest hiermit zweierlei: einen Beitrag zu der Frage, wie der Wandel gesellschaftlichen Wissens sich in Sprache widerspiegelt. Des Weiteren wird die MCA als fruchtbares Werkzeug der Postkolonialen Soziologie präsentiert, welches es ermöglicht, deduktive Begriffsarbeit durch ein methodisches Vorgehen zu vermeiden, welches Begriffe an Daten entwickelt und nicht voraussetzt.
Sterben als kategoriale Herstellung
Daniel Schönefeld
Hochschule Neubrandenburg, Deutschland
Sterben ist nicht nur ein körperliches und seelisches, sondern auch ein soziales Phänomen, das sich soziologisch denken und untersuchen lässt. Ein Zugang hierfür ist die Membership Categorization Analysis. Aus ihrer Perspektive ist Sterben eine kategoriale Herstellung. Der Vortrag stellt diesen Ansatz zunächst anhand klassischer Texte der ethnomethodologischen Sterbeforschung vor. Hiernach folgt ein Überblick zum internationalen Forschungsstand. Im Zentrum stehen empirische Einsichten aus einem aktuellen Projekt zur „Kommunikation mit Sterbenden“. Anhand empirischer Materialien wird gezeigt, wie Personen als Sterbende relevant gemacht werden und welche gesprächsstrukturellen Probleme damit (nicht) bearbeitbar werden.
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