Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH107: Wohnen in Lebenskrisen, Wohnen als Lebenskrise: Risiken, Übergänge, Notfälle
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Jan Weckwerth, Universität Göttingen
Chair der Sitzung: Timo Weishaupt, Georg-August-Universität Göttingen
Chair der Sitzung: Frank Sowa, Technische Hochschule Nürnberg
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Wohnen in und als Lebenskrise(n): Einführende Überlegungen

Jan Weckwerth1, Timo Weishaupt1, Frank Sowa2

1Universität Göttingen, Deutschland; 2Technische Hochschule Nürnberg

Obwohl Wohnen zunehmend als die neue soziale Frage gilt, ist in der deutschsprachigen soziologischen Forschung die Beschäftigung mit den vielschichtigen Phänomenen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit lange Zeit eher randständig geblieben und beschränkte sich vorwiegend auf Auseinandersetzungen mit (Straßen-)Obdachlosigkeit als besonders sichtbarer Ausdruck verelendeter Lebensbedingungen sowie auf der Unterbringung in den Einrichtungen des Hilfesystems. Seit wenigen Jahren zeichnet sich jedoch eine Trendwende ab: Krisenhaftes Wohnen wird verstärkt Bestandteil soziologischer Debatten.

Der einführende Vortrag der Ad-hoc-Gruppe knüpft an diese Debatten an und widmet sich erstens einer begrifflich-konzeptuellen Aufspannung des gesamten Feldes krisenhaften Wohnens und zweitens einer Präzisierung der potenziellen sozialen Zusammenhänge und Verknüpfungen derartiger Wohnereignisse bzw. -formen. Demnach sind verdeckte Wohnungslosigkeit und Wohnungsnotfälle als manifeste Ausprägungen krisenhaften Wohnens und damit (gegebenenfalls) als Übergänge für spätere Phasen der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu verstehen. Verdeckte Wohnungslosigkeit bezeichnet etwa das stets gefährdete und vulnerable Unterkommen bei Freund:innen und Bekannten. Wohnungsnotfälle umfassen darüber hinaus unsichere Wohnverhältnisse (drohende Zwangsräumung, häusliche Gewalt o.ä.) sowie prekäres Wohnen in unzumutbaren Wohnverhältnissen (verwahrloste Gebäude, katastrophale Hygienebedingungen, Überbelegung o.ä.). In all diesen unterschiedlichen Wohnformen reicht die Deprivation weit über den konkreten Wohnstatus hinaus und offenbart sich in so unterschiedlichen Bereichen wie Arbeit, Gesundheit, Beziehungsnetzwerke oder gesellschaftliche Teilhabe. Es gilt also, mehrdimensionale soziale Exklusionsprozesse zu untersuchen. Hierbei sind stets der substanzielle Wohnraummangel infolge des sozioökonomischen Strukturwandels sowie – davon nicht unabhängig – institutionelle Transitionen des Wohlfahrtsstaats in Form der Vermarktlichung sozialer Rechte (zusätzlich zu den bereits bestehenden sozialstaatlichen Lücken und Ausschlüssen) als Bedingungsfaktoren miteinzubeziehen.



Cui bono? Zur politischen Ökonomie des krisenhaften Wohnens

Hannah Wolf

Universität Potsdam, Deutschland

Wohnungslosigkeit, Wohnungsnot und Wohnunsicherheit lassen sich als Erscheinungsformen krisenhaften Wohnens begreifen. Eine politisch-ökonomische Perspektive ermöglicht einen multidimensionalen Blick auf diese unterschiedlichen Erscheinungsformen, wodurch neben den Produktionsverhältnissen des Wohnungsmarkts auch politische Kämpfe um das Recht auf Wohnen sowie gesellschaftliche Machtverhältnisse, die sich in der gelebten Praxis des Wohnens manifestieren, berücksichtigt werden. In individuellen Wohnkrisen und Wohntransitionen spiegeln sich somit immer auch übergeordnete Prozesse, in denen gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse verhandelt und transformiert werden.

Vor diesem Hintergrund und auf Grundlage eines Forschungsprojekts zu Wohnunsicherheit in Berlin beschäftigt sich der Beitrag mit der von Engels konstatierten „notwendigen Institution“ der Wohnungsnot und untersucht, wie sich gesellschaftliche Macht-, Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse in institutionellen und individuellen Praktiken des krisenhaften Wohnen refigurieren.

Argumentiert wird dabei erstens, dass krisenhaftes Wohnen nicht nur Ausdruck, sondern Instrument bestehender Herrschaftsverhältnisse ist, in denen materielle und symbolische Ressourcen verteilt werden. Zweitens plädiert der Beitrag dafür, den soziologischen Blick auf Praktiken des widerständigen Handelns innerhalb unterschiedlichster Wohnverhältnisse auszuweiten.



Wohnungsfragen überall? Sozial-räumliche Implikationen der Wohnkrise

Michael Mießner

Universität Trier, Deutschland

Die Frage des bezahlbaren Wohnens wird seit vielen Jahren öffentlich breit diskutiert. Im Fokus stehen dabei jedoch sowohl medial als auch wissenschaftlich nach wie vor Großstädte. Der Vortrag zeigt am Beispiel der Region Berlin-Brandenburg, dass die Wohnungsfrage kein Phänomen mehr ist, dass auf Großstädte begrenzt ist, sondern mittlerweile auch vermeintlich periphere Regionen erreicht hat. Er zeigt die kleinräumigen sozialräumlichen Verdrängungs- und Gentrifizierungsprozesse in der Mittelstadt Neuruppin als Zentrum eines ländlich strukturierten Landkreises.



Fremdbestimmte Wohn-Übergänge: Verdrängungserfahrungen in Städten und Berggemeinden

Miriam Meuth

HSLU Department Soziale Arbeit, Schweiz

Wohnen ist wie andere Lebensbereiche von Übergängen geprägt, die mit Ungewissheit und Vulnerabilität einhergehen (Stauber/Pohl/Walther 2007). Während die Übergangsforschung lange Zeit primär schulisch-berufliche Übergänge betrachtete (kritisch dazu Meuth 2014), hat sie sich in den letzten Jahren zu einer «reflexiven Übergangsforschung» (Walther et al. 2020) weiterentwickelt. In diesem Rahmen rücken auch Wohn-Übergänge als Teil individueller Lebensverläufe stärker ins Blickfeld.

In der Schweiz führen aktuelle Entwicklungen – etwa die Finanzialisierung des Wohnraums, Innenentwicklungsstrategien und politische Weichenstellungen – dazu, dass der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum in Städten wie auch in touristischen Berggemeinden zunehmend erschwert wird. Aufwertungsprozesse und Verdrängung greifen ineinander.

Der Vortrag verbindet die sich ergänzenden Perspektiven der sozialpädagogischen Übergangs- und Verdrängungsforschung. Denn die derart erzeugten Wohnungsverluste stellen fremdbestimmte Übergänge dar, die spezifische Erfahrungen rund um die Bedeutung der Wohnung, des Wohnumfelds und der eigenen Wohnbiografie mit sich bringen. Mit diesem fremdbestimmten Übergang des Wohnungsverlustes im Falle direkter gentrifizierungsbedingter Verdrängung, aber auch mit prekärem Wohnen denken wir an Verdrängungsdruck und ausschliessende Verdrängung (Marcuse 1985), müssen die Betroffenen umgehen.

Zunächst wird geklärt, wie Wohnen und Übergänge konzeptualisiert werden. Anschliessend werden zwei qualitative Studien vorgestellt, die Verdrängung mit Fokus auf die Perspektiven und Erfahrungen von Betroffenen untersuchen. Die erste, bereits abgeschlossene Studie zu städtischer Verdrängung in der Deutschschweiz (Meuth/Reutlinger 2023), zeigt, wie der Umgang mit Wohnungsverlust mit anderen Teilübergängen und Lebensrealitäten verwoben ist. Mit Blick auf eine laufende Studie geht es um die Frage, wie Verdrängung auch in touristisch geprägten Berggemeinden, also jenseits von mietdominierten städtischen Kontexten, überhaupt operationalisiert und erforscht werden kann.



Auf der Suche nach Arbeit, Wohnung und Perspektive: Konstellationen der Wohnungsnot neuzugewanderter EU-Bürger*innen in Deutschland

Christian Hinrichs

Georg-August-Universität Göttingen, Deutschland

Die europäische Personenfreizügigkeit ermöglicht es ihren Bürger*innen sich innerhalb der EU frei zu bewegen und gestattet ihnen ausdrücklich Zugang zu den jeweils nationalstaatlich organisierten Arbeits- und Wohnungsmärkten. Trotz harter Arbeit scheitern jedoch bestimmte EU-Migrant*innen bei der Transition in stabile Lebensverhältnisse, weshalb sie in Armut, Prekarität, akuter Unterversorgung und Verelendung auf der Straße abrutschen. Die Wohnungslosigkeit dieser Personengruppe sollte jedoch nicht als individuelle Tragödie missverstanden werden, sondern ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund exkludierender Sozialpolitik im bundesdeutschen Migrationsregime zu betrachten. Wie die biographisch-rekonstruktive Analyse der Interviews mit wohnungslosen EU-Migrant*innen zeigen wird, wirkt sich der Ausschluss von existenzsichernden Sozialleistungen und Sozialwohnungen unerbittlich aus und manifestiert die Not der Menschen.



An der Schwelle zur Wohnungslosigkeit. Vom Kämpfen und Scheitern in den Krisen der Gegenwart, und von langen Schatten der Vergangenheit − eine Lebensgeschichte

Saskia Gränitz

Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main

Diesseits der Lebenslagen, die wir gemeinhin als wohnungs- oder obdachlos bezeichnen, gibt es eine Grauzone ungesicherter, ungenügender, deprivierter, beengter, pauperisierender und bedrohter Wohnverhältnisse, die in Zeiten multipler gesellschaftlicher Krisen wachsende Bevölkerungsteile biografisch erschüttern. Die Übergänge zwischen dieser Grauzone der Wohnungsnot, die ich im Städtevergleich München/Leipzig untersucht habe, und den Zonen manifester Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit sind fließend - wenngleich dies (selbst von Betroffenen) oft verleugnet oder ressentimental abgewehrt wird. Für die Frage, wie Menschen mit Erschütterungen ihrer Wohnbiografie umgehen, ist meiner Erfahrung nach die Schwelle zur Wohnungslosigkeit entscheidend.

In meiner qualitativen Empirie, basierend auf problemzentriert-narrativen Interviews, die ich methodisch triangulierend mit Codierverfahren sowie Habitus- und Tiefenhermeneutik auswertete, stieß ich auf spezifische Bewältigungsmuster, in denen sich habituell geprägte Praxisformen mit psychischen Strategien verschränkten. Die Schwellenfrage erwies sich insbesondere für die Analyse verschleiernder Bewältigungsmuster zentral.

Im Rahmen der Ad-hoc-Gruppe widme ich mich der Schwellenerfahrung einer damals 28-jährigen Interviewpartnerin, deren Erzählung mich bis jetzt nicht loslässt. In ihrer Lebensgeschichte, die ich hier erstmals in Gänze aus dem mehrstündigen Interview rekonstruiere, verschränkt sich die aktuelle Wohnungskrise mit der jahrelangen Prekarisierung der Arbeitswelt und akutem psychischem Leiden. Sie erzählt von ihrer Kindheit in den Wirren der Nachwendezeit in Ostdeutschland und einer familiären Verfolgungsgeschichte in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts. Das eher unbewusst denn bewusst tradierte Erbe von Gewalt und Exklusion reicht transgenerational bis in ihre Situation bedrohten Wohnens hinein.

Zum Zeitpunkt des Interviews hatte sie monatelange Konflikte mit dem Vermieter und dem Jobcenter hinter sich und war kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren, machte dabei aber einen schlagfertigen und kämpferischen Eindruck. Wie ich Jahre später erfuhr, hatte sie drei Monate nach unserem Gespräch Suizid begangen. Mein Beitrag ist keine nüchterne "Fallanalyse", sondern eine lang aufgeschobene Auseinandersetzung mit der Bedeutung existenzieller Not, ihren Erscheinungsformen im Interview und der Macht psychischer Abwehr.