Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH104: Waste in Transition? Neue Perspektiven auf eine Soziologie des Abfalls
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Christiane Schürkmann, JGU Mainz
Chair der Sitzung: Nadine Arnold, Universität Luzern
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Vergessen und Überraschen: Phänomene des Nichtwissens in der Wiederentdeckung von Abfällen

Alena Bleicher1, Matthias Groß2,3

1Hochschule Harz, Deutschland; 2Helmholtz Zentrum für Umweltforschung GmbH; 3Universität Jena

Abfälle sind nicht nur das was nicht mehr benötigt wird, sondern auch das was stört, verunreinigt, vielleicht sogar bedroht – ob im Haushalt, in einem angrenzenden Park oder im Industrieunternehmen. Abfall muss verschwinden, unsichtbar und manchmal einfach vergessen werden – eine Strategie, die Gesellschaften über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg eint. Abfall verschwindet aber nicht immer, sondern meldet sich manchmal unerwartet und überraschend wieder oder wird, beispielsweise im Zuge der Diskussion um sekundäre Rohstoffe, aktiv in Erinnerung gebracht. Verschwinden lassen, unsichtbar halten und die Umdeutung als Rohstoff erfordert kontinuierliche Arbeit: physische Arbeit wie das Beseitigen, Sichern und Umlagern von Abfällen, das Beproben auf wertvolle Elemente aber auch symbolische Arbeit in Form von Einhegungen in administrativen Prozessen, ästhetischen Interventionen oder Rhetoriken der Müllaufwertung.

Diese kontinuierliche Arbeit rund um das Verschwinden, wieder Auftauchen oder bewusst in Erinnerung rufen von Abfall geht mit Dynamiken von Wissen und Nichtwissen einher: verloren gegangenes Wissen über Industrieablagerungen wird wichtig, wenn ein Gelände neu bebaut werden soll, bestimmte Dinge über gelagerten Abfall können oder sollen vielleicht nicht gewusst werden und bestimmte Bezeichnungen des Abfalls führen dazu, dass bestimmtes Wissen geschaffen und anderes ausgeblendet wird. In unserem Beitrag wollen wir diskutieren wie Phänomene des Nichtwissens (z.B. kategoriale Blindheit, strategisches Nichtwissen oder verhandelbares Nichtwissen im Umgang mit und der Transformation von Abfall als analytische Kategorien genutzt werden können und welche Dynamiken des Vergessens und Überraschens sich damit darstellen lassen. Dafür greifen wir auf Beispiele aus unseren eigenen empirischen Forschungen zurück und knüpfen an Diskussionen aus dem Feld der ignorance studies an.



Von der Entsorgung zur Fürsorge – Einsichten aus Abfallrelationen

Stefan Laser1, Sarah Schönbauer2

1Ruhr-Universität Bochum, Deutschland; 2Technische-Universität München

Abfall wird traditionell als etwas verstanden, das verwaltet und entfernt werden muss – eine Frage der korrekten Entsorgung. Wir hinterfragen diese Perspektive und diskutieren Abfall stattdessen durch das Konzept der Fürsorge, inspiriert von feministischen Ansätzen, Wissenschafts- und Technikstudien (STS) sowie Discard Studies. Elektroschrott, chemischer Abfall und Lebensmittelabfälle dienen uns dabei als Einstieg in eine Debatte, die über technokratische Entsorgungslogiken hinausgeht und ethische, affektive und materielle Beziehungen zu Abfall in den Mittelpunkt rückt. Wir argumentieren, dass Fürsorge nicht bloß auf Menschen beschränkt bleibt, sondern auch nichtmenschliche Akteure, Ökosysteme und Materialitäten umfasst. Damit stellen wir gängige Vorstellungen von Abfall als träges und passives Objekt infrage und schlagen stattdessen eine Sichtweise vor, die Abfall als dynamischen, sozial ausgehandelten Prozess begreift.

Unser Beitrag blickt jedoch auch kritisch auf die normative Dimension des Fürsorge-Konzepts. Initiativen wie Zero Waste, die Konsumverantwortung individualisieren, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Einerseits wirken sie transformativ, andererseits reproduzieren sie oft unbewusst soziale Privilegien und verstärken geschlechtsspezifische Rollenbilder. Gerade am Beispiel Deutschlands lässt sich zeigen, wie Abfallpraktiken – von chemischen Deponien bis hin zu lokalen Entledigungsroutinen – komplexe, oft widersprüchliche Beziehungen offenbaren. Wir hinterfragen daher auch den Umgang der Wissenschaft mit künstlerischen Praktiken: Diese eröffnen wertvolle Räume der Reflexion und Sensibilisierung, bergen jedoch die Gefahr, dass wissenschaftliche Verantwortung auf Kunst delegiert wird. Hier kommt es uns darauf an, die produktive Debatte der vor allem nordamerikanisch ausgerichteten Discard Studies in Europa zu situieren. Dabei greifen wir auf heterogene Arbeiten des DFG-Netzwerks "Abfall in Bewegung" zurück.

Abschließend laden wir ein, gemeinsam über alternative Formen des Umgangs mit Abfall nachzudenken, um langfristig gerechtere und nachhaltigere Abfallbeziehungen zu etablieren, von Entledigung und Entsorgung hin zur Fürsorge.



Werte im Müll

Marco Hohmann

Universität Hamburg, Deutschland

Ein auffällig-buntes Patchwork aus Nylonstoffen, oversized, modern und urban – so hängt sie im Schaufenster, die Regenjacke. „Unisex“ und „unique“ und auf dem Preisschild 265 Euro. Das Label klärt auf: 100 Prozent Abfallmaterial. Zelte, die der Hersteller von schlammigen und verwüsteten Festivalgeländen „vor der Vernichtung“ in der Verbrennungsanlage „gerettet“ hat. Gereinigt, zerschnitten und neu zusammengesetzt ist daraus ein distinktives neues Produkt geworden, mit einem ebenso distinktiven Preis.

Seit der Jahrtausendwende hat sich für solche und ähnliche Produkte der Begriff „Upcycling“ etabliert. Entstammte die Verwertung von Abfällen historisch betrachtet einer aus Armut geborenen, schmutzigen und schambesetzten Ökonomie des Notbehelfs (Hufton), hat sie in den letzten etwa 30 Jahren einen Bedeutungswandel durchlebt und ist heute von einer Start-up-Ökonomie der Change Maker vereinnahmt worden. Upcycling hat sich als eines der Aushängeschilder auf den Märkten grüner Konsumprodukte etabliert. Der Abfall ist „sauber“ geworden, so scheint es, hat seinen Weg zurück in die gesellschaftliche Mitte gefunden, aus der er zuvor ausgeschlossen wurde. Im Jahr 2019 wählte das Cambridge Dictionary Upcycling zum Wort des Jahres.

Soziologisch betrachtet durchlaufen Abfallstoffe im Upcycling einen hoch komplexen Prozess der Transformation ihres ökonomischen, materialen und symbolischen Werts. In meinem follow-the-waste-Ansatz habe ich Orte und Infrastrukturen dieser Werttransformation ethnografisch erforscht. Ich habe Upcycling-Start-ups beim Aufspüren, Sammeln, Sortieren und Reinigen von Abfallmaterialien begleitet. Ich habe Materiallager und Produktionsstätten besucht. Und ich habe mit den Protagonisten gesprochen, die Müll in begehrte Konsumprodukte mit einem kulturell, ökologisch und ökonomisch distinktiven Wert transformieren.

In meinem Beitrag erarbeite ich eine Typologie dieser Verwandlung von Werten. In diesem Rahmen gehe ich der Frage nach, welche neuen Hierarchien von Wert und nicht-Wert und welche Implikationen von Reinheit und Gefährdung (Douglas) die Transformation von Abfall zu Wert in der Praxis der Akteure erzeugt. Ebenso wie der Frage, welche neuartigen Konflikte und Muster des gesellschaftlichen Ausschlusses daraus heute möglicherweise hervorgehen.



Wiederkehrende Übergänge oder: Kann die Idee der Kreislaufwirtschaft recycelt werden? Überlegungen zur gesellschaftlichen Produktion des Wertlosen

Reiner Keller

Universität Augsburg

Ein historischer Rückblick auf die Produktions-, Konsum- und Müllgeschichte des ‚okzidentalen‘ 19. und 20. Jahrhundert zeigt nicht nur den wiederholten Übergang (in beide Richtungen) von verwertungsorientierten zu beseitigungsorientierten Umgangsweisen mit stofflichen Abfällen, sondern auch Prozesse der globalen Externalisierung von Abfallproduktionen und -ablagerungen. Die nicht neue Idee der ‚Kreislaufwirtschaft‘ wurde vor allem in den 1990er Jahren zu einem gängigen politischen Topos in Europa, in Deutschland etwa in Gestalt des „Kreislaufwirtschaftsgesetzes“. Damit verbunden war – vor 30 Jahren – die Verheißung, nunmehr in eine Gesellschaftsform ‚jenseits des Abfalls‘ einzutreten. Die häufige Wiederholung dieser Verheißung in den anschließenden Jahrzehnten, und ebenso ihr wiederkehrendes Scheitern, werfen nicht nur die Frage nach den Grenzen des Wachstums auf, sondern auch diejenige nach den (strukturellen, symbolischen) Grenzen der Einhegung der Produktion des Wertlosen. Das wird im Beitrag diskutiert.