Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH100: Von der Intervention zur Prävention. Transitionen in der Gesundheitsversorgung
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Andreas Wagenknecht, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
Chair der Sitzung: Maike Janssen, gematik GmbH
Chair der Sitzung: Manuela Marquardt
Chair der Sitzung: Philipp Graf
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

"At the right time": Prävention, Intervention und Timing in der Präzisionsmedizin

Dominik Hofmann

Universität Bielefeld, Deutschland

Die sogenannte Präzisionsmedizin erstellt „personalisierte“ Risikoprofile, Diagnosen und Therapieempfehlungen vornehmlich auf Grundlage genomischer Daten. Obwohl sie sich seit ihren Anfängen vor ca. 15 Jahren verändert hat, beschreibt sie ihr Programm bis heute mit der Formel aus ihrer Gründungszeit: „the right treatment for the right person at the right time“ (Abrahams 2008). Die zeitliche Dimension („the right time“) hat aber in den bisherigen Bemühungen um praktische Umsetzung des Programms eine nachrangige Rolle gespielt. Prävention ließ sich nicht gut personalisieren und für die Intervention ist der “richtige” Zeitpunkt, bei den schweren Fällen, um die es faktisch meist geht, immer (bzw. immer schon vorbei). Der Beitrag argumentiert, dass sich das aktuell ändert, und fragt nach Gründen.

Hierzu wird zuerst gezeigt, dass die Präzisionsmedizin gegenwärtig in eine Phase eintritt, die durch zwei Verschiebungen gekennzeichnet ist: Ausweitung des Spektrums behandelter Pathologien und Bedeutungsgewinn von „Multi-Omics“ (Integration multipler Datentypen, Analyseebenen, Feedback- und Synergie-Effekte mithilfe komplexer Algorithmen).

Zeitaspekte gewinnen hier aus verschiedenen Gründen an Relevanz. Etwa weil die Abstimmung verschiedener diagnostischer und therapeutischer Modalitäten auch deren Synchronisation erfordert; weil man vermehrt mit Vorhersagemodellen kritische Ereignisse und zirkuläre Therapieeffekte antizipiert; und nicht zuletzt weil man mit immer diverseren Fällen befasst ist, die auch eine Diversivizierung der Interventionen in der Zeitdimension nahelegen.

Anhand empirischer Beispiele aus der aktuellen präzisionsmedizinischen Spitzenforschung wird schließlich argumentiert, dass diese „Verzeitlichung“ auch Verschiebungen im Verhältnis zwischen Intervention und Prävention auslöst. Zwar bleiben diese nach wie vor unterschieden (teils weil erst die Eigencharakteristik der Krankheit Informationen für die Personalisierung der Intervention liefert, teils aus rechtlich-regulatorischen Gründen), sie werden aber dynamischer denn je miteinander verflochten: als „sekundäre“ und „tertiäre“ tritt die Prävention in die Intervention wiederein und neue Therapieansätze mobilisieren das Immunsystem, das zuvor eher Fokus der Prävention war.

Abrahams, E. (2008): Right drug-right patient-right time: personalized medicine coalition. Clin Transl Sci.;1(1):11-12



Übergang als Chance oder Krise? Über das Verhältnis von Transitionen, Umbrüchen & Vulnerabilität am Beispiel am Beispiel ernährungsbezogener Gesundheitsförderung

Nadja Baer

HU Berlin, Deutschland

Übergänge im individuell-biografischen Verlauf markieren Phasen des Wandels, in denen Routinen aufgebrochen und neue Alltagsmuster etabliert werden.

Sie bergen Potenziale wie Risiken und stellen damit ein ambivalentes Moment dar. Im Sinne Oevermanns als „Krisen“ verstanden, markieren sie Momente erhöhter Vulnerabilität – eröffnen zugleich aber auch individuelle wie kollektive neue Handlungsspielräume, etwa im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention. Dieser Beitrag beleuchtet das Zusammenspiel von Transitionen, Umbrüchen und Vulnerabilitäten im Kontext der Ernährung und fragt nach deren Chancen für eine präventionsorientierte Gesundheitsförderung.

Im Fokus steht der Übergang in den Ruhestand – eine biografische Transition, in der sich unter anderem Tagesstruktur und soziale Rollen verschieben und neue Alltagspraktiken etabliert werden müssen. Ernährung übernimmt in dieser Lebensphase verschiedene Funktionen: Sie wirkt sozialisierend und stabilisierend im Alltag, fungiert als identitätsstiftende Praxis und ist zugleich ein zentraler Gegenstand gesundheitsfördernder Maßnahmen.

Am Beispiel ernährungsbezogener Gesundheitsförderung zeigt der Beitrag, wie sich in solchen Transitionen und potenziellen Umbruchsmomenten neue Gelegenheitsfenster für die Prävention öffnen – und gleichzeitig neue Anforderungen an das Individuum stellen. Ernährung erscheint hier nicht nur als individuelle Praxis, sondern als soziales Symbolfeld, das im Ruhestand neu verhandelt wird – zwischen Eigenverantwortung, Selbstoptimierung und normativer Gesundheitsorientierung.

Der Beitrag problematisiert eine zu enge Fokussierung auf die Individualisierung von Gesundheitsverhalten und plädiert für eine struktur- und lebensweltsensible Gesundheitsförderung im Sinne einer verhältnisorientierten 4P-Medizin. Anhand empirischer Einsichten und theoretischer Konzepte – unter anderem aus der Lebenslaufsoziologie und Praxistheorie – wird argumentiert, dass Transitionen nicht per se chancenreich oder krisenhaft sind, sondern ihre Bedeutung im Zusammenspiel mit sozialen Normen, Ressourcen und institutionellen Rahmungen gewinnen. Damit wird die Notwendigkeit unterstrichen, Übergänge als komplexe Phänomene auf verschiedenen Ebenen zu verstehen, um den Paradigmenwechsel von der Intervention zur Prävention sozial gerecht und lebensweltorientiert gestalten zu können.



Partizipativ, personalisiert, problematisiert – Wie Organisationen mit neuen Datenarten umgehen

Claudia Hartmann, Lisa Rebecca Otto

Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Die moderne Medizin befindet sich im Wandel: Weg von einem rein kurativen, akutmedizinischen Paradigma hin zu einem kontinuierlichen Management chronischer Erkrankungen und einer stärker patientenzentrierten Versorgung. In diesem Kontext gewinnen Patient Reported Outcomes (PROs) zunehmend an Bedeutung. Diese von Patient:innen selbst berichteten Gesundheitsdaten eröffnen neue Perspektiven auf das subjektive Erleben von Krankheit und Therapie – eine Dimension, die in traditionellen klinischen Parametern oft unsichtbar bleibt. Durch die Digitalisierung der letzten 10–15 Jahre ist die elektronische Erhebung von PROs zur gängigen Praxis geworden und ermöglicht eine dynamischere, kontinuierlichere Einbindung der Patient:innen in den Behandlungsverlauf. Damit wird die Versorgung nicht nur personalisierter, sondern auch partizipativer.

Gleichzeitig stellt diese Entwicklung Organisationen vor neue Herausforderungen: Der Umgang mit subjektiven Daten erfordert neue Bewertungsmaßstäbe, technische Schnittstellen und interdisziplinäre Kooperationen. Darüber hinaus wirft sie grundlegende Fragen auf: Welche Rolle spielt die Patientenstimme im klinischen Alltag? Wie verändert sich ärztliche Autorität, wenn Krankheit zunehmend als kooperatives Management verstanden wird? Und wie lassen sich digitale Daten sinnvoll integrieren, ohne bestehende Ungleichheiten zu verstärken? In diesem Spannungsfeld zeigt sich: Der Wandel ist nicht nur technologischer, sondern auch kultureller Natur – und verlangt von Organisationen die Fähigkeit, Daten nicht nur zu erheben, sondern auch zu reflektieren und verantwortungsvoll in ihre Praxis zu überführen.



Technostress durch Wearables? Eine qualitative Exploration unintendierter Nebenfolgen von Wearables und Datenspuren im Gesundheitskontext.

Andreas Bischof

TU Chemnitz, Deutschland

Das Präventionsversprechen im Gesundheitskontext ist daten- und technikgetrieben: Durch eine (nahezu lückenlose) Aufzeichnung und Auswertung von Gesundheitsdaten sei es möglich, länger, gesünder, aktiver, etc. zu leben. Eine zentrale Rolle nehmen dabei wearables wie Fitnessarmbänder oder Smartwatches ein, die als "consumer products" auch abseits von Verschreibungen udn Hilfsmitteln Einzug in den Alltag gehalten haben.

Der Vortrag widmet sich der Untersuchung von unintendierten Nebenfolgen der Verwendung von Wearables und diskutiert diese unter dem Konzept von Technostress. Das Konzept wurde im bKontext Arbeit bereits umfassend erforscht, aber es gibt kaum Erkenntnisse über die Auswirkungen und Besonderheiten von Technostress, der durch den Einsatz von Selbsttracking-Technologien wie Wearables und entsprechende Tracking-Apps verursacht wird.

Im Rahmen einer explorativen Studie mit Amateursportler:innen wurden insgesamt 16 Stressfaktoren identifiziert, von denen acht im Vergleich zur Lietraturlage als neu gelten können: Leistungssteigerungszwang, fehlender Kontext, digitale Sichtbarkeit, Einbeziehung von Feedback, Fixierung auf Messdaten, Vergleichsdruck, permanente Überwachung und Wahrnehmungsdiskrepanz.

Die Studie basiert auf einem qualitativen Forschungsansatz mit geleiteten Interviews, die mit leistungsorientierten Amateur-Triathleten durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Studie tragen zu einem tieferen Verständnis der dynamischen und kontextuellen Natur von Technostress durch Wearables bei und liefern eine Grundlage für die Diskussion des Präventionsdiskurses in der Gesundheitsforschung.

Literatur:

Gimpel H, Berger M, Regal C, Urbach N, Kreilos M, Becker J, et al. Belastungsfaktoren Der Digitalen Arbeit. Eine Beispielhafte Darstellung Der Faktoren, Die Digitalen Stress Hervorrufen. Augsburg: Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT (2020). doi: 10.24406/fit-n-581326

Rusch S. Stressbewältigung nach Lazarus. In: Rusch S, editor. Stressmanagement. Lilienthal: Springer (2019). p. 66–9.

Werner M and Bischof A (2024) The double-edged sword of self-tracking: investigating factors of technostress in performance-oriented cycling and triathlon. Front. Sports Act. Living 6:1465515. doi: 10.3389/fspor.2024.1465515



Passungen und Anpassungen – was ist „personalisierte Medizin“ bei AD(H)S?

Katharina Liebsch

Helmut Schmidt Universität Hamburg, Deutschland

Bei der „personalisierten Medizin“ stützt sich die Wahl einer bestimmten medikamentösen Therapie nicht nur auf eine genaue Krankheitsdiagnose, sondern zusätzlich auf Charakteristika der Patient:in, die die Wirksamkeit, Verträglichkeit oder optimale Dosierung des in Betracht kommenden Medikaments beeinflussen können. Dabei besteht die Erwartung, dass Diagnostikum und Therapeutikum optimal aufeinander bezogen sind. In Deutschland ist ein solches Passungsverhältnis bislang für 133 verfügbare Medikamente beschrieben, von denen die meisten im Bereich von Krebserkrankungen, vereinzelt auch zur Medikamentierung von HIV und MS eingesetzt werden (www.vfa.de/personalisiert). Entkleidet man das Stichwort einer „personalisierten Medizin“ seiner neurobiologischen Voreingenommenheit, dann betont es eine medizinische Haltung, die schon immer zum Ethos einer „sprechenden Medizin“ gehört: die Abstimmung einer Behandlung auf die einzelne Patient:in und deren konkrete Lebenssituation.

Auch für den Bereich von AD(H)S – der derzeit häufigsten psychosozialen Belastung in der Lebensphase Kindheit und Jugend – wird nach der individuell stimmigen Passung von Diagnose und Therapie gesucht. Wie jedoch Kinder und Jugendliche, die im Verdacht stehen, an AD(H)S zu leiden, an Diagnose-Stellung, Therapie-Entscheidung, Therapie-Verlauf und Präventionsbemühungen beteiligt werden, ist wenig erforscht. Auch fehlt es bislang an überzeugenden Partizipationsmodellen. Unklar ist, wie sichergestellt werden kann, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen die im Prozess der Diagnostizierung erzeugte Daten-Fülle kennen und verstehen lernen.

Eine Fallvignette soll die Komplexität der Diagnose-Situation aufzeigen und beispielhaft veranschaulichen, wie Personalisierung und Individualisierung in der Praxis realisiert – oder eben verfehlt wird. Es wird gezeigt, dass das Stellen einer Diagnose als eine Urteilsbildung unter Unsicherheit darstellt, die von Aushandlungsprozessen zwischen medizinischen Experten und medizinischen Laien, den betroffenen Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und anderen Bezugspersonen begleitet ist. Solche Prozesse sind offen für eine Vielzahl von situationsspezifischen und biografischen Einflüssen, die sich auch durch die Beachtung von Standards, wie sie die Diagnosemanuale ICD-10 und DSM-IV und bieten, nur bedingt ausschalten lassen.



 
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