Zwischen Sensibilisierung und Relativierung - Rassismuswahrnehmungen von Beschäftigten in Bundesbehörden
Deike Ohse
Universität Leipzig, Deutschland
Im Kontext von antirassistischen Veränderungsprozessen in Behörden spielen die Mitarbeitenden eine zentrale Rolle: Sie repräsentieren in ihren Interaktionen den Staat, entscheiden über Zugangschancen und verfügen dabei über eigene Ermessensspielräume. Bislang liegen jedoch kaum fundierte empirische Befunde zu den Einstellungen und Erfahrungen von Behördenmitarbeitenden in Bezug auf Rassismus vor. Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Leerstelle an und verortet zentrale Befunde der InRa-Beschäftigtenbefragung 2023 im Spannungsfeld zwischen einer zunehmenden gesellschaftlichen Sensibilisierung für Rassismus einerseits und dem Fortbestehen rassistischer Wissensbestände und Aversionen gegenüber Rassismuskritik andererseits. Die quantitative Online-Befragung wurde in vier Bundesbehörden durchgeführt: der Bundesagentur für Arbeit, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Bundespolizei und dem Zoll. Dabei werden sowohl Vergleiche zwischen den Behörden als auch mit verschiedenen Bevölkerungsbefragungen ermöglicht.
Unsere Ergebnisse deuten auf Ambivalenzen in den Rassismuswahrnehmungen der Mitarbeitenden hin. So bejahen einerseits je nach untersuchter Behörde zwischen 38 Prozent und 56 Prozent der Beschäftigten die Existenz von Rassismus in deutschen Behörden. Andererseits lassen sich Relativierungen gegenüber Rassismuskritik feststellen. Zwischen 50 Prozent und 68 Prozent der Befragten befinden: „Man wird heute schon bei jeder Kleinigkeit als Rassist abgestempelt.“. Im Zusammenhang mit Rassismus in Institutionen wird darüber hinaus auch über Diversitätspolitik und den innerbehördlichen Umgang mit Vielfalt diskutiert. Unsere Studie zeigt, dass Beschäftigte, die sich als Teil einer rassifizierten Gruppe identifizieren, signifikant häufiger von beruflichen Benachteiligungen und Herabwürdigungen durch Bürger*innen berichten als Mitarbeitende, auf die dies nicht zutrifft. Der Beitrag diskutiert Widersprüche, Herausforderungen und Veränderungspotentiale im behördlichen Umgang mit (Anti-)Rassismus sowie Ansätze für künftige Forschung. Inwieweit die Beschäftigten Rassismus als Problem wahrnehmen und Veränderungsbereitschaft zeigen, könnte dabei einen erheblichen Einfluss auf die Implementierung anti-rassistischer Maßnahmen sowie innerbehördliche Dynamiken haben.
Von der Rassismusforschung zum Diversity-Training: Wissensproduktion im Modus institutioneller Transition
Hanna Grauert1, Sandrine Gukelberger2, Frank Oberzaucher3
1Universität Konstanz, Deutschland; 2Hochschule Luzern; 3Universität Konstanz
Im Zentrum des Beitrags steht eine spezifische Transition: die Vermittlung von ethnografisch generiertem Wissen über institutionellen Rassismus im Format behördlicher Diversity-Trainings. Der Beitrag fragt nach den erkenntnistheoretischen und methodischen Spielräumen praxissensibler Sozialforschung in diesem Spannungsfeld. Auf der Grundlage ethnografischer Daten, die diskriminierende und rassistische Praktiken im behördlichen Alltag rekonstruierbar machen und für Teilnehmende von Trainings aufbereitet wurden, reflektiert der Beitrag Potenziale und Grenzen der Nutzbarmachung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Das daraus entwickelte Trainingsformat verhandelt Rassismus nicht als abstraktes oder individuelles Problem, sondern als situatives Geschehen im Vollzug institutioneller Praktiken. Durch die gezielte Auseinandersetzung mit Szenen administrativer Diskriminierung eröffnen sich spezifische Reflexions- und Interventionsräume im organisationalen (Trainings-)Alltag.
Diversity hat sich in öffentlichen Organisationen als Leitkonzept etabliert, das eine gerechtere und inklusivere Arbeitswelt verspricht. Zugleich zeigen Studien (u. a. Dobbin/Kalev 2022; Bührmann 2020), dass Diversity-Schulungen in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung oftmals nur begrenzte Wirkungen entfalten. Besonders dort, wo sie standardisiert auf individuelle Einstellungen zielen, reproduzieren sie nicht selten Widerstand, Vermeidung oder inszenierte Zustimmung.
Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag alternative Ansätze vor und wirft einen soziologischen Blick auf die Transition von Forschung zu Praxis (Wolff 2008). Beleuchtet werden die konflikthaften, kontingenten und von institutionellen Erwartungslogiken durchzogenen Prozesse, in denen sich gesellschaftliche Aushandlungen um Zugehörigkeit, Positionierungen und Veränderung aktualisieren. Diese Wissensübersetzungen markieren damit eine Zone des Dazwischen – zwischen Forschung und Praxis, Kritik und Transformation, Erfahrungswissen und normativen Handlungsanforderungen.
Von der „nichtdeutschen Herkunftssprache“ zur „nichtdeutschen Erstsprache“: Was formt eine Klassifikation?
Mareike Heller
LMU München, Deutschland
Migrationsbezogene statistische Klassifikationen befinden sich im Wandel. Auf zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Kritik am Begriff „Migrationshintergrund“, vor allem als stigmatisierende und ethnisierende Kategorie, reagierte die Integrationsministerkonferenz 2021 mit der Empfehlung, künftig von „Migrationsgeschichte“ zu sprechen. Im Mikrozensus wurde „Eingewanderte und ihre Nachfahren“ neu operationalisiert (Canan/Pertschel 2023). In der Berliner Schulstatistik wiederum ersetzte die Bezeichnung „nichtdeutsche Erstsprache“ die bisher verwendete „nichtdeutsche Herkunftssprache“ (2021).
Diese Veränderungen deuten auf Verschiebungen im gesellschaftlichen Spannungsverhältnis hin, aus dem migrationsbezogene Klassifikationen hervorgehen: Ein Konflikt zwischen der Öffnung des Staatsangehörigkeitsrechts und der Regulierung von Migration, zwischen Integration als staatlicher Aufgabe oder individueller Pflicht der Migrant:innen und ihrer Nachfahren, zwischen Gesten der Inklusion und Diskursen der Exklusion und Veranderung. Klassifikationen wie der „Migrationshintergrund“ sind in diesem Konfliktfeld „ill-structured solutions“ (Bowker/Star 2000): Sie vereindeutigen und ordnen soziale Vielfalt und bleiben zugleich deutungsoffen. Sie sind anpassungsfähig an spezifische administrative Kontexte und anschlussfähig für gegenläufige politische Projekte. Sie sind grundlegend wandlungs- und anpassungsfähige boundary objects, auch abseits der öffentlichen Neubenennungen.
Der Beitrag bettet den Wandel an der begrifflichen ‚Oberfläche‘ ein in die bestehenden Praktiken der Klassifikation, um der Frage auf den Grund zu gehen: Was formt und was verändert eine Klassifikation? Eine qualitative Analyse parlamentarischer Debatten, Datenbanken und teilnehmender Beobachtungen bei Schulanmeldungen in Berlin zeigt, wie die „nichtdeutschen Herkunftssprache“ als transitiver Gegenstand fungiert, der gesellschaftliche Deutungsmuster aufnimmt, transformiert und zwischen staatlicher Regulierung, institutioneller Praxis und alltäglicher Interaktion vermittelt. Die Macht von Klassifikationen wird als Produktion von Sichtbarkeit und organisationaler Reichweite rekonstruiert, indem die Hervorbringung und der Verlust von Deutungen in Praktiken der Klassifikation nachvollzogen werden.
Institutionalisierung von Rassismus zwischen Eingrenzung und Abwehr
Leon Rosa Reichle
IDZ Jena, Deutschland
Der Beitrag trägt auf empirischer Basis zur Klärung des Begriffs des institutionellen Rassismus bei. Er zeigt, wie Rassismus durch seine Eingrenzung und Dethematisierung in staatlichen Behörden institutionalisiert wird. Grundlage sind empirische Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojekts zur innerbehördlichen Auseinandersetzung mit Rassismus in Sozialverwaltungsbehörden und polizeilichen Ermittlungsdiensten. Die Analyse zeigt, wie Rassismus im Sinne einer Normalisierung oder „in veralltäglichten, routinisierten und nicht in Frage gestellten Praktiken“ (Hasse/Schmidt 2012, S. 886) in machtvollen, mit gesellschaftlicher Legitimität ausgestatteten Strukturen und Organisationen institutionalisiert wird.
Sowohl in der behördlichen Ablehnung gegenüber rassismuskritischer Feldforschung als auch in Aussagen, Rassismusverständnissen und Praktiken von Behördenmitarbeitenden zeichnen sich verschiedene Formen der Dethematisierung und Eingrenzung von Rassismus ab. Die Thematisierung von Rassismus wird gänzlich vermieden oder auf einen kleinen Teilbereich reduziert. Dieser umfasst individuelle, intentionale oder versehentliche rassistische Einzelfälle, die für eine gesamtbehördliche Auseinandersetzung als kaum relevant eingeschätzt werden. Auch wird die Thematisierung von Rassismus als Bedrohung von behördlicher Normalität, von Abläufen, Gewohnheiten und Funktionalität der Institutionen wahrgenommen. Da Kritik an Rassismus jedoch weiterbesteht, reagieren verantwortliche Behördenmitarbeitende mit weiteren Maßnahmen, die wir aufgrund ihrer eingeschränkten Wirkmächtigkeit als selektive Professionalisierung bezeichnen. Einzelne Mitarbeitende werden geschult und beispielsweise mit dem Bereich Antidiskriminierung beauftragt. Aufgrund ihrer beschränkten Reichweite, Ressourcen und Entscheidungsmacht bleibt ein Gros der behördlichen Strukturen davon jedoch unangetastet. Die Auseinandersetzung mit Rassismus wird auf behördliche Teilbereiche eingegrenzt. So wird im Angesicht antirassistischer Kritik der behördliche Status quo bewahrt und die behördliche Funktionalität und Legitimität aufrechterhalten, ohne grundlegende antirassistische Veränderungen einzuleiten.
(Wie) Werden rassistische Diskriminierungsfälle in Behörden verhandelt?
Josephin Wandt
Uni Leipzig, Deutschland
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Rassismus in behördlichen Kontexten häufig in subtiler Form auftritt und nur selten als solcher adressiert wird. Obwohl zahlreiche Diskriminierungserfahrungen wahrgenommen werden, finden diese kaum Eingang in formelle Beschwerdeprozesse – und das trotz des seit 2006 existierenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Daraus ergibt sich die zentrale Forschungsfrage: (Wie) Setzen sich Behörden mit rassistischen Diskriminierungsfällen auseinander?
Der Vortrag gibt Einblicke in die empirische Auseinandersetzung mit konkreten Fällen rassistischer Diskriminierung in deutschen Behörden mit Fokus auf institutionalisierte Beschwerdemechanismen. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern institutionelle Strukturen, Wissensbestände und Machtverhältnisse Einfluss auf die Wahrnehmung, Artikulation und Bearbeitung rassistischer Diskriminierungsbeschwerden haben. Die empirische Grundlage bilden qualitative Interviews sowie teilnehmende Beobachtungen.
Der erste Schritt umfasst eine Bestandsaufnahme bereits bestehender Beschwerdemechanismen. Im zweiten Schritt werden Aushandlung und Grenzen institutioneller Responsivität eingebrachter Beschwerden analysiert.
Ziel ist es, bestehende institutionelle Strukturen im Umgang mit Rassismus kritisch zu reflektieren, behördliche Responsivität sichtbar zu machen und die Wechselwirkungen von individuellem und institutionellem Rassismus herauszuarbeiten.
Diese Arbeit leistet einen Beitrag zur empirischen Erforschung rassistischer Diskriminierung und zur Weiterentwicklung antirassistischer Interventionsmöglichkeiten in behördlichen Kontexten.
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