Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH98: Veränderungspioniere und Veränderungserschöpfte. Zur Soziologie der Wahrnehmung sozialen Wandels.
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Julian Heide, Humboldt-Universität zu Berlin
Chair der Sitzung: Thomas Lux
Chair der Sitzung: Katja Schmidt, Humboldt-Universität zu Berlin
Chair der Sitzung: Linus Westheuser, Humboldt-Universität zu Berlin
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Wenn Wandel überfordert: Zur Konzeption, sozialen Strukturierung und politischen Relevanz von Veränderungserschöpfung

Julian Heide, Thomas Lux, Katja Schmidt, Linus Westheuser

Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland

Sozialer Wandel ist eine Grundeigenschaft moderner Gesellschaften. Seit den 1990er Jahren lässt sich jedoch ein Dynamisierungsschub beobachten. Wertewandel, Globalisierung, Migration, Digitalisierung, ökologische Transformation, Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit, Rückkehr der Ungleichheit: In ganz unterschiedlichen Bereichen kommt es nun zu fundamentalen Veränderungen, die gesellschaftliche Institutionen und individuelle Lebensweisen dauerhaft umgestalten. Wie Menschen diesen Wandel beurteilen und wie sie mit ihm umgehen, hängt stark von den vorhandenen Ressourcen, den habituellen Grundorientierungen und den biographischen Erfahrungen ab. Gerade jene mit geringem ökonomischem und kulturellem Kapital, traditionellen Mentalitäten und einer durch viele Anpassungserfordernisse geprägten Lebensgeschichte erleben die jüngsten Veränderungen als überfordernd und lehnen den Wandel ab. Es ist zudem zu vermuten, dass solche Veränderungsaversionen einen Nährboden für rechtspopulistische Parteien bilden, die in ihrer Programmatik eine Rückkehr zu alten Verhältnissen und Gewissheiten versprechen. In unserem Beitrag entwickeln wir das Konzept der Veränderungserschöpfung sowohl theoretisch als auch empirisch. Wir schlagen eine umfassende Operationalisierung vor und analysieren, welche Ressourcen, strukturellen Positionen und sozio-demographischen Charakteristika damit zusammenhängen. Darüber hinaus untersuchen wir, wie stark Gefühle der Veränderungserschöpfung mit rechtspopulistischem Wahlverhalten verbunden sind. Für unsere Untersuchung nutzen wir eine neue Umfrage der deutschen Bevölkerung, die in unserem Auftrag im Januar und Februar 2025 von forsa durchgeführt wurde.



Pioniere, Erschöpfte, Offene, Indifferente, Averse: Zu einer Soziologie der Wahrnehmung sozial-ökologischen gesellschaftlichen Wandels

Dennis Eversberg

Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Der Beitrag stützt sich auf die Forschung der Jenaer flumen-Gruppe, um einen Vorschlag zur Soziologie der Wahrnehmung sozial-ökologischen gesellschaftlichen Wandels zu machen. Er unterscheidet (a) theoretisch-deduktiv drei Modi solchen Wandels, deckt (b) induktiv-empirisch umstrittene Dimensionen desselben und deren Verdichtung zu sozial spezifischen Syndromen ihrer Bejahung, Billigung, Hin-nahme, Ablehnung, Verweigerung oder Abwehr auf, um sodann (c) aus der Interferenz von beidem Erkenntnisse zu synthetisieren.

(a) Ausgangspunkt des deduktiven Schritts ist die Annahme, dass gesellschaftliche Veränderung dieses Attribut in modernen Kontexten durch ihre Bedingtheit von einem expansiven Vergesellschaftungsmodus der permanenten Ausweitung und Steigerung von (nicht nur wirtschaftlichen) Aktivitäten verdient. Konkret beobachtbare Veränderungen sortieren sich durch dieses Prisma in drei Modi: Manifestationen expansiver Vergesellschaftung (z.B. Digitalisierung), ihre Folgekrisen (z.B. Klimawandel) und Versuche zu deren gesellschaftlicher Bearbeitung (z.B. Klimapolitik).

(b) Der induktive Schritt beruht auf Analysen einer Online-Repräsentativbefragung (n=2000, Dezember 2023). Eine Hauptkomponentenanalyse weist acht Dimensionen gegensätzlicher Haltungen zu Veränderung auf. Sie zeigt u.a., dass marktliche, soziokulturelle und wissenschaftlich-technologische Expansionsdynamiken aus Befragtensicht auseinanderfallen und dass neben Bejahung oder Ablehnung sozial-ökologischer Transformation auch Abhängigkeiten von gewohnten Praxismustern den Umgang mit Politikvorschlägen beeinflussen. An der clusteranalytisch gewonnenen Typologie von neun sozial-ökologischen Mentalitätstypen wird demonstriert, wie sich die Dimensionen zu Syndromen nicht nur von Veränderungsvorreitertum oder -müdigkeit, sondern auch von Veränderungsoffenheit, -indifferenz oder -aversion kombinieren.

(c) Der Abgleich beider Schritte erlaubt Einsichten wie die, dass Überforderung durch Manifestationen expansiver Vergesellschaftung weit, aber keineswegs universell verbreitet ist und nicht unisono mit Abwehr, sondern teils auch mit Bejahung transformativer sozial-ökologischer Krisenbearbeitung ver-arbeitet wird. Ferner sind fast alle Typen objektiv oder subjektiv in die Steigerungszwänge verstrickt, so dass große Mehrheiten Motive zu Verzögerung oder Blockierung sozial-ökologischer Transformation erkennen lassen.



Der Zwang zur Veränderung: Politikverständnisse in Ostdeutschland und die Aktualisierung von Umbruch und Transformation.

Greta Hartmann

Universität Leipzig, Deutschland

Nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes und der anschließenden deutsch-deutschen Wiedervereinigung, kam es im Osten Deutschlands zu einer tiefgreifenden Gesellschaftstransformation. Die Besonderheit dieses sozialen Wandels ist es, dass er sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit vollzog. Die Umstellung auf Marktwirtschaft erfolgte als Schock-Therapie. Gleichzeitig wurde ein für die ehemaligen DDR-Bürger*innen neues politisches System eingeführt und sie waren mit einem kulturellen Wandel konfrontiert, in dem ehemalige Statussymbole, wie etwa das Wohnen in einem Plattenbau, plötzlich entwertet waren. Von diesen tiefgreifenden Veränderungen bleib keine Biografie unberührt. Die ehemaligen DDR-Bürger*innen standen damit unter einem Zwang zur Veränderung: sie mussten für sich einen Weg finden, im neuen System anzukommen.

In meinem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, was dieser Zwang zur Neuorientierung und Veränderung für Folgen für Politik- und Demokratieverständnisse heute hat. Ich nehme dabei eine Perspektive „von unten“ auf sozialen Wandel ein. Grundlage des Beitrags sind 20 biographisch-narrative Interviews mit Personen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind und zur Zeit der „Wende“ bereits mitten in ihrem Berufsleben standen. Diese „mittlere Generation“ ist in besonderer Weise von (erwerbs-)biografischen Brüchen betroffen.

Der Beitrag geht also qualitativ-empirisch der Frage nach, wie das Erleben großer Transformationen und biographischer Brüche gedeutet wird. Daran anschließend frage ich, welche Rolle dies für das Verständnis von und Verhältnis zur Politik der Interviewten hat und inwiefern darin auf die Erfahrung von Umbruch und Transformation Bezug genommen wird. Die aktualisierende Perspektive bietet damit Potenzial, die Überlagerungen verschiedener sozialer Veränderungsprozesse und Krisenerfahrungen in den Blick zu nehmen und zu fragen: Führt der erlebte Zwang zur Veränderung zu Veränderungsaffinität oder zu Veränderungserschöpfung und was bedeutet dies für das Verhältnis der Interviewten zur Politik?



Die Urbanisierung des Landes als Gegenstand regressiver Verlusterzählungen

Valentin Domann, Franziska Fröhlich

Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland

Wird gesellschaftlicher Fortschritt oft mit metropolitanen Zentren in Verbindung gebracht, vollziehen sich entscheidende gegenwärtige Transformationen, insbesondere der Energiepolitik, in der Fläche. Auch in anderen Dimensionen, so die Perspektive der planetaren Urbanisierung, werden ländliche Räume vielerorts in globale Stoff-, Informations- und Warenströme integriert, urbanisiert und erleben so einen fundamentalen Funktionswandel (Brenner und Schmid 2011). Dieser materialisiert sich im Ruralen etwa in neuen Berufsgruppen, neuen oder neu genutzten Infrastrukturen, die als Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Arrangements und räumlicher Praxis besondere Aufmerksamkeit seitens der radikalen Rechten erfahren (Eichenauer et al. 2018). Ihre Mobilisierung stützt sich auf bereits etablierte lokale Deutungsmuster, die diese Prozesse als Verlust des Ländlichen verstehen und vielfach anschlussfähig für anti-urbane Narrative sind (Domann 2024).

Wie aktuelle soziologische Debatten zeigen, sind Verlusterfahrungen als zentrale Aspekte für die politische Einordnung gesellschaftlicher Wandungsprozesse sowie als erkenntnisreiche Perspektive in der Analyse jener zu verstehen (Reckwitz 2024). Auf das Rurale gerichtet, scheint hier ein Dialog mit sozialgeographischen Perspektiven besonders vielversprechend, die vorschnellen Essentialisierungen entgegentreten und „das Land“ als stets sozial produziert und umkämpft begreifen (Woods 2010). Wir analysieren Verlusterzählungen der Urbanisierung des Landes daher im Kontext affektiver und infrastruktureller Territorialisierungen (Autor*innenkollektiv Terra-R 2025).

Die präsentierten Ergebnisse basieren auf zahlreichen, qualitativen Interviews (teilweise Längsschnitt), die in Ostbrandenburg (2019-2024) geführt wurden. In ihnen zeigt sich, wie sozialräumliche und biographische Faktoren die Deutung gesellschaftlichen Wandels als Verlust beeinflussen. Entlang von Erzählungen zu Infrastrukturen der Energiewende, zunehmendem motorisierten Verkehr und dem Zuzug urbaner Milieus zeigen wir, wie sich aus Verlustgefühlen einer ländlichen Lebensweise ein Anti-Urbanismus verdichtet, der sich gegen eine Vielzahl von Veränderungen richtet. Diese Kulturalisierung und Essentialisierung räumlicher Verhältnisse von „Stoffwechselpolitiken“ (Schaupp 2024) birgt regressives Potenzial, das in Teilen von lokalen radikal-rechten Akteur:innen gestärkt wird.



Krisenerschöpfte und politischer Rückzug nach der Pandemie. Subjektive Krisenerfahrungen und langfristige Folgen für politische Teilhabe

Piotr Kocyba, Johannes Kiess

Universität Leipzig, Deutschland

In Zeiten eines beschleunigten, multiplen gesellschaftlichen Wandels wird eine "transformational fatigue" für den Rechtsruck mitverantwortlich gemacht. Stark verkürzt lautet häufig das Argument: Die vergangenen und anstehenden Transformationen evozieren bei "zurückgelassenen" Personen Ressentiments und führen in der Konsequenz zu einer Abkehr von einem sich quasi selbst desavouierenden Liberalismus. In unserem Beitrag wollen wir solchen und ähnlichen Analysen nicht widersprechen, allerdings eine ergänzende Perspektive zur Diskussion stellen: Gefühle der Überforderung und Erschöpfung führen nicht ausschließlich zu einem autoritären Aufbegehren, sondern auch zu einem schleichenden Rückzug aus öffentlicher Teilhabe. Im Zentrum unseres Beitrags stehen Eltern schulpflichtiger Kinder sowie Jugendliche, da beide Gruppen die pandemiebedingten Einschränkungen in besonderem Maße als belastend erlebt haben. Viele Teilnehmende berichten von einem "inneren Abschalten", dem bewussten Verzicht auf Nachrichtenkonsum oder Teilhabe am politischen Diskurs. Dies wird nicht als aktiver Widerstand oder offene Ablehnung, sondern als Form des Selbstschutzes und Bewältigungsstrategie begriffen und kann als Ausdruck eines über Jahre aufgebauten Krisen- und Wandelüberdrusses verstanden werden. Unser Material zeigt auch, dass weitere Krisen - etwa der Krieg in der Ukraine - vor dem Hintergrund der Pandemiebelastung als gänzlich Überforderung wahrgenommen werden. Die politische Öffentlichkeit verliert so jene Stimmen, die sich weder radikalisieren noch zivilgesellschaftlich organisieren, sondern im Schweigen zurückziehen. Mit dem Konzept der "politischen Erschöpfung" wollen wir diese stille, schwer greifbare Form demokratischer Erosion analytisch fassbar machen.