Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH92: Transitionen von Stadt, Konflikt und politischer Gewalt
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Sybille Frank, TU Darmstadt
Chair der Sitzung: Sebastian Kurtenbach, FH Münster
Chair der Sitzung: Jona Schwerer, TU Darmstadt
Chair der Sitzung: Anna-Lisa Müller, Universität Bielefeld
Chair der Sitzung: Mina Godarzani-Bakhtiari, Technische Universität Berlin
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

‚Sehen wir Rassismus erst, wenn’s knallt?‘ Über Aushandlungsprozesse in der Migrationsgesellschaft am Beispiel rassistischer Anschläge

Anna-Lisa Müller

Universität Bielefeld, Deutschland

Aushandlungsprozesse sind konstitutives Element von Gesellschaften. Durch sie entsteht eine Gesellschaft in der spezifischen Form, durch sie verhandeln Gesellschaftsmitglieder ihre sozialen Positionen und Rollen, entstehen Strukturen, Institutionen und daraus Machtverhältnisse sowie soziale und funktionale Differenzierungen. Teil derartiger Aushandlungsprozesse sind Konflikte: Konflikte um Ressourcen, um Repräsentanz, um gesellschaftliche Sichtbarkeit, Positionen und Positionierungen. Durch Aushandlungsprozesse wird auch das Selbstverständnis einer Gesellschaft konstituiert, und ein Blick auf die Konflikte in diesen Aushandlungsprozesse kann helfen, die Strukturierungen der Gesellschaft zu verstehen und zu erklären, wie gesellschaftliche Transformationen vor sich gehen.

Aufbauend auf diesen Annahmen diskutiere ich am Beispiel der heutigen Gesellschaft in Deutschland, auf welche Weise Aushandlungsprozesse für das Verständnis dieser Gesellschaft als Migrationsgesellschaft konstitutiv sind und welche Bedeutung migrationsbezogene Konflikte dabei spielen. Diese Konflikte sind dabei sozial im weitesten Sinne und politisch im engeren Sinne, geht es doch dabei um Frage von Teilhabe, Repräsentanz und struktureller (Un-)Gleichheit. Ich ziehe rassistisch motivierte Anschläge der jüngeren deutschen Vergangenheit heran und arbeite mit ihrer Hilfe heraus, auf welche Weise sie den gewalttätigen bis hin zu tödlichen Ausdruck eines Konflikts darstellen, der auf extreme Weise gesellschaftliche Zugehörigkeit und Sichtbarkeit herausfordert und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse befeuert. Durch den Blick auf diese Anschläge gerät auch die Ebene der Städte als Orte von Konflikt und politischer Gewalt in den Mittelpunkt der Analyse. Der Nexus von Stadt, Konflikt und politischer Gewalt entfaltet, so meine abschließende These, aufgrund des spezifisch materiell-räumlichen Settings von Städten besondere Wirksamkeit für die Aushandlung einer Gesellschaft als Migrationsgesellschaft. Auf der Bühne der Stadt und durch die städtische Materialität können Konflikte und Formen politischer Gewalt dauerhafte Sichtbarkeit erhalten, es werden aber auch Aushandlungsprozesse durch Raumnahmen oder explizite Bezugnahmen auf Orte transformiert, verstärkt oder invisibilisiert. Auf diese Weise wird etwa Rassismus in der Migrationsgesellschaft Deutschland nicht nur dann sichtbar, ‚wenn’s knallt‘.



Das visuelle Re-Making polizeilicher Gewaltereignisse im urbanen Raum

Mina Godarzani-Bakhtiari

Technische Universität Berlin, Deutschland

Mediatisierung verändert die Art und Weise, wie städtische Ordnung verhandelt wird. Dies gilt insbesondere auch für das Phänomen der Gewalt, für das in einem triadischen Verständnis (Koloma-Beck 2011; Lindemann 2017) die Beobachterperspektive eine konstitutive Rolle spielt. Visuelle Technologien ermöglichen Gewaltereignisse visuell zu dokumentieren, Plattformen wie YouTube erlauben, die Aufnahmen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Dies drängt insbesondere polizeiliches Handeln in eine neue Sichtbarkeit (Goldsmith 2010). Ein prominentes Beispiel dafür ist der Mord an George Floyd, bei dem die Aufnahme und Verbreitung eines Smartphone-Videos zur Black Lives Matter-Bewegung führte.

Gleichzeitig sprechen visuelle Daten nicht für sich und werden aufgrund digitaler Manipulationsmöglichkeiten zunehmen in Frage gestellt. In diesem Kontext sind neue Organisationen entstanden, die sich auf die Analyse urbaner polizeilicher Gewaltereignisse mittels visueller Technologien spezialisiert haben. Ein Teil dieser produziert im Anschluss an ihre Investigationen selbst Videos in denen sie darstellen, wie sie die Gewaltereignisse durch visuelle Daten rekonstruieren. Diese Organisationen wie Forensic Architecture, das Visual Investigation Team der New York Times oder polizeiliche Produzenten von sogenannten "Critical Incidents Videos", verfolgen unterschiedliche Ziele: FA ist hegemoniekritisch, das Team der New York Times agiert journalistisch-investigativ und die Polizei versucht Transparenz zu demonstrieren.

Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierungen können diese Videos der Organisationen als Teil einer neuen kommunikativen Gattungsfamilie verstanden werden, die ich als Meta-Artefakte bezeichne (Godarzani-Bakhtiari, im Erscheinen). Sie alle kreisen um die Fragen: Wie ist das Gewaltereignis abgelaufen? War die angewandte Gewalt legitim? Interessanterweise greifen sie dabei auf, was in den Sozialwissenschaften als "spatial turn" bezeichnet wird: Da Handeln und damit auch Gewalt immer räumlich ist (Löw 2001), nutzen die Ermittler:innen den Raum als praktische Ressource durch welchen sich Gewalthandeln rekonstruieren lässt. Basierend auf empirischen Analysen der Investigationsvideos der drei Organisationen diskutiere ich die Auswirkungen und Wechselwirkungen, die sich aus dem Zusammenspiel von Mediatisierung, polizeilichen Gewaltereignissen und urbanem Raum ergeben.



Räumliche Perspektiven auf Radikalisierung und Prävention

Sebastian Kurtenbach

FH Münster, Deutschland

Radikalisierung ist ein Phänomen, das sich ungleichmäßig über die Stadtteile einer Stadt verteilt, und diese Ungleichverteilung hat Ursachen und Folgen, die in der Radikalisierungsforschung bislang noch wenig Beachtung gefunden haben. Hier kann auf Erklärungen der soziologischen Stadtforschung zurückgegriffen werden, welche räumliche Einflüsse auf soziales Handeln bereits seit Langem intensiv erforscht. Allerdings besteht hier die Lücke, dass kaum Studien zur Anfälligkeit für Radikalisierung vorgenommen wurden. Dementsprechend werden mit der evidenzbasierten Untersuchung zu räumlichen Einflüssen auf die Anfälligkeit für Radikalisierung Fortschritte sowohl in der soziologischen Stadtforschung als auch in der Radikalisierungsforschung erzielt.

Grundlage des Beitrags sind Befunde einer breiten empirischen Analyse von drei Stadtteilen. Dazu werden Bevölkerungsbefragungen (je Stadt, n = 2.000), Interviews mit Fachkräften der Sozialen Arbeit sowie Teilnehmenden und Nicht-Teilnehmenden an sozialen Angeboten in den Untersuchungsstadtteilen sowie Befunde einer jeweils einjährigen ethnografischen Untersuchung pro Stadtteil vorgestellt. Die Perspektivenvielfalt der Untersuchung zeigt ein umfassendes Bild über den Zusammenhang zwischen Radikalisierung und Raum, unterstreicht aber auch die Notwendigkeit, kontextuelles Wissen zur Interpretation lokaler Herausforderungen zu generieren.

Auf Basis der Befunde wird auch ein neuer Ansatz sozialräumlicher Radikalisierungsprävention formuliert. Dieser ist so strukturiert, dass er grundsätzlich an jedem Ort implementierungsfähig ist, sodass eine tatsächliche Prävention mit dem Aufbau präventiver Strukturen vor Ort gelingen kann.

Ergebnisse der Studie zeigen, dass es Kontexteffekte auf die Anfälligkeit für Radikalisierung gibt, aber auch, wie der Raum als Ebene für Präventionspraxis und -politik genutzt werden kann. Der Beitrag schließt mit der Formulierung weiteren Forschungsbedarfs zu Radikalisierung und Raum.



Transitionen öffentlicher städtischer Räume nach terroristischen Anschlägen

Sybille Frank, Jona Schwerer

TU Darmstadt, Deutschland

Terroristische Anschläge in Städten sind in der Regel auf symbolisch bedeutsame öffentliche Räume sowie die mit diesen Räumen verknüpften urbanen Lebensweisen gerichtet. Stadtgesellschaften stehen in Anschluss an terroristische Ereignisse vor der Herausforderung, mit den erfahrenen gewaltvollen Einschnitten in den städtischen Alltag angemessen umzugehen. Dabei kommen in der Regel unterschiedliche und potenziell konflikthafte Vorstellungen über den Umgang mit terroristischen Gewaltakten zum Ausdruck. Eine häufige Strategie ist es, den städtischen Alltag, wie er sich vor dem Angriff zeigte, im Sinne eines „Weiter so“ oder „Jetzt erst recht“ wiederherzustellen. Dieser Wunsch kollidiert jedoch regelmäßig mit dem Bedürfnis bzw. der Pflicht, den Opfern des Anschlags durch sichtbare Erinnerungsangebote vor Ort ein würdevolles Gedenken zu bewahren – was die bisherige Gestalt des Ortes verändert. Nicht zuletzt rücken mit dem Erfordernis der Prävention vergleichbarer Anschläge Sicherheitsfragen in den Mittelpunkt, die sich in Form von Sicherheitsarchitekturen manifestieren, welche jedoch ihrerseits potenziell Unsicherheit signalisieren können. Alle obengenannten Umgangsweisen mit terroristischer Gewalt in Städten gehen mit spezifischen Transitionen der attackierten Räume einher, deren gegenwärtige Bedeutungen und Gestaltungen sowie die sie prägenden sozialen Praktiken im Widerstreit unterschiedlicher Zielsetzungen nicht nur symbolisch neu ausgehandelt, sondern auch baulich-räumlich sichtbar und plausibel gemacht werden müssen.

Der Beitrag präsentiert Ergebnisse des laufenden Forschungsprojekts „The Heritage of Terrorist Attacks in Urban Public Space“, das als Teil des BMBF-geförderten Forschungszentrums „Transformations of Political Violence“ (TraCe) die Auswirkungen der terroristischen Anschläge mit Fahrzeugen auf Fußgängerbereiche in Nizza (2016), Berlin (2016) und Barcelona (2017) untersucht. Mit einem Fokus auf verschiedene baulich-räumliche Formen der Erinnerung an die Anschläge sowie Prozesse der Versicherheitlichung analysiert der Vortrag, wie der Umgang mit den terroristischen Gewaltakten an den angegriffenen Orten jeweils ausgehandelt wurde, und wie sich Transitionen städtischer öffentlicher Räume durch terroristische Gewalt in unterschiedlicher, je spezifischer Weise widersprüchlich manifestieren.