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AdH91: Transitionen von Expertise: Wandel und Krise von Wissens- und Expertenkulturen?
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Transitionen von Expertise: Eine Einführung Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutschland Dieser Beitrag führt in das Thema und den Ablauf der Ad-Hoc-Gruppe ein. Neben aktuell zahlreich diskutierten Krisen wird seit einiger Zeit auch die Herausbildung einer veritablen Wahrheitskrise diagnostiziert, die die Grundlagen der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu gefährden droht. Die These von einer Krise der Wahrheit ist vor allem im Zuge von Diskursen über Fake News, alternative Fakten, Postfaktizität und einer endemischen Ausbreitung von Verschwörungsnarrativen in den vergangenen Jahren verstärkt ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Debatten gerückt. Dabei wird auch konstatiert, dass etablierte epistemische Autoritäten – wie etwa wissenschaftliche Expert:innen oder die klassischen Professionen – aktuell einen wachsenden Vertrauensverlust erleiden. Forciert werde dieser Trend nicht zuletzt auch durch den digitalen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas), die Entstehung von Meinungs-Bubbles, Echokammern und Selbstbestätigungsmilieus in sozialen Netzwerken und neuen digital vermittelten Info-Kanälen. Mit der Zunahme von Fakes und manipulierten Fakten durch KI und maschinell erzeugten Bildern, Videos und Chatbots droht sich dieser Trend potenziell weiter zu verstärken. Damit rücken grundlegende Wissensfragen und Konflikte um Expertise(n) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ausgehend davon möchten wir uns in der hier vorgeschlagenen Ad-hoc Gruppe intensiv und kontrovers mit dem Wandel und der (vermeintlichen) Krise von heutigen Wissens- und Expertenkulturen beschäftigen. Wir möchten in dieser Ad-Hoc-Gruppe vor allem auch den Zusammenhang zwischen epistemischen Konflikten und aktuellen gesellschaftlichen sowie politischen Polarisierungsprozessen ins Zentrum der Diskussion rücken. Hierbei wäre es unseres Erachtens besonders wichtig zu erörtern, inwiefern und, wenn ja, inwieweit die beobachtbaren epistemischen Konflikte auch mit allgemeineren gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen in Beziehung stehen. Konstellationistische Entscheidungslogiken: Der Video Assistant Referee (VAR) als paradigmatisches Beispiel epistemischer Transitionen Friedrich-Schiller-Universität Jena Die zunehmende Technisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse zeitigt grundlegende Verschiebungen in den Wissensordnungen und Expertenkulturen spätmoderner Gesellschaften. Paradigmatisch lässt sich die Transition erfahrungsbasierter, situativ geschulter Expertise hin zu parametrisch gestützten Entscheidungsnetzwerken am Beispiel des Video Assistant Referee (VAR) im professionellen Fußball beobachten. In unserem Beitrag analysieren wir ausgehend von der (neo-)phänomenologischen Unterscheidung von ‚Konstellation und Situation‘ Hermann Schmitz’ den VAR als exemplarischen Fall eines digitalen Konstellationismus, in dem der situative, involvierte und interpretative Charakter schiedsrichterlichen Expertenwissens auf eine quantitative, diskrete und exakte Logik der Entscheidungsfindung reduziert wird. Die Figur der Schiedsrichterin wandelt sich idealtypisch von einer ‚hermeneutischen Dirigentin’ hin zu einem ‚parametrischen Accountant‘. Diese Transition von der erfahrungsbasierten, hermeneutischen Schiedsrichterin zur technisch-vernetzten, parametrisch informierten Entscheidungsinstanz verdeutlicht somit eine grundlegende Verschiebung: Kontextsensibles, erfahrungsbasiertes Wissen wird zunehmend durch eine standardisierte binär strukturierte, digitale Entscheidungslogiken ersetzt. In unserem Vortrag demonstrieren wir, dass der VAR symptomatisch für gegenwärtige Auseinandersetzungen um epistemische Geltungsweisen ist – insbesondere im Spannungsfeld zwischen Objektivitätsanspruch und Multiperspektivität, zwischen doxa und episteme, Neutralität und Parteilichkeit. Während die Einführung des VAR auch maßgeblich unter Verweis auf die vermeintliche Limitierung, perspektivische Begrenztheit, mögliche Parteilichkeit und vermeintliche Fehleranfälligkeit des ‚Faktors Mensch‘ begründet wird, werfen die parametrischen Wissensnetzwerke des VAR Fragen nach technischen „biases“, strukturellen Verzerrungen und epistemischer Unverfügbarkeit auf. Am Beispiel des VAR lassen sich somit exemplarisch Ambivalenzen und Tendenzen einer konstellationistischen Wissensgesellschaft analysieren und immanent – gemessen an den eigens formulierten Maßstäben und den praktischen Folgen – kritisch reflektieren. Die Überforderung des Honest Broker. Beratung und Entscheidung in der Pandemie Universität Wien, Österreich Angesichts epistemischer Deutungs- und Geltungskonflikte steht beratende Expertise vor Herausforderungen. Sie muss zwischen politischer und epistemischer Autorität, zwischen wissenschaftlicher Qualität und politischer Nützlichkeit vermitteln. Wissenschaftliche Politikberatung muss diese Herausforderungen in ihrer Praxis lösen. Dies lässt sich über die Ebene von Beratungsmodellen erfassen: Expertise braucht Modelle für den Umgang mit den zum Teil widersprüchlichen Anforderungen. Das vermutlich bestbekannte Beratungsmodell ist der „Honest Broker of Policy Alternatives“ (Pielke). Das Modell empfiehlt BeraterInnen, Entscheidungsoptionen anzubieten und die Entscheidungen dann den PolitikerInnen zu überlassen. Entscheidungen sind in diesem Beratungsmodell also Sache der Politik, nicht der Expertise. Damit gibt Pielke Antworten auf zwei zentrale Fragen der Praxis: Wie sollen sich individuelle ExpertInnen angesichts der skizzierten Spannungsverhältnisse verhalten? Und wie kann das Verhältnis Wissenschaft-Politik als BeraterIn gedacht werden? Mit Blick auf die Corona-Pandemie werde ich zeigen, dass die von Pielke favorisierte idealtypische Haltung der Entscheidungsenthaltung zu kurz greift: Einerseits ermöglicht eine solche Haltung der Entscheidungsenthaltung eine administrative Kontextsteuerung und Politisierung der beratenden Expertise und entzieht sie andererseits der Kritik. Das heißt, die Praxis wissenschaftlicher Politikberatung wird von administrativen Entscheidungen gestaltet, die auch in epistemischer Hinsicht bedeutungsvoll sind. Expertise wird auf diese Weise von Entscheidungen geprägt, ohne dass dies den beteiligten Akteuren überhaupt bewusst wird. Basierend auf Ergebnissen unserer Untersuchung des zentralen österreichischen Pandemie-Beratungsgremiums GECKO (Bogner & Buntfuß, 2023) und gestützt auf die pragmatistische Wissenschaftsphilosophie von Matthew Brown werde ich argumentieren, dass das Beratungsmodell des Honest Broker mit den aktuellen Herausforderungen beratender Expertise überfordert ist. Dennoch braucht Expertise pragmatische Modelle, um mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen – vielleicht mehr denn je. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Pandemie kann Anstöße für eine entscheidungs- und kontingenzsensitive Reflexion über Modelle wissenschaftlicher Politikberatung in Zeiten von Konflikten um Expertise geben. Wrecking the world or wrecking the economy? Konturen einer politischen Wissenstheorie umweltökonomischer Expertise Goethe Universität Frankfurt, Deutschland “Good policies must lie somewhere between wrecking the economy and wrecking the world” – in dieser plakativen Aussage des Umweltökonomen William D. Nordhaus (2013: 76) lässt sich das Gros der ökonomischen Modellierung ökologischer Krisen illustrieren. Nordhaus suggeriert eine Entweder-Oder-Politik, in welcher das antagonistische Verhältnis von Ökonomie, Umwelt, Wissen(schaft) und Politik eingeschrieben ist. Allerdings ist diese Perspektive nicht ambivalenzfrei: einerseits wird der (Umwelt-)Ökonomik eine zentrale, ja alternativlose, Autorität in der Produktion von belastbarem Handlungswissen im Zeitalter des Anthropozäns beigemessen. So werden Kalkulationen von Ökosystemdienstleistungen (ÖSD) oder Integrated Assessment Models (IAMs) als zentrale Werkzeuge der Bearbeitung existenzgefährender sozial-ökologischer Krisen angesehen. Andererseits kommt der (Umwelt-)ökonomik und ihren Protagonist*innen eine besondere Rolle “umstrittener Expertise” (Büttner und Laux 2021) zuteil, die auf jeweils verschiedenen Ebenen “Wissenskonflikte” (Bogner 2021: 18) ausfechten. Der Beitrag entwirft eine Kartographie ökonomischer Expertise im Kontext der Bearbeitung ökologischer Krisen. Der Beitrag basiert auf einem gouvernementalitätstheoretischen Ansatz, der mit Sensibilitäten der Science and Technology Studies (STS) in Dialog gebracht wird. Dieser interdisziplinäre Zugang ermöglicht es, die komplexen Transformationen umweltökonomischer Expertise seit den 1960er Jahren und die Konflikthaftigkeit von Experten- und Handlungswissen nachzuzeichnen. Der Beitrag zeigt zunächst die konstitutive Rolle von Metaphern und Bildern der Transitionsrhetorik ökonomisch-ökologischer Rationalitäten und den weltgestaltenden Charakter ökonomischer Modelle auf. Die ökonomischen Rationalitäten lassen sich in drei Intervalle einteilen: der Kalkulierbarkeit (1960-1970er), Regierbarkeit (1980-frühe 2000er) und Investierbarkeit (Mitte 2000-Gegenwart) natürlicher Umwelten. Für jedes Intervall zeigt der Beitrag prävalente “Wissenskonflikte” auf - innerdisziplinär, im Dialog mit anderen Wissenschaften (vor allem Natur- vs. Sozialwissenschaften) und im Dialog mit Gesellschaft und Politik. Abschließend wird der Beitrag mit einem programmtischen Anspruch die Konturen einer politischen Wissenstheorie der Umweltökonomik als “empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie” (Beck 1986: 12) ausloten. Vertrauenskrise im Transitionsraum: Expertise, Gegenwissen und digitale Autoritäten in der Energiewende Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) – am GFZ Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutschland Die Energiewende stellt nicht nur eine technologische und ökonomische Herausforderung dar, sondern auch eine tiefgreifende epistemische: Wer gilt wann und wo als Expert*in? Welche Wissensformen werden als legitim aner- kannt, welche marginalisiert oder delegitimiert? Der Vortrag analysiert am Beispiel der Energiewende in ländlichen Regionen die aktuellen Umbrüche in der Struktur gesellschaftlicher Wissens- und Autoritätsverhältnisse. Er zeigt, wie klassische wissenschaftlich-technische Expertise unter Druck gerät, wie sich lokale Gegenwissen-Formationen herausbilden und welche Rolle digitale Medien bei der Transformation von Expertenkulturen spielen. Die zentralen Argumentationslinien dieses Beitrages sind: 1. Digitalisierung als Katalysator epistemischer Pluralisierung 2. Lokale Gegenexpertise als sozialer Konfliktmodus 3. Krise der Faktizität und Polarisierung des Wissens 4. Erosion und Rekonfiguration von Expertenkulturen 5. Demokratische Spannungslagen 6. Neue Vermittlungsakteur*innen und Formate Zwischen Korrektiv und Konfliktfaktor: Faktenchecks als epistemische Autoritäten in digitalen Öffentlichkeiten 1bidt - Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation, Deutschland; 2Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Deutschland Der im Zuge des „postfaktischen Zeitalters“ diagnostizierte Autoritätsverlust wissenschaftlicher Expertise markiert eine zentrale Krise gegenwärtiger Gesellschaften. Auch wenn dieser Prozess nicht erst mit dem Aufkommen von Fake News, Verschwörungsideologien oder Desinformation begann, beschleunigt er sich durch digitale Plattformen und deren dynamische Kommunikationsformen. Professionelle Akteure (Wissenschaftler:innen, Journalist:innen, Politiker:innen etc.) geraten zunehmend in Auseinandersetzungen um die Bewertung und Einordnung von Informationen. Ihre epistemische Autorität wird häufig in Frage gestellt – nicht nur von wissenschaftsfeindlichen Akteuren. Eine zentrale Rolle bei der Verteidigung von epistemischer Autorität spielen mittlerweile Faktenchecks für die Interpretation, Bewertung und Einordnung von (vermeintlichen) Falschinformationen. Ihr Bestreben ist es, eine für Dritte klare Erkennbarkeit von „Fakten“ (im Sinne „korrekter“ Informationen) im Unterschied zu Desinformation zu erzeugen. Unser Beitrag analysiert Faktenchecks aus einer (Wissens-)Soziologischen Perspektive. Wir gehen von der Annahme aus, dass Faktenchecks kommunikativ als epistemische Autoritäten auftreten und dabei Eigenlogiken etablieren, die nicht nur zur Klärung beitragen, sondern auch Kontroversen oder Polarisierung fördern können. Öffentliche Informationen lassen sich nämlich mitunter nicht immer eindeutig binär in Fakten vs. Falschinformationen einteilen. Auch wenn wir Faktenchecks für ein wichtiges und unverzichtbares Instrument gegenwärtiger Online-Kommunikation halten, so ist aus unserer Sicht ebenfalls notwendig, die mit ihnen einhergehenden (latenten) Effekte auf Online-Diskurse und ihrer kommunikativen Weiterverarbeitung zu verstehen. Am Beispiel des Massakers von Butscha untersuchen wir, wie institutionelle Faktenchecker vorgehen, wie sie Beweise prüfen und welche kommunikativen Folgen dies hat. Aber auch Einzelpersonen als „zivile Faktenchecker“ beanspruchen epistemische Autorität, verweisen auf eigene Recherchen und widersprechen sich gegenseitig. Sowohl professionelle als auch zivile Faktenchecks oszillieren zwischen evidenzorientierter Aufklärung und latent konfliktverschärfender Kommunikation. Sie agieren nicht nur als Korrektiv zu Desinformation, sondern auch als neue Akteure im Feld der digitalen Wahrheitssuche – mit eigenen Strategien, Logiken und Effekten. |