Veranstaltungsprogramm

Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung.
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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH90: Transitionen on Rewind: Videoanalysen von Übergangsphänomenen
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Rene Tuma, TU Berlin
Chair der Sitzung: Christian Meier zu Verl, Universität Konstanz
Chair der Sitzung: Ajit Singh, Universität Duisburg-Essen
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Multimodalität im ‚All is Data‘ der Grounded Theory - Zur Berücksichtigung digitaler Besonderheiten bei der Analyse parasozialer Interaktionsmomente in YouTube-Videos

Nico Maximilian Steinmann

Technische Universität Dortmund, Deutschland

Die Digitalisierung hat zahlreiche gesellschaftliche Transformationsprozesse initiiert u.a. in der Kommunikationsweise, die durch (Instant-)Messaging-Dienste sowie durch das Aufkommen Sozialer Medien verändert wurde. Häufig werden hier verschiedene Modalitäten kombiniert und hypertextuelle Verweisstrukturen genutzt, die die Charakteristik der Inhalte mitbestimmen. Sowohl Multimodalität als auch Hypertextualität und plattformspezifischen Einbettungen stellen spezifische Herausforderungen für die Datenerhebung und -auswertung dar.

Eine vielfach genutzte Plattform ist der Webvideodienst YouTube, auf dem Videos oft von Nutzenden produziert werden. Typischerweise werden Bild und Ton, oft auch Text miteinander verknüpft. Dies wirft Fragen zur Analyse einzelner oder mehrerer Modalitäten und ihrer (interdependenten) Bezugnahme zueinander auf. Die Möglichkeit, einzelne Modalitäten getrennt oder gekoppelt zu betrachten, hängt von der Option des Zurückspulens und erneuten Betrachtens des Materials ab. Wie können Transitionen zwischen Modalitäten systematisch in den Auswertungsprozess integriert werden?

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich typische Modi der (Selbst-)Inszenierung und dramaturgischen Gestaltung auf YouTube entwickelt. In den Videos finden sich häufig Momente parasozialer Interaktionen. Dabei werden das Handeln und die Motive der Zuschauenden bei der Videoproduktion berücksichtigt. Personen in den Videos adressieren (non-)verbal & multimodal ein nicht körperlich anwesendes Publikum, das Reaktionen nur medial vermittelt zurückmelden kann.

Der Beitrag beleuchtet, basierend auf einem laufenden Promotionsprojekt zum Zusammenspiel von Inszenierungs- und Bewertungshandeln in güterzentrierten YouTube-Videos, Fragen zu einem systematischen Umgang mit Modalitäten in der Datenauswertung. Die Perspektive stützt sich auf die kodierenden Verfahren der Grounded Theory, insbesondere auf Überlegungen zur audiovisuellen Grounded Theory (AVGTM). Der Leitlinie des ‚All is Data‘ folgend, wird erörtert, wie Modalitäten bei der Analyse eines Videos getrennt/gemeinsam betrachtet und kodiert werden können/müssen sowie welche Konsequenzen sich für entsprechende Kodesysteme ergeben. Weiterhin wird diskutiert, welche Rolle Text, Ton und Bild bei der Konstruktion parasozialer Interaktionsmomente spielen.



Online-Reparaturvideos: „Werkeln“ an Alltagsgegenständen anleiten

Ronja Trischler

Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland

Der Reparatur von Alltagsgegenständen kommt, wie sich in internationalen Bestrebungen auf ein „Recht auf Reparatur“ sowie zivilgesellschaftlichen Reparaturinitiativen abzeichnet, derzeit eine wichtige Rolle in der Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme zu. Reparaturwissen wird in diesem Kontext insbesondere durch Online-Technologien translokal und auch für Lai:innen zugänglich: Wenn Alltagsgegenstände kaputt gehen, können ihre Besitzer:innen über Plattformen oder Apps auf Reparaturhilfe etwa in Form von Tutorials, Foren oder Anleitungen zugreifen. Eine populäre Form stellen Online-Videos dar. Ihre Analyse ergänzt die Untersuchung sozialer Übergänge per Video um das Verständnis, wie materielle Veränderungen an Dingen, die Alltagspraktiken ermöglichen, dokumentier- und kommunizierbar gemacht werden. Der Beitrag analysiert dazu eine Auswahl an Online-Reparaturvideos als spezialisierte Form von Online-Teilnehmer:innenvideos (Schmidt & Wiesse 2019) und fragt, wie in ihnen Reparaturpraktiken von Alltagsgegenständen angeleitet werden. Wie u.a. in den Science and Technology Studies dargelegt wurde, basiert Reparatur auf der lokalen Anwendung von Objekt- und Reparaturwissen – und ebenso auf dem mehr oder weniger reparierbaren Objekt selbst, dessen taktiler Wahrnehmung und gestischen Fähigkeiten der Reparierenden, dem Werkzeug(-gebrauch) sowie kognitiv-emotionaler Involvierung (Dant 2010; Graham & Thrift 2007). Der Beitrag stellt dar, wie sich die Materialität der Reparaturpraxis als Problem wie Ressource für die Video-Anleitungen zeigt: Das semiotisch-materielle „tinkering“ bzw. „Werkeln“ am Objekt wird in den Videoanleitungen sequenziert, um materielle Veränderungen darzustellen, die intendierte (und vorhergehende) Nutzungsweisen der Alltagsgegenstände (wieder) möglich machen. Es wird ein starres, binär gedachtes Verhältnis zwischen Erneuerung und Erhalt aufgebrochen, wenn Reparatur als Teil der Aneignungs- und Nutzungspraktiken begriffen wird, die zu Innovationsprozessen dazugehören (Jackson 2014; Schubert 2021). Der Beitrag schlägt vor, Online-Reparaturvideos als soziotechnische Teilnehmer:innen-Methoden zu betrachten, die materielle Veränderungen dokumentier- und kommunizierbar machen, indem sie sie sequenzieren.



Kollektiv im Übergang: Mikroanalysen zur situativen Irritation und Reorganisation am Kapitol

Christina Fischer

Hochschule Fulda, Deutschland

Die metaphorische Bezeichnung eines Protestereignisses als „Sturm“ evoziert bestimmte Erwartungen an dessen Dynamik und Verlauf – nämlich eskalierendes Geschehen mit dem Ziel langfristiger politischer oder sozialer Transformation. Eine qualitativ fundierte Videoanalyse ermöglicht es, solche Vorstellungen zielgerichteter, kollektiver Handlungen entlang der Auswertung situativer Mikroprozesse differenzierter zu betrachten. Dies soll im hier vorgeschlagenen Beitrag basierend auf Videoaufnahmen vom „Sturm des Kapitols“ aus dem Jahr 2021 geschehen. Aus dem Material geht folgende Beobachtung hervor: Auf der Außenseite des Kapitols zeigen sich die Demonstrierenden gewalttätig und scheinen als geeintes Kollektiv zu agieren, sie zerstören Presseequipment und schlagen Fenster sowie Türen ein, um ins Innere zu gelangen. Nach dem überraschend erfolgreichen Eindringen jedoch zeigen sich die Personen rat- und orientierungslos, verunsichert ob des weiteren Vorgehens. Es lässt sich eine Diffusion der Großgruppe in Kleingruppen und Einzelpersonen beobachten. Im vorgeschlagenen Beitrag soll gefragt werden, welche Rolle Diskontinuitäten im Geschehen einnehmen und wie diese entstehen und verarbeitet werden.

Die Möglichkeit, mit der „Rewind“-Option sequenziell zurückzuspulen, erweist sich dabei als analytisch besonders ergiebig: Sie macht sichtbar, wie sich plötzliche räumlich-atmosphärische Brüche mit interaktionalen Reorganisationsprozessen überlagern und entfalten. Diese Dynamiken lassen sich theoretisch durch die Verschränkung mehrerer Perspektiven fassen: „Rhythmic entrainment“ (Collins 2012) beschreibt die affektive und körperliche Synchronisation innerhalb der Menge vor dem Eindringen; das Konzept der „Plötzlichkeit“ (Hoebel 2014) greift jene Irritationsmomente auf, die durch den abrupten Wegfall vertrauter, situativer Elemente im Innenraum entstehen. Nach der Irritation zeigt sich eine Phase erhöhter Kontingenz (Ermakoff 2015; Luhmann 1984), in der zuvor wirksame gemeinsame Orientierungen abebben und situatives Handeln zunehmend uneindeutig wird. Die mikroanalytische Perspektive ermöglicht dadurch eine differenzierte, theoriebasierte Einsicht in kollektive Dynamiken unter Bedingungen plötzlicher Kontextveränderung – jenseits linearer Eskalationsmodelle oder vereinfachender Kollektivzuschreibungen.



Sichtbare Übergänge von Gesprächsformen. Teilnehmerstatus als ein konstitutives Merkmal von projektiven Gattungen

Jonas Kramer

Universität Bielefeld, Deutschland

In unserem kommunikativen Alltag sind wir stetig mit Transitionen konfrontiert und stellen diese aktiv her: So wechseln wir Aktivitäten, Themen und Gattungen. Als Alltagsakteure können wir meist benennen, wenn sich das Thema einer Unterhaltung verändert. Unklarer wird es, wenn sich nur die Form des Gesprächs ändert.

Die methodische Herstellung solcher Übergänge soll Gegenstand dieses videoanalytischen Vortrags sein. Wie werden Übergänge von einer kommunikativen Form in eine andere organisiert, wenn sich nicht das Thema der Unterhaltung, sondern die Gattung des Gesprächs verändert? Welchen Beitrag leisten nonverbale Phänomene zur Organisation von Transitionen? Und was verrät die Organisation solcher Übergänge über die konstitutiven Merkmale von Gattungen?

Als Fall dient ein Gespräch im privaten Alltag einer dreiköpfigen Familie über eine geplante Abschlussfeier. Die Daten wurden im Rahmen des Forschungsprojekts "Planning-in-Action: Die kommunikative Verfertigung von Zukunft in projektiven Gattungen" (2021-2024; Leitung Prof. Dr. Ruth Ayaß, Universität Bielefeld) generiert. Das Projekt wird finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Es widmet sich den Formen des Sprechens über künftige Handlungen in alltäglichen Kontexten, also den kommunikativen Formen, mit denen Interagierende im Alltag ihre Handlungen vorbereiten, antizipieren und planen.

Im Verlauf der untersuchten Interaktion verschiebt sich die Gesprächsform von dem Bericht eines geplanten Vorhabens zur gemeinsamen Planung jenes Vorhabens, also einer projektiven Gattung (Ayaß 2021). Dabei lässt sich der Moment identifizieren, in welchem die Rezipientin ihren Teilnehmerstatus von einer passiven in eine aktive Gesprächsbeteiligung wechselt und sich dadurch auch die Gattung ändert.

Der Vortrag zeigt die Methoden z. B. Change-of-State Tokens (Heritage 1984) auf, mittels derer der Übergang organisiert wird. Dabei werden besonders die sequentielle Organisation und die Verschränkung verbaler und nonverbaler Kommunikation betrachtet, welche die Veränderung hervorbringt. Durch die Verschränkung dieser Ebenen können Erkenntnisse sowohl über die subtile Organisation funktionaler Übergänge innerhalb derselben Themen gewonnen werden, als auch über das spezifische Problem, welches kommunikativ gelöst wird. Auf diese Weise zeigen sich so konstitutive Merkmale von Gattungen.



Zur planerischen Konstruktion transitiver Räume: videographische Perspektiven auf "Ortsbegehungen"

Marie Heppner, Ajit Singh

Universität Duisburg-Essen, Deutschland

Planen lässt sich als eine kommunikative Praxis betrachten, durch die Übergänge gestaltet werden. Wenngleich damit ein Aktivitätsmodus charakterisiert ist, dessen primäre Ausrichtung in die Zukunft verweist, markiert Planung immer auch einen Zustand des sozialen, zeitlichen und räumlichen „Dazwischen“. Dies gilt besonders für die professionelle Planung von Räumen, Gebäuden oder Infrastrukturen. Die geplanten Objekte und die damit verwobenen Wissensformen sind im Prozess ihrer Gestaltung veränderbar, vorläufig und Gegenstand situativer Bedeutungskonstruktionen. Anhand videographisch erhobener Daten möchten wir aufzeigen, wie im Feld der professionellen Planung (u.a. Architektur, Tragwerksplanung etc.) solche Übergänge sozio-materiell hergestellt und lokal ausgehandelt werden. Den exemplarischen Fall bilden sogenannte „Ortsbegehungen“, in deren Verlauf die Planer*innen die räumlich-materiellen Gegebenheiten ‚realer Orte‘ erkunden und vor dem Hintergrund ihres professionellen Wissens begutachten und ordnen. Dabei stellen wir zunächst die Frage, wie Räume in ihrer Plan- und Veränderbarkeit interaktiv hergestellt werden und welche Wissens- und Handlungsformen dabei kommunikativ relevant gemacht werden. Ins Zentrum unserer Betrachtung rücken die spezifischen kommunikativen Handlungen der Raum- und Bestandserfassung. Besonderes Augenmerk kommt der leiblich-sinnlichen Dimension des professionellen Handelns und des inkorporierten Erfahrungswissens zu, durch die die Transitivität von Räumen kommunikativ d.h. entwerfend und imaginierend hergestellt wird. Die Ortsbegehung, als eine mobile Methode des Feldes mit eigenen epistemischen Relevanzen, erweist sich dabei selbst als eine komplexe, transitive Praxis, die sich durch die gleichzeitige Bearbeitung von raum-zeitlichen Fragmentierungen, (fachlichen) Perspektivendifferenzen, wechselnden Wahrnehmungsfokussierungen und kommunikativer ‚Zerstreuung‘ kennzeichnet.

Im Vortrag zeigen wir damit einerseits empirisch, wie Planer*innen Räume sinnlich und sinnhaft erschließen und deren transitives Potential im Zuge kollaborativer Aushandlungen gemeinsam situieren. In theoretischer Hinsicht möchten wir abschließend andiskutieren, inwieweit die videographische Untersuchung transitiver Prozesse und Handlungsformen auch einen möglichen Beitrag für eine Theorie des sozialen Wandels leisten kann.



Verkörperte Transitionen in der Physiotherapie – Videographische Zugänge zur sozialen Konstitution von Körperwahrnehmungen

Clemens Eisenmann1,2

1Universität Konstanz; 2Universität Siegen

Alltägliche verkörperte Arten und Weisen des In-der-Welt-Seins, wie jemand etwa von einem Stuhl aufsteht oder eine Einkaufstasche nach Hause trägt, bleiben zumeist selbstverständlich und unhinterfragt und werden somit selten Gegenstand soziologischer Analysen. Dabei können sich relevante Übergänge dieser Körperwahrnehmungen relativ schleichend, bspw. beim Altern oder im Training, aber durchaus auch abrupt vollziehen, wenn sich solche Selbstverständlichkeiten etwa nach einem Unfall gänzlich auflösen und neue Umgangsformen mit dem eigenen Körper erlernt werden müssen. Der Beitrag widmet sich in diesem Zusammenhang intendierten und angestrebten Transitionen und Transformationen von Bewegungsgewohnheiten und -möglichkeiten in der professionellen Praxis der Physiotherapie, die darüber hinaus auch Einblicke in die grundlegende soziale Konstitution von multisensorischen Körperwahrnehmungen ermöglichen.

Hierzu werden videographische Aufzeichnungen von Therapeut-Klient-Interaktionen in der Körpertherapie fokussiert, in denen Übergänge zu neuen und alternativen Bewegungsmöglichkeiten und Körperwahrnehmungen erprobt, sukzessive ausgehandelt und wechselseitig beobachtbar und bearbeitbar gemacht werden. Mit welchen inkrementellen Schritten und welchen multimodalen Ressourcen wird Selbstverständliches hinterfragt und wie werden überaus subjektive Wahrnehmungen, wie etwa Schmerzempfinden, in der sozialen Interaktion transformiert und zum Gegenstand der wechselseitigen Wahrnehmung von Therapeut-Innen und Klient-Innen? Insbesondere in therapeutischen Lehr- und Lernsituationen zeigen sich solche Übergänge, deren flüchtige und multimodale Gestalten in der detaillierten Videoanalyse zugänglich werden. Der Beitrag diskutiert aber auch die Grenzen von Videodaten und die Berücksichtigung komplementärer Zugänge, um im Sinne sensorischer und gegenstandsangemessener Ethnographien insbesondere multisensorische Zusammenhänge, auch jenseits des Seh- und Hörbaren, zum empirischen Gegenstand zu machen. Die Frage nach der Transition von Körperwahrnehmungen, die in sozialen Situationen konstituiert und vollzogen werden, bietet abschließend auch einen theoretischen Beitrag zur Diskussion einer körperlichen Kontingenz des Sozialen.



Identitäten im fortwährenden Übergang: Videoanalysen von Interaktionen mit Menschen mit Demenz

Christian Meier zu Verl, Selçuk Çiloğlu

Universität Konstanz, Deutschland

Dieser Beitrag fragt empirisch, wie soziale Identitäten von Menschen mit Demenz in Interaktionen konstruiert werden. Die Konstruktion von Identitäten wird interaktionstheoretisch als eine Leistung aller Interaktionspartner:innen mit und ohne Demenz verstanden, die Bedingungen voraussetzt, die mit einer Demenz und deren Verlauf zunehmend prekär werden. Situative Identitätskonstruktionen vollziehen sich immer vor einem Horizont vergangener und erinnerter Identitätskonstruktionen (eine Ausnahme stellt die allererste Begegnung dar). D.h., Interaktionspartner:innen begegnen sich mit einem erinnerten Wissen über die eigene Identität und die Identität des Gegenübers. Dieses Wissen wird z.B. durch sprachliche Praktiken der Selbst- und Fremdbeschreibung im Gespräch zwischen den Interaktionspartner:innen sozial ausgehandelt und (re-)aktualisiert. Wie in Interaktionen mit Menschen mit Demenz Identität zu einem problematischen Phänomen für alle Interaktionspartner:innen werden kann und welche körperlichen und sprachlichen Praktiken sie sich wechselseitig für eine Reparatur von Identitätsvorstellungen verfügbar machen, wurde bislang kaum untersucht. Dabei befinden sich demenzbedingte Identitätsvorstellungen in einen fortwährenden und nicht unproblematischen Übergang und können von den Interaktionspartner:innen nicht mehr als ein geteilter Common Sense unterstellt werden. Auf der Grundlage von videoanalytischen Verfahren, der Konversationsanalyse und der Membership Categorization Analysis zeigen wir, welche Praktiken zu Identitätskrisen führen und welche Praktiken Identitätskrisen reparieren können.



Videoanalysen zwischen Gegenwart und Geschichte

Bernt Schnettler

Universität Bayreuth, Deutschland

Ob es sich bei den in der jeweiligen Gegenwart zu beobachtenden Phänomenen um Übergangsphänomene handelt, ob sie also zu einer wesentlichen Veränderung der Situation führen, lässt sich aus der Beobachtung der je aktuellen in situ ablaufenden sozialen Interaktion nicht bestimmen. Dazu ist es vielmehr nötig, sich dieser Ereignisabfolge aus der Distanz – unter anderer Optik – erneut zuzuwenden. Transitionen als Prozesse, in denen es zu mehr als nur nebensächlichen Modifikationen, nämlich zu grundlegenden Transformationen kommt, sind deshalb notwendig auf eine rekonstruktive Perspektive angewiesen, die die Beobachtung des Aktuellen in seiner Dynamik in den Rahmen bestimmter zeitlicher Horizontmarken setzt.

Videoanalysen stützen sich auf audiovisuelle Daten, deren sequenzanalytische Auswertung prädestiniert dafür ist, soziale Prozesse in ihrem Verlaufscharakter zu untersuchen. Dieser Vorzug kommt insbesondere bei sozialen Vorgängen zeitlich beschränkter Dauer zum Tragen, die sich methodisch sehr exakt und detailreich analysieren lassen und zu entsprechenden ertragreichen Ergebnissen für die Analyse unmittelbarer sozialer Sphären führen.

Videoanalysen stoßen jedoch an enorme Herausforderungen, wenn es um soziale Vorgänge geht, die sich über mittlere oder lange Dauer entfalten. Ob also eine zu beobachtende Dynamik als Kontinuität oder Bruch, als stetig voranschreitender inkrementeller Wandel oder aber als Stagnation beschrieben werden kann, ist notwendig auf eine Betrachtung angewiesen, die die Geschichtlichkeit mit in Analyse einbezieht.

Vor dem Hintergrund unserer videografischen Forschungen zu kulturellen Veranstaltungen im Migrationsmilieu und zum Friedenprozess in Kolumbien möchte ich deshalb methodische Fragen des Zusammenhangs und der Relationierung von »Mikro«- und »Makrophänomenen« diskutieren, die für die Fortentwicklung der Videoanalyse von Belang sind und die ihre Stellung zur soziologischen Gesellschaftstheorie berühren.



 
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