Sitzung | |
AdH85: Transitionen der (Un-)Endlichkeit. Sterben, Tod und Trauer im gesellschaftlichen Wandel
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
„Ich hatte einem Kameraden.“ Der Heimtiertod im Spannungsfeld von affektiver Nähe, kultureller Symbolik und institutioneller Praxis Universität Tübingen, Deutschland Der Heimtiertod hat in den vergangenen Jahren deutlich an lebensweltlicher Relevanz gewonnen. Diese Entwicklung ist Ausdruck eines langfristigen Wandels privater und familialer Lebensformen, der nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Mensch und Heimtier verändert hat. Für ihre Besitzer:innen nehmen Hunde, Katzen und Kleintiere zunehmend den Rang von Sozialpartnern mit spezifischen Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen ein. Ihr Lebensende stellt daher nicht selten ein höchst krisenhaftes, affektuell erschütterndes Erlebnis dar, das analog zum Tod eines geliebten Menschen spezifische Trauerreaktionen hervorruft. Damit einher geht ein gestiegenes Bedürfnis nach einer als würdevoll verstandenen Bestattung, die der empfundenen Beziehungsqualität Rechnung trägt, Gewissheit über den Verbleib der körperlichen Überreste gibt und eine Alternative zu den herkömmlichen Prozeduren der Tierkörperbeseitigung verspricht. Symptomatisch für diesen Mentalitätenwandel ist die enorme Zunahme von Tierfriedhöfen in den vergangenen ca. 25 Jahren. Die zum Teil mit großem Aufwand hergerichteten Ruhestätten lassen sich als Projektionsflächen für menschliche Wünsche, Sehnsüchte und Fantasien lesen, deren Analyse spannende Erkenntnisse über gegenwärtige Formen von Trauer, parasozialen Beziehungen und Anthropomorphisierung ermöglicht. Die Gestaltungen betreffender Gräber weisen zum Teil auffällige Parallelen, aber auch einige Unterschiede zu den Beisetzungsorten zeitgenössischer Humanfriedhöfe auf. Dort verbreitete Muster und Typiken werden vom animalischen Pendant nicht nur aufgegriffen und reproduziert, sondern oftmals überspitzt zum Ausdruck gebracht – der Grad der pathetischen und emotionalen Adressierung fällt hier besonders intensiv aus. Anhand qualitativer Forschungen auf über 30 Tierfriedhöfen beschäftigt sich der Vortrag mit der sozialen Bedeutung des Heimtiertodes im Spannungsfeld von affektiver Nähe, kultureller Symbolik und institutioneller Praxis. Auf diese Weise soll ein Zugang zu einem erweiterten Verständnis von Sozialität ermöglicht werden, welches die Agency der Tiere ausdrücklich miteinbezieht. Die ‚feinen Unterschiede‘ des Trauerns? Erklärungsansätze für differentielle Trauerverläufe entlang Bourdieus Sozialtheorie TRAUERFORSCHUNGSINSTITUT kleine BLUME e.V., Deutschland Die (inter-)nationale thanatosoziologische Forschung weiß um die Individualität der Trauer und ihre Verläufe. Warum es beispielsweise manchen Trauernden schwerer fällt als anderen, den Verlust eines Menschen zu akzeptieren, hängt nach bindungstheoretischen Argumenten auch mit der Qualität der vorherigen Bindung zu den Verstorbenen zusammen. Obwohl die sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätze für das Trauerverhalten von Menschen empirisch weit fortgeschritten sind, ist eine Perspektive vergleichsweise gering ausgeprägt; nämlich die Untersuchung der Frage, inwiefern sich soziale Ungleichheiten in Trauerformen und -verläufen (intergenerational) reproduzieren. Die Form und Intensität des Trauerns oder die Wahl, Erinnerungen an Verstorbene festzuhalten, sind sicherlich individuelle Verhaltensentscheidungen aufgrund persönlicher Bedürfnisse. Mit Bourdieus Sozialtheorie kann ebenso davon ausgegangen werden, dass sich in diesen persönlichen Bedürfnissen auch soziale Zugehörigkeiten widerspiegeln. Wer also sind die Menschen, die jahrelang nicht loslassen können, im Gegensatz zu denen, deren Selbst- und Weltverlust nur von kurzer Dauer ist? Welche Trauernden stehen in Zeiten der Digitalmoderne einem KI-Avatar als postmortal kommunizierendes, digitales Abbild ihres Verstorbenen positiv gegenüber, während andere mit dieser Technologie nicht in Berührung kommen wollen? Und über welche Mischungsverhältnisse individueller Kapitalien verfügen Menschen (nicht), die an ihrer Trauer zerbrechen? Bei allen potentiellen Individualisierungsweisen von Trauer, zu deren Zunahme die Digitalmoderne zweifellos beiträgt, ist davon auszugehen, dass die individualisierten Bewältigungsformen der Trauernden auch von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit abhängen. Diesbezüglich ist zu überlegen, inwiefern sich Trauer körperlich einschreiben und weitervererbt werden kann. Ausgehend von diesen Annahmen wird im Vortrag auf die Sozialtheorie Bourdieus rekurriert. Die Möglichkeiten und Grenzen seines Konzepts des sozialen Raumes werden beleuchtet, um ein hinreichend sensibilisiertes Verständnis für die Trauer von Menschen zu entwickeln. Dabei rückt auch die Frage in den Fokus, ob die ‚feinen Unterschiede‘ der Trauer nicht verwischt werden können, weil die Trauer selbst so mächtig und eigensinnig sein kann, dass sie subtilen Trauerunterschieden nicht genügend Raum zur Entfaltung lässt. Gefangene der Vergangenheit? Über Grenzregime der Sozialontologie Universität Passau, Deutschland „Die Toten beherrschen die Lebenden“, notierte der Namensgeber der Soziologie Auguste Comte. Auf den ersten Blick sind Verstorbenen zwar keine Kommunikationspartner:innen mehr. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass soziale Verbindungen mit dem biologischen Tod keineswegs enden. Zum einen sind auch sogenannte „soziale Tode“ denkbar, die einen Menschen noch zur Lebzeit von anderen trennt; zum anderen greifen mittlerweile vielfältige Formen der postmortalen Fortexistenz, die die Trennlinie von Neben und Nicht-Leben transzendieren. Manche Personen in der Trauerphase, d.h. unmittelbar nach dem Verlust, imaginieren hypothetische Ratschläge ihrer Toten und schöpfen aus der Vorstellung einer über das Lebensende hinausreichenden Beziehung Trost (sog. continuing bonds). Andere wiederum finden auf esoterischen Wegen zu (para-)sozialen Interaktionsmöglichkeiten. Und wieder andere bedienen sich der Techniken der Künstlichen Intelligenz und begegnen Verstorbenen in Form von Bildschirmavataren, die sie mit dem Aussehen und der Stimme der geliebten Person adressiert. Dies alles widerspricht eklatant der lange z.B. in der Psychoanalyse verfolgten Haltung, man müsse nach dem Tod eine Beziehung „abschließen“. Perspektiven, den Tod nicht als Ende, sondern als Fortsetzung bestehender Beziehungen unter veränderten Vorzeichen zu betrachten, existierten bereits in den frühesten Hochkulturen. Der Tod, den Norbert Elias pointiert als „Problem der Lebenden“ bezeichnet hat, wird also bereits seit Jahrtausenden in seiner Rolle als „Kommunikationsunterbrecher“ (Luhmann) herausgefordert. Steckt darin eine nostalgische Rückwärtsgewandtheit – oder doch eine zukunftsträchtige Coping-Strategie? Es gab jedenfalls noch nie so vielen Methoden wie heute, um mithilfe von Annäherungstaktiken technischer, sozialer und kognitiver Art diese Unterbrechung zu überbrücken oder hinfällig zu machen. Damit aber wird die Frage nach dem Existenzbedingungen „des Sozialen“ zwangsläufig neu gestellt. Medienwandel und Formen des Tötens. Transformationen des herbeigeführten Lebensendes Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät Medien, Deutschland Töten ist ein Handeln an der Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben, das in ganz unterschiedlichen Formen auftreten kann – etwa als Mord, Hinrichtung, Suizid, Abtreibung oder Schlachtung. Diese Tötungshandlungen sind jedoch nicht ausschließlich das Werk menschlicher Akteure: Medien greifen in die Vollzugslogik des Tötens ein. Sie bestimmen mit, unter welchen Bedingungen, in welcher Form und in welchem Rahmen Leben beendet wird. Das Aufkommen neuer Medien kann zum einen zur Entstehung bis dato unbekannter Tötungshandlungen führen. Die Einführung der Post machte das anonyme Versenden von Briefbomben möglich; mit dem Ausbau des Eisenbahnverkehrs etablierte sich der Schienensuizid als spezifisch moderne Form der Selbsttötung; und digitale Plattformen, insbesondere soziale Medien, ermöglichen heute Livestream-Tötungen, die sich gezielt an ein Online-Publikum richten. Zum anderen verändern Medien bestehende Formen des Tötens nachhaltig. Der Malleus Maleficarum („Hexenhammer“) trug als massenverfügbares Druckwerk wesentlich zur Normierung und Ausweitung der frühneuzeitlichen Hexenverbrennungen bei. Die Einführung der Telegrafie beschleunigte militärische Entscheidungsprozesse und erlaubte ortsunabhängige Tötungsbefehle. Und mit der Etablierung audiovisueller Medien wurde die Sichtbarkeit von Tötungen über ihren Vollzug hinaus verlängert – etwa in terroristischen Anschlägen, die sich an ein massenmediales Weltpublikum richten. Schließlich strukturieren Medien, was als Tötung gilt, wem Handlungsmacht zugeschrieben wird und unter welchen Voraussetzungen letales Handeln als legitim, sichtbar oder skandalisierbar erscheint. Sie verschieben das Verhältnis von Singularität und Serialität: Während vormoderne Tötungen oft als singuläre Ereignisse verstanden wurden, ermöglichen moderne Medien ihre Verkettung, Wiederholbarkeit und Automatisierung. Der Medienwandel ist also eng mit der Entwicklung und Transformation von Tötungsformen verknüpft. Er verändert deren Reichweite, Geschwindigkeit, Sichtbarkeit und Verantwortungsverteilung – jedoch nicht in Form einer linearen Fortschrittsgeschichte. Medien lassen letales Handeln nicht verschwinden, sondern gestalten es um: Sie eröffnen neue Räume, Rhythmen und Rollen des Tötens, machen den Vollzug delegierbar oder entkörperlicht, verschieben die Relation zwischen Täter*in und Opfer und werfen neue ethische Konfliktlagen auf. Tote Technik? Künstliche Intelligenz an der Grenze des (Nicht-mehr-)Lebendigen TU Dortmund, Deutschland Vorstellungen verschiedener Formen eines Weiterlebens nach dem Tod begleiten die Menschheit bereits lange. Damit verbunden sind ebenso vielfältige Versuche, in Verbindung mit den Verstorbenen zu treten. An der Schnittstelle finden sich historisch ›Medien‹, die als Expert:innen unterschiedliche Kommunikations- und Körpertechniken verwenden, um den Eindruck einer Beziehung zwischen Lebenden und Toten plausibel zu machen. Dabei kommen auch Artefakte zum Einsatz, die mit technischem Fortschritt selbst immer mehr die Rolle des ›Mediums‹ übernehmen. Im Kontext der Technikentwicklung des vergangenen Jahrhunderts entstehen Sci-Fi-Erzählungen einer Zukunft, in der die Technologie den Alltag signifikant verändert und auch den Tod beeinflusst. Parallel beginnen transhumanistische Entgrenzungsversuche der menschlichen Kondition; Lebensverlängerung bis hin zur Unsterblichkeit durch technische Unterstützung ist dabei von hoher Bedeutung. Die Grundlagen der Künstlichen Intelligenz, wie sie heute verbreitet ist, werden bereits in dieser Zeit geschaffen. Technischer Fortschritt ermöglicht jedoch erst in den letzten Jahren einen praktikablen Einsatz von KIs im Alltag – die Systeme verbreiten sich nun aber rasant und haben bereits (bemerkt oder unbemerkt) Einfluss auf unsere soziale Wirklichkeit. Die Sci-Fi Vorstellungen der Vergangenheit bieten unterschiedlich realistische Einschätzungen der sozio-technischen Verwobenheit unserer Gegenwart; die heutige Populärkultur greift wiederum die Entwicklungen im Bereich der KI auf und deutet auch eine veränderte Rolle der neuen Medien im Bereich von Sterben, Tod und Trauer an. Tatsächlich gibt es bereits Angebote, die ein digitales Weiterleben über und in KIs versprechen, womit sich die etablierten Vorstellungen von Beziehungen zu Verstorbenen, vom Lebensende, aber auch von ›lebendigen‹ Maschinen verändern können: Was bedeutet das Eindringen einer sonst zum Alltag gewordenen Technologie für einen Bereich, der für die meisten Menschen außeralltäglich ist? Wer gestaltet dieses digitale Weiterleben und wem wird es möglich gemacht? Welche Wandlungsprozesse lassen sich in einem Feld erkennen, in dem Technik bislang eine scheinbar untergeordnete Rolle gespielt hat, sie nun aber in zunehmendem Maße selbst aktiv gestaltend eingreift? Fragestellungen dieser Art gilt es empirisch zu untersuchen: Wie wirken KIs im Feld von Sterben, Tod und Trauer? |