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AdH82: Theorie-Empirie-Verhältnisse in transitiven Zeiten? Zur Strapazierfähigkeit „Theoretischer Empirie“
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Theoretische Empirie als Schreibarbeit. Eine methodografische Exploration der Passungsverhältnisse von Theorie und Empirie. Goethe Universität Frankfurt, Deutschland Ich möchte in meinem Vortrag Theoretische Empirie einer theoretisch-empirischen Betrachtung zugänglich machen, indem ihr Ko-Konstitutives Werden als Textproduktion und ein „tatsächliches Schreibgeschehen“ (Schmidt 2016, 253) untersuche. Unabhängig von ihrer genauen Gestalt, Theoretische Empirie muss durch das Nadelöhr der Formulierung und mithilfe von Textverarbeitungsprogrammen in die lineare Form eines Textes und in die Sequenzialität von Sprache übersetzt werden. Die im CfP aufgeworfene Frage nach den (Nicht-)Passungsverhältnissen von Theorien, Methoden und Empirie, lässt sich in dieser Hinsicht reformulieren als die Frage, ‚ob es sich (schon) schreibt‘. Mit der Metapher vom Nadelöhr der Formulierung verweise ich vor allem auch auf eine zeitliche und räumliche Dimension der Theoretischen Empirie in actu. Im Gegenwartsmoment (Stern 2005) des Schreibaktes, muss das zu Schreibende verfügbar sein. Ob als annotierter (Theorie-)Text, als gekritzelte Notiz oder als codiertes Datenfragment in der Analysesoftware, erst das „Verhältnis von gegenüber- und nebeneinandergestellten Textsorten konstituiert situativ regulierbare Ökologien der Aufmerksamkeit“ (Engert/Krey 2013, 370), in welcher Theorie und Empirie als textuale Artefakte in Reichweite gebracht sein müssen. Entsprechend ist weder die Theorie noch die Empirie jeweils schon da. Sie muss durch Lese- und Schreibarbeit situativ hergestellt werden. Zur Frage nach Gütekriterien verhält sich mein Vortrag wie die Methodografie zur Methodologie (Greiffenhagen et al. 2011; Hammersley 2020). Zudem knüpft er an die auf dem Kongress geführte Diskussion zum Theorizing an (Swedberg 2014). Statt zu diskutieren, was gute, sinnvolle oder gültige Theoretische Empirie ist, begreife ich ihr Verhältnis als empirisch nachvollziehbaren Prozess. Das Verhältnis der von Strübing et al. entworfenen Hautptgütekriterien der Gegenstandsangemessenheit, theoretischen Durchdringung und empirischen Sättigung lese ich aus der Perspektive der textuellen Performanz (Strübing et al. 2018). Systems, Fire, and Dangerous Things: Ethnosemantik als Theoriemethodik Pädagogische Hochschule Thurgau, Schweiz In seiner Schrift „Women, Fire, and Dangerous Things“ zeigt George Lakoff (1990), dass kulturelle Kategorien nicht etwa Dinge anhand objektivier- und prinzipiell übersetzbarer „Eigenschaften“ sortieren. In der Dyirbal-Sprache der australischen Aborigines sortieren sich sämtliche Nomen nach einer kosmisch-universalen Vierer-Schematik von „bayi, balan, balam, bala“ (S. 92), die unter „balan“ unter anderem Frauen, Feuer und gefährliche Dinge wie Schlangen, Speere oder die meisten Vögel zu einem grundlegenden kulturellen Thema zusammenzieht und aufeinander bezieht. Methodisch wurde der Ansatz der Ethnosemantik, in dessen Zusammenhang Lakoffs Arbeiten stehen, mit den Mitteln der Linguistik stark ausgebaut (Analyse von Domänen, Attributen, Taxonomien und kulturellen Themen, siehe Werner/Schoepfle 1987a,b; für empirische Anwendungen im deutschsprachigen Raum siehe beispielsweise Maeder 1997; Bähr 1998; Maeder 2002; Franzheld 2013). Die theoretisch-disziplinären Anbindungen der Ethnosemantik zur Anthropologie und zur soziologischen Ethnographie hingegen blieben stets prekär (Hitzler/Eisewicht 2016, S. 66–70; Maeder/Brosziewski 2019). Mein Beitrag expliziert die Annahme, dass mit der ethnosemantischen Konzeption des Zusammenhangs von Sprache und Kultur noch keine spezifische Kultur- oder Sozialtheorie vorgegeben ist und sich ihr methodischer Apparat genau deswegen dafür eignet, den empirischen Gehalt von Theorien und die theoretische Relevanz empirischer Befunde wechselseitig zu explorieren. Exemplarisch soll diese These anhand eigener Forschungen im Bereich der systemtheoretischen Bildungssoziologie plausibilisiert werden. Bähr 1998 Domänen Deutschschweizer Lehrplanarbeit, Künzli/Hopman: Lehrpläne: Chur, 207-220 Franzheld 2013 Eine Ethnographie der Sprachpraxis bei Kindeswohlgefährdung ... Soziale Passagen 5, 77-96 Hitzler/Eisewicht 2016 Lebensweltanalytische Ethnographie. Weinheim Lakoff 1990 Women, Fire, and Dangerous Things. Chicago Maeder 1997 “Schwachi und schwierigi Lüüt.”. Hirschauer/Amann: Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a.M., 218-239 Maeder 2002 Alltagsroutine, Sozialstruktur und soziologische Theorie. Forum qualitative Sozialforschung 3 H. 1 Maeder/Brosziewski 2019 Ethnographische Semantik. Hitzler et al.: Kritik der hermeneutischen Wissenssoziologie. Weinheim, 429-443 Werner/Schoepfle 1987a,b Systematic Fieldwork 1 & 2. Newbury Park Mechanismen der Selbstimmunisierung: Warum empirische ‚Widerstände‘ manchmal nicht irritieren Bauhaus-Universität Weimar, Deutschland Geht man davon aus, dass jede Wissensproduktion situiert erfolgt und Theorien somit „empiriegeladen“ (Hirschauer 2008) sind, müssten die bestehenden Theorien regelmäßig nicht zu den aktuell untersuchten empirischen Feldern passen. Diese Problematik des fehlenden Passungsverhältnisses zwischen Theorie und Empirie stellt sich im Übergang zu einer tatsächlich globalen Soziologie aufgrund der Geopolitik bestehender Sozialtheorien in besondere Maße. Es gibt aber zahlreiche Studien, die die etablierten Northern Theories in Feldern des Globalen Südens relativ ungebrochen zur Anwendung bringen – dies lässt vermuten, dass ein fehlendes Passungsverhältnis in vielen Fällen nicht auffällt. Anhand von Beispielen aus eigenen qualitativen Forschungen in Südindien sowie aus anderen Studien vollziehe ich nach, warum Widersprüche nicht thematisiert werden oder wie wahrgenommene Widersprüche so interpretiert werden können, dass Forschende sich gegen die empirischen Irritationen immunisieren und die ans Feld herangetragenen Theorien ‚intakt‘ bleiben. Im Vortrag möchte ich über eine Typologie solcher Mechanismen der Selbstimmunisierung nachdenken und fragen, welchen Nutzen diese für die Güte zukünftiger Theoriebezüge haben kann: Hilft das Wissen über typische Mechanismen der Selbstimmunisierung, um Irritationen bestehender Theorien gezielter herbeizuführen? Inwiefern ist ein Blick auf solche Mechanismen auch über empirische Forschungen im Globalen Süden hinaus sinnvoll? Konstruieren oder Platzieren? Zur unterschiedlichen Logik der Theorie-Empirie-Verhältnisse von Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie HHU Düsseldorf, Deutschland Die Debatte um die wechselseitige Durchdringung von Theorie und Empirie insbesondere in der qualitativen Forschung wurde durch die Diskussion um „theoretische Empirie“ (Kalthoff et al., 2008) bereichert. Insbesondere die empirische Irritierbarkeit von Sozialtheorien wurde gegen den eher für quantitative Forschung typischen falsifikationistischen Empiriebezug profiliert und als eigenständige Logik des Theorie-Empirie-Verhältnisses bestimmt (etwa Lindemann, 2008).Während es noch viele offene Fragen zum Empiriebezug von Sozialtheorien zu klären gibt, scheint hierdurch ein gewisses Basisverständnis etabliert. Auffällig ist jedoch, dass das Wechselverhältnis von Gesellschaftstheorien und qualitativer empirischer Forschung nicht in vergleichbarer Deutlichkeit bestimmt wurde. Tatsächlich weisen Gesellschaftstheorien einen systematisch anderen Bezug zur qualitativen Empirie auf als Sozialtheorien. In dem Vortrag soll die bisherige Verengung der Debatte auf sozialtheoretische Empirie deshalb in Richtung einer stärkeren Sensibilität für die Forschungslogik gesellschaftstheoretischer Empirie erweitert werden. Dafür werde ich die Theorie-Empirie-Verhältnisse von Sozialtheorien und Gesellschaftstheorien einander gegenüberstellen und auf der Ebene der Funktionsweise ihrer Begriffe für die Gegenstandserschließung zwei verschiedene Logiken gegeneinander profilieren: Sozialtheorien folgen einer Logik der Konstruktion, Gesellschaftstheorien einer Logik der Platzierung empirischer Phänomene. Während Sozialtheorien empirische Phänomene aus theoretischen Basisannahmen (re-)konstruieren und so den Gegenstand als Gegenstand erst erscheinen lassen, sind gesellschaftstheoretische Verwendungsweisen (qualitativer) empirischer Daten durch kontextuelle Bestimmung von Daten geprägt. Gesellschaftstheorien stützen sich zwar auf sozialtheoretische Annahmen, bewähren sich aber nicht in einer bloß rekonstruierenden, sondern einer relationalen Interpretation von Phänomenen, die diese aus dem gesellschaftlichen Kontext erschließt, in dem sie stehen. Die unterschiedlichen Theorie-Empirie-Verhältnisse lassen sich an demselben empirischen Beispiel illustrieren. |