Temporärer Ortswechsel als Transition? Erkenntnispotentiale und Limitationen des Transitionskonzepts für die Tourismussoziologie
Kornelia Sammet, Uta Karstein
Universität Leipzig, Deutschland
Der Vortrag diskutiert die Potentiale des Transitionskonzepts für die Theorieentwicklung und die empirische Forschung zum Tourismus auf unterschiedlichen Ebenen. Für den Tourismus ist der Ortswechsel ein konstitutives Element. Daher stellt sich die Frage, mit welchen Veränderungen dieser raumbezogene Prozess verbunden ist, woran sich Veränderungen festmachen lassen und auf welche Weise sie sich manifestieren.
Auf der individuellen Ebene gehen touristische Reisen mit dem Übergang vom Alltag in die Außeralltäglichkeit sowie mit Erfahrungen der Kontingenz des Alltäglichen einher. Das Außeralltägliche wird in der Tourismussoziologie oft als Erholung oder Erleben kodiert oder auch als Vergemeinschaftung beschrieben. Die Reise selbst als eine Bewegung im Raum verknüpft dabei das „Hier“ mit dem „Dort“: Sie führt vom Aufbruch aus dem Alltag im „Hier“ in einen zeitlich begrenzten Zustand der Außeralltäglichkeit im „Dort“ und wieder zurück. Dadurch schafft die Reise ein „Dazwischen“, das dem liminalen Zustand, wie ihn Victor Turner beschrieben hat, nicht unähnlich ist. Zudem können die Übergänge zwischen den Zuständen durch institutionelle oder interaktive Rahmungen im Sinne Goffmans markiert und in Szene gesetzt sein.
Das Versprechen des Tourismus zielt dabei auf besondere Erfahrungsqualitäten, denen die Fähigkeit zugeschrieben wird, eine Veränderung der reisenden Person zu bewirken – etwa als „Horizonterweiterung“ (Bildungsreise), „inneres Wachstum“ (spirituelle Reise), „Bewährung“ (Abenteuerreise) usw. Im Vortrag wird erörtert, was der Transitionsbegriff für ein Verständnis von mit dem Tourismus verbundenen Phänomenen leisten kann.
,Der Tourist' als transitorische Figur
Mirjam Gräbner
TU Dresden, Deutschland
Die Figur ,des Touristen' (oder ,des Reisenden') zieht sich seit den Anfängen der Soziologie durch diverse Gesellschaftsanalysen. Der Tourist dient dabei nicht allein der Beschreibung des komplexen Phänomens Tourismus, sondern fungiert darüber hinaus als zeitdiagnostische Figur, die zur Beschreibung eines gesellschaftlichen Übergangs herangezogen wird. In meinem Beitrag untersuche ich den transitorischen Gehalt der Touristenfigur auf zwei diskursiven Ebenen: zum einen innerhalb der alternativen Reiseszene der 1970er- und 1980er-Jahre in der BRD, zum anderen im Kontext sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen. Die Touristenfigur war insbesondere in Zeitdiagnosen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts virulent. Sie wird dort als Metapher für die Lebensweise in der „flüchtigen Moderne“ (Bauman) verwendet und als moderne Kernerfahrung und -funktion definiert. Dabei steht weniger der Tourismus als komplexes Phänomen im Fokus, sondern vielmehr die Figur des Touristen als Erklärungsmuster und Vermittlungsfigur für sozialen Wandel bzw. Transition. In der Figur des Touristen werden Mobilitätserfahrungen konzeptualisiert, die paradigmatisch für die Transition der modernen hin zur sogenannten postmodernen Gesellschaft gelten. Die Figur wandelt sich dabei vom "organisierten Massentouristen" über den "individuellen Massentouristen" hin zum "Entdecker" und schließlich zum "Drifter" (Dann 2001). Konstitutiv für diese Differenzierung ist dabei die jeweilige Konfrontation mit ,dem Anderen' – der Tourist ist „der Fremde in der Fremde“ (Bachleitner 2010). Diese Verschiebung lässt sich exemplarisch im Alternativen Reisemilieu der BRD ab den 1970er-Jahren beobachten, in dem „der Tourist“ als starke Abgrenzungsfolie dient. In meinem Beitrag untersuche ich die diskursive Verschränkung zweier Ebenen: einerseits die Touristenfigur als zeitdiagnostisches Deutungsmuster gesellschaftlicher Zustandsbeschreibungen, andererseits die individuelle Reiseerfahrung in Abgrenzung zu bestimmten touristischen Selbst- und Fremdbildern. Im Zentrum steht die Frage, wie jeweils Momente des Übergangs thematisiert werden und welche Funktion der Touristenfigur dabei zukommt. Der Begriff der Transition verspricht hier einen produktiven Zugang zur Diskussion über die Verwobenheit von (diskursiv vermittelter) Erfahrung und abstrakteren Beschreibungsformen sozialen Wandels.
Rahmungen und Inszenierungen von Transition
Gerlinde Irmscher
Historisches Archiv zum Tourismus, Deutschland
Bildungsreise, spirituelle Reise oder Abenteuerreise als mögliche Generatoren von Transition werden im allgemeinen nicht mit der Vorstellung des "Massentourismus", von alljährlich wie selbstverständlich absolvierten Urlaubsreisen verbunden. Im Gegenteil, selbst deren Erholungsfunktion, die definitiv nur auf Reproduktion abhebt, ist angesichts von "Overtourism" noch problematischer geworden. Anhand des touristischen Nachlasses einer ledigen Chefsekretärin aus Essen (1923-2019), der ihre Urlaubsreisen über mehr als sechs Jahrzehnte dokumentiert und dem Historischen Archiv zum Tourismus an der TU Berlin übergeben wurde, wird die Frage diskutiert, inwiefern auch diese Reisen "bilden" und die reisende Person verändern. Überliefert sind allerdings kaum Ego-Dokumente, die Selbstreflexionen enthalten, sondern "typische" Relikte analoger Art von Urlaubsreisen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fotoalben, Postkarten, Zeitschriftenausschnitte, Reisepläne, Rechnungen, Tickets. Auf der Basis entsprechend entwickelter methodischer Zugänge lassen sich zahlreiche Rahmungen und Inszenierungen von Übergängen kleinerer und größerer Reichweite identifizieren. Diese exklusiv mit dem Reisen ermöglichten Formen von Transition können als Ursache dafür angesehen werden, dass von der Protagonistin hierfür nahezu alle zeitlichen und finanziellen Ressourcen eingesetzt worden sind (statt in Kleidung, Wohnung oder Garten investiert zu werden). Einerseits handelt es sich nur um "kleine" Grenzüberschreitungen, die die reisende Person nicht zu einer "anderen" machen konnten und sollten. Dennoch kann gezeigt werden, wie sie im Laufe der Zeit ihren lebensweltlichen Horizont überchritten hat und in ihrer Umgebung sogar zur bewunderten "Pionierin" wurde. Das wird mit der Verwendung des Begriffs "Reisebiografie" unterstrichen. Andereseits findet dieser Prozess seine Grenzen, indem nachfolgende Generationen die "Pionierin" im Ende überholten und ihr die Lust am Reisen nahmen. Wie ist dieser historisch keineswegs einmalige Effekt zu interpretieren?
Heilung oder Highlight? Lourdes als Ort religiöser und touristischer Transition
Daniel Ellwanger
Universität Leipzig, Deutschland
Der Vortrag plädiert für eine wissenssoziologische Auseinandersetzung mit den Übergängen und Grenzarbeiten zwischen touristischem Reisen und religiöser Pilgerschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie in konkreten Kontexten, durch spezifische Deutungsmuster und Legitimationsstrategien die Unterscheidung zwischen „Tourismus“ und „Pilgerschaft“ hergestellt, infrage gestellt oder durchlässig gemacht wird. Anhand des französischen Wallfahrtsortes Lourdes wird exemplarisch aufgezeigt, wie diese Grenzziehungen auf institutioneller, individueller und diskursiver Ebene ausgehandelt werden. Lourdes ist mit jährlich mehreren Millionen Besucherinnen einer der bedeutendsten Pilgerorte des katholischen Christentums. Gleichzeitig machen statistische Erhebungen deutlich, dass ein wachsender Teil der Besucherinnen außerhalb traditioneller kirchlicher Wallfahrtsorganisationen anreist – etwa als Individualreisende auf der Durchreise in französische oder spanische Urlaubsregionen. Dies stellt religiöse Autoritäten vor die Herausforderung, ihre Botschaften an ein Publikum zu richten, dessen Motivation nicht eindeutig religiös gerahmt ist. Die religiöse Deutung wird hier zum Angebot, das angenommen, umgedeutet oder abgelehnt werden kann und es scheinen hier insbesondere kommunikative Rahmungen erfolgreich zu sein, die eine therapeutische „holistische Spiritualität“ (Alana Harris) adressieren. Eine anders gelagerte Ambivalenz spiegelt sich auch in den Selbstauskünften von Pilger*innen wider, insbesondere wenn sie enttäuschende Erfahrungen im Nachhinein als „zu touristisch“ einstufen. Dadurch wird das Label „Tourismus“ nicht nur zur Differenzmarkierung, sondern auch zur Beschreibung eines als defizitär empfundenen religiösen Erlebens eingesetzt.
Der Vortrag untersucht diese dynamischen Aushandlungsprozesse mithilfe einer wissenssoziologisch informierten Perspektive auf religiöse Kommunikation und touristische Rahmung. Er fragt, inwiefern sich in der wachsenden Uneindeutigkeit religiöser Reisen Bourdieus Diagnose einer „Auflösung des Religiösen“ bestätigt – oder ob gerade die Persistenz solcher Grenzziehungen auf eine neue Relevanz religiöser Ordnungskategorien verweist.
Das transitorische Potenzial des organisierten Jugendgruppenreisens. Über Möglichkeitsräume und Fremdheitserfahrungen in jugendtouristischer Nichtalltäglichkeit
Michael Ernst-Heidenreich
Universität Koblenz, Deutschland
Der Beitrag nimmt die Reise einer neu zusammengesetzten elften Jahrgangsstufe einer weiterführenden Schule in ein Zeltlager zum Anlass, um das transitorische Potenzial organisierter Jugend(gruppen)reisen vergleichend zu systematisieren. Die Jugendlichen verlassen ihre Routinen und sozialen Bezugssysteme des Schulalltags. Im Angesicht der situativen Nichtalltäglichkeit (Ernst-Heidenreich 2019) der Inseltage ‚unterwerfen‘ sie sich dem Zeitregime und Programm einer Jugendorganisation, die das Lager verantwortet. Die Fahrt auf die Insel wird so zeitlich, räumlich und sozial zu einem liminalen Ort (Turner 1967) sozialer Verdichtung (Durkheim 1912). Die praktische Befremdung des eigenen Lebens eröffnet einen ambivalenten Möglichkeitsraum, in dem Selbst- und Fremdverhältnisse in Bewegung geraten. Dessen Spektrum umfasst Identitätsgefährdung und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, Othering und Gemeinschaftserleben sowie wechselseitige Anerkennung und kollektive Selbstüberhöhung. Diese ambivalente transitorische Wirksamkeit lässt sich auf die strukturell angelegte, symmetrisch zugängliche Erfahrung von Fremdheit im sozialen Arrangement zurückführen.
Der Beitrag diskutiert zunächst die Konsequenzen des kollektiv vollzogenen Ortswechsels als temporäre, aber umfassende soziale Verschiebung. Anschließend wird der ambivalente Möglichkeitsraum der Jugendgruppenreise typologisch durchmessen. In einem dritten Schritt wird die spezifische symmetrische Fremdheitserfahrung genutzt, um einen allgemeinen Blick auf touristische Fremdheitsarrangements zu entwerfen. Eine Reflexion der Potenziale des Jugendgruppenreisens ermöglicht eine Kritik an Enzensbergers Theorie des Tourismus (1958). Die Empirie liefert Hinweise, dass Fremdheit in touristischen Arrangements keineswegs zwangsläufig nur als „Abklatsch […] zuteil“ wird. Entscheidend ist, wie Begegnung mit Fremdheit organisiert ist – ob sie bloße Reproduktion bleibt oder als verbindliche Erfahrung ermöglicht wird. Davon unbenommen gilt aber weiterhin dessen Kritik, dass „sich die Freiheit der Jugendbewegung ohne weiteres faschistischen Zwecken aufstecken“ lässt, betrachtet man sie als „bloße Hülse“. Kurzum: Der Ort der Transition sagt noch nichts über das Vorzeichen des Übergangs aus.
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