Wandel des Hochschulstudiums und berufliches Handeln
Manfred Stock
Zentrum für Sozialforschung Halle (ZSH) an der MLU, Deutschland
Dem Verhältnis zwischen Hochschulstudium und beruflichem Handeln wird im Vortrag am Beispiel des Medizinstudiums und dessen Wandel nachgegangen.
Zunächst sollen die Prämissen aufgezeigt werden, die der Medizinerausausbildung seit dem Übergang zur modernen Forschungsuniversität zu Grunde liegen. In der Forschungsuniversität wurde ab 1850 die Medizinausbildung erstmalig systematisch mit der naturwissenschaftlichen Forschung verknüpft. Nachdem die klinische Ausbildung eingeführt worden war trat nun die Ausbildung im Labor hinzu. Abgestützt wurde dies in Preußen und dann im Deutschen Reich durch staatliche Regelungen, die diese Form der wissenschaftlichen Medizinausbildung mit der Einführung des Berechtigungswesens als ausschließliche Grundlage des Arztberufes festlegten, die klinisch-praktischen Ausbildungsphasen normierten und entsprechende Prüfungen und Zertifikate einführten. Es entstand auf diese Weise die bis heute prägende Struktur: Einem naturwissenschaftlich-disziplinlogisch ausgerichteten vorklinischem Studium folgt ein klinisches Studium mit praktischen Phasen der Ausbildung am Patienten, der schließlich eine selbständige längere praktische Ausbildungsphase angehängt wird. Die kognitiven und normativen Erwartungen, die dieser Ausbildungsstruktur bezüglich der Formierung beruflicher Handlungsfähigkeiten zu Grunde liegen, lassen sich unter dem Begriff der „Habitusorientierung“ zusammenfassen.
Derzeit wird eine Strukturänderung der Medizinerausbildung vorbereit, die mit einer neuen Approbationsordnung 2027 in Kraft treten soll. Die in der vorklinischen Ausbildung bislang stattfindende Aneignung jeweils in sich forschungsdisziplinlogisch aufgebauter naturwissenschaftlicher Grundlagenfächer wird durch den selektiven Zugriff auf kleinformatige und abgegrenzte naturwissenschaftliche Wissensbestände, die einzelnen klinischen Handlungsproblemen, z.B. konkreten Erkrankungen, zugeordnet werden, ersetzt. Dabei wird im „Masterplan zur Neustrukturierung des Medizinstudiums“, der die Neufassung der Approbationsordnung vorbereitet, auf ein Kompetenzkonzept umgestellt, das die Formierung beruflicher Handlungsfähigkeiten begründen soll. Die Habitusorientierung wird durch eine Kompetenzorientierung ersetzt. Im Vortrag wir den Implikationen nachgegangen, die sich daraus ergeben.
(Keine) Imame aus Deutschland? Zur Diskrepanz zwischen politischen Erwartungen und der Akademisierung einer deutschen Imamausbildung
Lena Dreier
Universität Münster, Deutschland
Als 2010 die ersten Studiengänge der Islamischen Theologie in Deutschland gegründet wurden, war die Erwartung hoch, man könnte damit eine akademische Imamausbildung realisieren. Insbesondere in journalistischen Veröffentlichungen wie auch von politischer Seite wurde wiederholt die Hoffnung auf demokratisch geschulte, akademisch gebildete und in Deutschland ausgebildete Imame geäußert – stets als Gegenbild zu den sog. aus dem Ausland „importierten“ Imamen. Die politische Relevanz des Themas im Zuge der affektiv-verstärkten Diskussionen um Islamismus und Islamismusprävention haben die Realisierung des Projekts Imamausbildung letztlich gefördert – doch umgesetzt werden konnte schließlich eine akademische Ausbildung islamischer Theolog:innen und Religionspädagog:innen. Eine akademische Imamausbildung konnte ausschließlich indirekt über einen der universitären Standorte umgesetzt werden und ist ansonsten weiterhin Aufgabe der islamischen Religionsgemeinschaften.
Die Diskrepanz zwischen politischen Erwartungen an die Professionalisierung und das berufliche Handeln von Imamen und der akademischen (Nicht-)Realisierung der Imamausbildung zeigt, dass politische Imperative einerseits die Imamausbildung geformt haben, dass die politischen Ansprüche andererseits durch die Hochschulen begrenzt werden. Auf der Basis von Experten- und Studierendeninterviews werden die rekursiven Veränderungsprozesse zwischen politischer Aufladung, Enttäuschung der Studierenden und disziplinärer Etablierung des Fachs rekonstruiert. Über den Fall der Islamischen Theologie hinaus soll das Verständnis dieses Prozesses Aufschluss darüber geben, wie sich politische Steuerung, Affekte und Situationen in Akademisierungsprozesse einschreiben und durch welche Formen der akademischen Wissensproduktion sie zugleich in der Hochschule begrenzt und bearbeitet werden.
Grenzzonen der Akademisierung: zur Diffusion akademischen Wissens in Bauberufen.
Alexander Mitterle
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Die deutsche Arbeitswelt befindet sich im Wandel. Neben technologischen und klimapolitischen Transformationen ist der Fachkräftemangel in Deutschland zu einem zentralen Problem geworden. Insbesondere in Ausbildungsberufen werden hierfür, neben demographischen Entwicklungen, die veränderten Bildungsaspirationen der Schüler verantwortlich gemacht. Aus der Universität wird vor einer Abwertung der Hochschulbildung, eines „Akademisierungswahns“, gewarnt (Nida-Rümelin 2014). Die Hochschulbildungsexpansion erscheint als Nullsummenspiel: Immer mehr Schüler entscheiden sich gegen eine berufliche Ausbildung und für ein Studium, das so an Wert verliere. Die weiterhin niedrige Arbeitslosigkeit und hohe statusadäquate Beschäftigung einer steigenden Zahl von Akademiker*innen weisen demgegenüber auf deren hohe Absorptionsfähigkeit in der Arbeitswelt und über Allokationsprobleme hinaus. Statt von einem polarisierenden Nullsummenspiel auszugehen, deutet vieles darauf hin, dass ausgehend von Hochschulen je spezifisch rekursive Anpassungs-, Aushandlungs- und Reklassifikationsprozesse zwischen Bildung und Arbeit stattfinden, die in zunehmendem Maße Berufe nach akademisch erzeugten, normativen und kognitiven Anforderungen strukturieren: eine Akademisierung der Arbeitswelt. Solche Prozesse der Diffusion erfolgen in Grenzzonen (Sennett 2018) akademischen Wissens. Am Beispiel des situierten, handwerksgeprägten Baugewerbes soll untersucht werden, wie Akademisierung Berufe verändert. Der Beitrag skizziert zuerst drei zentrale Grenzzonen der Akademisierung: zwischen akademischer und beruflicher Bildung (I), zwischen akademischen Disziplinen (II) und zwischen Hochschule und Berufen (III). Mit Blick auf die erste Grenzzone werden schließlich beispielhaft über historisch-rekonstruktive Verfahren der Curriculums- und Handlungsanweisungsanalyse die Inhalte akademischer und beruflicher Bildung für vier aufeinander bezogene Bauberufe untersucht, welche normativen und kognitiven Erwartungen aus dem Bildungssystem für berufliches Handeln formuliert werden und ob und wie diese aufeinander bezogen sind. Die Ergebnisse veranschaulichen so Divergenz- und Konvergenzbewegungen an den Grenzzonen unterschiedlicher Bildungsformen, welche Polarisierungsthesen problematisieren, und stattdessen Diffusionstrajektorien des Akademischen hervorheben.
Herausforderungen und Trends der Akademisierung von Gesundheitsfachberufen: das Beispiel der Hebammenausbildung
Bettina Langfeldt
Universität Kassel, Deutschland
In Deutschland findet an staatlichen und nichtstaatlichen Hochschulen ein dynamischer Ausbau praxisnaher Studiengänge statt, um die im internationalen Vergleich nachholende Entwicklung der Akademisierung von Pflege- und Gesundheitsfachberufen voranzutreiben. Das proklamierte vorrangige Ziel besteht dabei in der Verbesserung der Qualität des beruflichen Handelns. Unter dieser Maßgabe wurde im Jahr 2019 die Hebammenausbildung reformiert, als duales Studium festgeschrieben und von speziellen Hebammenschulen an Hochschulen verlegt. Wie bereits bei anderen Gesundheitsfachberufen der Fall, stellt sich auch mit Blick auf die Hebammenausbildung die Frage, ob die Akademisierung tatsächlich zu mehr Professionalisierung – oder doch nur zu mehr Zertifizierung – beiträgt. Basierend auf Ergebnissen des BMBF-geförderten Projekts „Staatliche und nichtstaatliche Hochschulen als Anbieter hybrider Studienformate in den Gesundheits- und Pflegeberufen (AGePf)“ diskutiert der Beitrag mögliche Antworten auf diese Frage.
Zunächst werden ausgewählte quantitative Ergebnisse einer umfangreichen Status-quo-Analyse des Gesamtangebots dualer Studiengänge im Hebammenwesen vorgestellt. Zur Verfeinerung dieser Analyse wurden im Zuge eines Mixed-Methods-Ansatzes qualitative Inhaltsanalysen von Akkreditierungsdokumenten der betreffenden Studiengänge durchgeführt. Da die Bezeichnung „dual“ gemäß geltender Musterrechtsverordnung nur geführt werden darf, wenn die Lernorte systematisch sowohl inhaltlich als auch organisatorisch und vertraglich miteinander verzahnt sind, wurden insbesondere diese Aspekte sowie entsprechende Akkreditierungsauflagen betrachtet. Anschließend erfolgte eine weitere Vertiefung der Angebotsanalyse durch die inhaltsanalytische Auswertung von Modulhandbüchern dualer Studiengänge in den Hebammenwissenschaften. Hierbei standen der Theorie-Praxis-Transfer und die Lernortkooperation im Zentrum. Die Befunde dieses Untersuchungsschritts werden ebenfalls präsentiert, um abschließend zu einer Einschätzung der Balance von Wissenschaftlichkeit und Praxisorientierung des dualen Studienangebots im Hebammenwesen an staatlichen und nichtstaatlichen Hochschulen zu gelangen sowie Herausforderungen und Trends der Akademisierung von Gesundheitsfachberufen zu beschreiben.
Personengebundener Wissenstransfer in Stadtplanung und Architektur: Formen und Voraussetzungen
Walter Bartl
Institut für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Das Konzept der Wissensgesellschaft hat politisch zu der Erwartung geführt, dass akademisches Wissen zu Innovationen und zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen sollte. Neben Forschung und Lehre sollen Hochschulen demnach auch Wissenstransfer leisten. Dabei ist personengebundener Wissenstransfer zentral, weil implizitem Wissen eine Schlüsselfunktion für alle anderen Formen von Wissenstransfer zukommt. Wissenstransfer impliziert nicht nur eine Praxisorientierung aufseiten der Hochschulen, sondern auch eine Wissenschafts- oder Lernorientierung aufseiten der Praxis. Es ist anzunehmen, dass diese komplementären Anforderungen besonders gut in Wissensfeldern vermittelt werden, die einen hohen Anwendungsbezug aufweisen und in denen Studiengänge auf ein relativ klares Berufsfeld vorbereiten. Niklas Luhmann hat beispielsweise vermutet, dass anwendungsorientierte Wissenschafts-Praxis-Kommunikation besonders in bereits akademisierten Handlungsfeldern gelingt. Die Gelegenheiten für eine solche Kommunikation sind jedoch nicht gleichmäßig verteilt, beispielsweise weil sich Regionen in ihrem Hochschulangebot unterscheiden und auch weil Studieninhalte historisch variieren. Der Vortrag untersucht exemplarisch Formen personengebundenen Wissenstransfers im Berufsfeld von Stadtplanung und Architektur, basierend auf einer Sekundäranalyse der Mitgliederbefragung der Bundesarchitektenkammer (BAK). Die Erhebung der BAK verfolgt zwar primär praktische Zwecke, entspricht aber gleichzeitig den üblichen Standards empirischer Sozialforschung. Dabei wird geprüft, inwiefern das regionale Studienangebot oder andere Rahmenbedingungen personengebundenen Wissenstransfer beeinflussen. Die Ergebnisse werden daraufhin diskutiert, inwiefern statistisch signifikante Variablen durch Entscheidungen – politisch oder aufseiten der Befragten – beeinflusst werden können. Zudem argumentiert der Vortrag abschließend, dass Akademisierungsprozesse eine latente Voraussetzung manifester Wissenstransferprojekte, wie etwa die datenbasierte Kommunikation zwischen einer Forschungseinrichtung und einer „forschenden Einrichtung“ (i.e., der BAK) darstellen. Die zunehmende Akademisierung lässt vermuten, dass es gesellschaftlich durchaus zahlreiche „forschende Einrichtungen“ gibt, die an Wissenschafts-Praxis-Kokmmunikation interessiert wären.
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