Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH74: Selbstbestimmtes Geschlecht? Ambivalenzen und Perspektiven geschlechtlicher Transitionen
Zeit:
Dienstag, 23.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Folke Brodersen, CAU Kiel
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

„Nicht unfreier als wir alle“ – Welches Selbst darf über das eigene Geschlecht bestimmen?

Louka Maju Goetzke

Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland

Wie prägen Konzeptionen von Gesundheit und Freiheit die Debatten und Regulierung geschlechtlicher Selbstbestimmung? Dieser Frage geht der Beitrag anhand des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft (1973 – 2006) nach. Das Institut war eine zentrale Anlaufstelle für Menschen mit Transitionswunsch, entwickelte ein eigenes Behandlungsprogramm und beeinflusste während seines Bestehens und auch darüber hinaus maßgeblich, wie Transgeschlechtlichkeit in Deutschland begriffen und behandelt wurde und wird.

Wie Transitionswünsche am Institut verstanden wurden, spielt(e) nicht nur eine wesentliche Rolle bei der Formierung diagnostischer Kriterien und medizinischer Leitlinien, sondern auch für die öffentliche Debatte und rechtliche Regulierung. Auch mit zunehmender Akzeptanz von Transitionswünschen wurden und werden somatische Transitionen als irreversibel dramatisierte Körperveränderungen an als gesund angesehenen Körpern problematisiert und so ein Verständnis von Transition als Restitution anstatt als Veränderung produziert.

Der Beitrag beleuchtet, wie am Institut darum gerungen wurde, wem warum eine medizinische Unterstützung für die Transition gewährt werden sollte. Im Fokus steht dabei, wie Kategorien von Gesundheit und Krankheit das Verhältnis zwischen Autonomie und Fremdbestimmung konfigurierten. Basierend auf einer diskursanalytischen Untersuchung wird rekonstruiert, wie die Grenzen von Selbstbestimmung anhand von Vorstellungen dazu gezogen wurden, wer als ‚frei genug‘ galt und gilt, über das eigene Leben und Geschlecht zu entscheiden. Es wird ein Paradigma bedingter Selbstbestimmung herausgearbeitet, wie es am und durch das Institut geformt wurde, indem Integrität sowohl als Ziel von Transitionen wie auch als deren Voraussetzung fungiert.



Eine rechtssoziologische Perspektive auf geschlechtliche Selbstbestimmung

Anna Kellermann

Goethe-Universität Frankfurt

Das „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG)“ trat zum 01. November 2024 durch den deutschen Bundestag in Kraft. Die Verabschiedung des SBGG durch die vergangene Bundesregierung verfolgt das „Ziel […], die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung und die Vornamenswahl von der Einschätzung dritter Personen zu lösen und die Selbstbestimmung der betroffenen Personen zu stärken“ §1 Abs.1 Satz 1 SBGG. Das SBGG löst das bis dahin geltende und vom Bundesverfassungsgericht selbst größtenteils ausgehöhlte TSG ab. Diese Entwicklung wurde durch langjährige Rechtskämpfe von Interessensvertretungen, Betroffenen und rechtspolitisch Aktiven errungen.

Der Beitrag arbeitet zunächst heraus, worauf das Grundrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung verfassungsrechtlich abstellt, und setzt dies mit den durch die Einführung des „Selbstbestimmungsgesetzes“ ausgelösten gesellschaftlichen Dynamiken ins Verhältnis. Daraus sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob und inwiefern sich durch die Einführung des SBGG die geschlechtliche Ordnung im Umbruch befindet und, falls ja, welche Fallstricke mit diesem Umbruch einhergehen. Dabei bleibt zu diskutieren, ob geschlechtliche Selbstbestimmung tatsächlich gewährt wird und inwiefern die vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2017 explizierte Möglichkeit auf die Anzeige des Geschlechts im Personenstand gänzlich zu verzichten, eine bessere Alternative zur aktuellen Regelung durch das SBGG darstellt.



Geschlechtliche Selbstbestimmung: transfeministische Kritiken und Erweiterungen.

Eric Llaveria Caselles

Technische Universität Berlin, Deutschland

Im Selbstbestimmungsgesetz wird Selbstbestimmung als die Möglichkeit definiert, Name und Geschlechtseintrag unabhängig von körperlichen Eigenschaften ändern zu können. Das Subjekt, das im Gesetz aufgerufen wird, ist ein Subjekt, der eine individuelle Geschlechtsidentität besitzt und dessen würdige Existenz die Anerkennung dieser Geschlechtsidentität einfordert. In meinem Beitrag will ich die Aufmerksamkeit auf transfeministische Theoretisierungen von Selbstbestimmung richten, die von einer Kritik von einem solchen Begriff von Geschlechtsidentität ausgehend, ein Feld von trans Politik aufmachen, die über den liberalen Rechtsrahmen hinausgeht.

Ich werde auf drei Erweiterungen eines solchen Selbstbestimmungsbegriffs eingehen. Die erste leitet sich aus trans marxistischen Kritiken, die die Einbettung von trans Existenzweisen in kapitalistischen Produktionsverhältnissen im Vordergrund ihrer Analyse rücken (z.B. bei Gleeson & O’Rourke 2021). Hier wird ein Begriff von Selbstbestimmung artikuliert, der trans Menschen als gesellschaftliche Subjekte konstruiert, deren Freiheit sich erst im Überwinden kapitalistischer Zwänge realisieren lässt. Die zweite Erweiterung folgt transfeministische Interventionen, die an der Kritik von Identität anknüpfen. Hier lassen sich wiederum zwei Varianten unterscheiden: eine gender-abolitionistische Orientierung, die Selbstbestimmung als „facelessness“ (Bey 2024) deutet; und eine materialistische Orientierung, die Transmisogynie als gesellschaftlichen Struktur begreift und die Anerkennung von trans Feminität eine besonders wertvolle Existenz einfordert (Gill-Peterson 2024). Die dritte Erweiterung leite ich aus der politischen Praxis und Theorie von Lohana Berkins und Marlene Wayar und ihr Projekt „Travesti“ als politische Identität zu artikulieren, die sowohl vom argentinischen Staat Anerkennung sucht, als auch den Staat als zentrale Unterdrückungsinstanz interpelliert. Ihr Begriff von Selbstbestimmung trägt den Zwängen Rechnung, denen sich konkrete politische Handlungsfähigkeit unterwerfen muss, um gerade in dem Aufzeigen ein utopischer Horizont am Leben zu halten.

Der Beitrag versteht sich als Intervention, der gegen die Unsichtbarmachung transfeministischer Analysen in feministischen und gesellschaftskritischen Diskursräumen und für ein erweitertes und unabgeschlossenes Begriff von geschlechtlicher Selbstbestimmung eintritt.



Individuelle Freiheiten und strukturelle Hürden. Selbstbestimmung und ihre Grenzen in Transitionsprozessen junger Menschen

Emmie Mika Stemmer

Hochschule Merseburg, Deutschland

Der Beitrag basiert auf einer qualitativen Studie des Deutschen Jugendinstituts (Stemmer et al. 2024), in der 25 trans und nicht-binäre Jugendliche und junge Erwachsene zu ihren Lebensrealitäten befragt wurden. Im Mittelpunkt des Vortrags stehen die vielfältigen Formen, in denen Selbstbestimmung im Leben junger trans und nicht-binärer Menschen sowie im Kontext ihrer sozialen, medizinischen und rechtlichen Transitionsprozesse eingeschränkt oder ermöglicht wird.

Gerade für junge trans und nicht-binäre Personen ist Selbstbestimmung dabei im Alltag kein einfach verfügbares Gut: Fehlendes Wissen bei Fachkräften, elterliche Kontrolle, Hürden bei medizinischen Transitionsmaßnahmen oder strukturelle Unsichtbarkeit ihrer Lebenswelten können trans oder nicht-binäre Menschen weiterhin fremdbestimmen. Besonders nicht-binäre Jugendliche und junge Erwachsene stoßen auf strukturelle Barrieren oder binär normierende Erwartungshaltungen.

Gleichzeitig werden aber auch Handlungsspielräume deutlich, in denen junge Menschen diese normativen Vorgaben hinterfragen und eigene Wege der geschlechtlichen Selbstgestaltung entwickeln. So berichten sie etwa davon, sich nicht nur primär über Geschlechtsdysphorie, sondern auch über Geschlechtseuphorie zu definieren, aktiv nach affirmativen Räumen und neuen Narrativen für ihr Trans-Sein zu suchen und sich dabei auch von pathologisierenden Konzepten abzuwenden.

Der Vortrag beleuchtet diese Ambivalenzen anhand ausgewählter Interviewausschnitte und fragt danach, wie Selbstbestimmung im Alltag junger trans und nicht-binärer Menschen verhandelt wird, welche Hürden existieren sowie welche Ressourcen zur Verfügung stehen. Besonders relevant ist diese Perspektive vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen um das Selbstbestimmungsgesetz, das politisch umkämpft ist bzw. war, und zwar neue individuelle Rechte schafft, aber Probleme im Alltag nicht auflöst. Die Studie liefert Impulse für die Frage, wie geschlechtliche Selbstbestimmung kontextsensibel gefördert werden kann. Dabei wird deutlich, dass eine rein individualisierte Vorstellung von Selbstbestimmung zu kurz greift. Vielmehr braucht es strukturelle Veränderungen und kollektive Zugänge, um geschlechtliche Selbstbestimmung auch praktisch zu ermöglichen.



Transition selbstbestimmt? Eine kurze Genealogie des Subjekts der Geschlechtsidentität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

Luana Pesarini

Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland

Selbstbestimmung gilt nicht nur in trans, queeren und feministischen Diskursen oft als normatives Ideal und Leitlinie für kollektives Handeln. Auch von staatlicher Seite wird das Konzept mobilisiert, wie das sog. Selbstbestimmungsgesetz verdeutlicht. Beide Verwendungen berufen sich auf das Konzept „gender“–zu Deutsch oft Geschlechtsidentität–, um ihren Forderungen Intelligibilität zu verleihen. Auch wenn die staatliche Verwendung von gender reichlich Kritik erfahren hat (etwa Spade 2011), bleibt deren grundsätzlicher normativer Status meist unberührt: Gegenüber stehen sich die „gute“ emanzipatorische Verwendung und ihre „böse“ neoliberale Usurpation. Dabei erscheint gender als „geistiges Kind“ emanzipatorischer Kämpfe, wodurch dessen Ursprung als biopolitischer Apparat der hegemonialen Geschlechterordnung sowie dessen Effekte auf Diskurse um Selbstbestimmung ausgeblendet werden (Repo 2016).

Ziel des Beitrags ist eine genealogische Befragung von gender bzw. Geschlechtsidentität als Bedingung des gegenwärtigen Diskurses um Selbstbestimmung. Über die Genese des Konzepts rund um den Macht/Wissens-Komplex der trans und inter Kliniken, feministischen und trans Aneignungen, sowie dessen Nutzen als Regierungstechnologie gelange ich zum Subjekt der Geschlechtsidentität, das zwischen Selbst- und Fremdbestimmung oszilliert. Während gender auf der einen Seite als biopolitischer Apparat der Disziplinierung und Kontrolle fungiert, produziert es gleichzeitig ein introspektives und selbst-regierendes Subjekt. Der Beitrag bezweckt nicht die Behauptung, dass der politische Nutzen von Selbstbestimmung festgeschrieben sei. Als „historische Ontologie unser selbst“ (Foucault 1984) zeigt er vielmehr auf, dass Selbstbestimmung, solange sie in einer kategorischen Verbindung zu gender bzw. Geschlechtsidentität steht, eine neoliberale Subjektformation mobilisiert, die mit einer Reihe an Ausschlüssen einhergeht. So konfrontiere ich abschließend das Konzept der Selbstbestimmung, das die Route über gender bzw. Geschlechtsidentität nimmt, mit einer Verwendung des Konzepts durch trans Aktivist*innen im Kontext des Selbstbestimmungsgesetztes, die potenzielle Öffnungen für eine alternative Figuration andeutet.

Foucault, M. 1984. “Was ist Aufklärung?” in DE IV. Suhrkamp.

Repo, J. 2016. The Biopolitics of Gender. Oxford University Press.

Spade, D. 2011. Normal Life. Duke University Press.



 
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