Sitzung | |
AdH72: Reziprozität in Transition – Wechselseitigkeiten in der Disbalance?
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
„Dann melde ich mich krank“. Fachkräftemangel in Fürsorgeberufen reziprozitätstheoretisch denken Fachhochschule des Mittelstands, Deutschland Der Vortrag beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage, wie das kümmernde Beisammesein, wie das Kümmern in Care-Berufen auf Beziehungsebene funktioniert. Im Fokus stehen dabei Kita-Fachkräfte, die mittels qualitativer Interviews befragt wurden. Der Frage, warum Kindererzieher*innen und andere Fachkräfte in Care-Berufen, trotz widriger Bedingungen, eigentlich arbeiten, wird bereits nachgegangen, nicht selten mit quantitativen Untersuchungsdesigns. Antwortversuche wurden bisher jedoch nicht in eine umfassende gabe- und reziprozitätstheoretische Perspektive eingebettet. Gabe- und (sozialwissenschaftliche) Reziprozitätstheorien erlauben die Verbindung verschiedener Faktoren und verschiedener Bezugspunkte, sofern sie auch als Netzwerktheorie benutzt werden. Auf Grundlage von Gabe- und Reziprozitätstheorien von Mauss, Gouldner, Sahlins und Caillé arbeitet der Vortrag ein Konzept heraus, das zahlreiche Kontexte der Care-Arbeit beleuchten kann. Exemplarisch dafür wird das Konzept auf den Arbeitsplatz Kita angewendet, wofür Zwischenergebnisse einer laufenden Studie referiert werden. Ein Individuum benötigt eine innere (intrapersonale) Balance für das Engagement in Beruf, Familie oder Freizeit, um die Beziehung im jeweiligen Kontext nicht abbrechen zu lassen (extrapersonale bzw. interpersonale Balance). Damit lässt sich multifaktoriell auf die Gabefähigkeiten blicken. Ein Mensch hat nur begrenzte Ressourcen zu Verfügung, um sich um Familie, Job und Freizeitengagement zu kümmern. Die Bedingungen für dieses Kümmern dürfen die Ressourcen nicht dauerhaft überschreiten, sonst kommt es zum Rückzug aus dem jeweiligen Verhältnis bzw. aus der Beziehung. Die Auswirkungen auf berufliche, familiäre und andere Verhältnisse unterliegen jedoch unterschiedlichen Einflüssen. In Care-Berufen beispielsweise wirken sich u.a. Entlohnung, Arbeitsplatzorganisation, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Selbstmanagement auf die Zufriedenheit aus. Hinzu kommt die familiäre Situation, die ihrerseits wieder in verschiedene Kontexte gedacht werden muss: die Situation der eigenen Kernfamilie, aber auch die Situation mit der Herkunftsfamilie, etc. Immer trägt etwas auf der einen oder anderen Seite der Waage der Reziprozität bei und diese Waage muss in Balance gehalten werden. Fürsorge und Widerständigkeit. Zum Bedeutungswandel des Helfens unter rechten Hegemonien Goethe-Universität Frankfurt, Deutschland Praktiken zivilgesellschaftlichen Helfens reichen von spontaner Unterstützung ausgelöst durch medial vermitteltes Leiden anderer bis zu längerfristigen und institutionalisierten Formen gemeinschaftlichen Helfens. Sie können Solidarität stiften, wenn sie von Reziprozität geprägt sind und unter Gleichen stattfinden oder einseitige Abhängigkeit und symbolische Ungleichheit, wenn sie in Form wohltätiger Gaben erfolgen. Praktiken des Helfens und ihre affektiven Quellen sind also Kritik ausgesetzt: Insbesondere wohltätiges Helfen mindere Leid nur kurzfristig, stabilisiere aber dabei den Status quo. Helfen sollte aus dieser Perspektive nur in solidarischer Form erfolgen, bei der das Ziel nicht nur die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern auch gesellschaftliche Transformation ist, die Entstehung von Hilfsbedürftigkeit abbaut. Auch die Bedeutung der Einfühlung in das Leiden anderer ist strittig: Während einige sie in ihrer Bedeutung für sozialen Fortschritt verteidigen, sehen viele darin vor allem die Fallstricke der Partikularität und schreiben ihr keinen eigenen Wert für solidarische Praxis zu. Gegenwärtig zeichnet sich jedoch ein Bedeutungswandel des Helfens ab, der in den USA besonders sichtbar wird. Dort wird institutionell durch die Abschaffung von USAID und affektpolitisch durch einen „war on empathy“ das Helfen selbst als Teil eines „civilizational suicides“ diskreditiert. Im Vortrag wird aufbauend auf reziprozitätstheoretischen Überlegungen zur Unterscheidung von Solidarität und Wohltätigkeit die neue US-Amerikanische Affektpolitik analysiert, die auf die moralischen Gefühle der Menschen und ihre Impulse anderen zu Helfen abzielt. Natur als Quasi-Subjekt – Gaben und Reziprozität im Mensch-Natur-Verhältnis Universität Hamburg, Deutschland Die ökologischen Krisen des Anthropozäns verdeutlichen, dass die moderne Trennung von Natur und Gesellschaft gescheitert ist. Während die meisten Kulturen die Natur als Gegenüber in Gabenbeziehungen verstehen – es wird von der Natur genommen, aber auch zurückgeben –, behandelt die Moderne sie als Objekt und passive ausbeutbare Ressource. Post-humanistische Ansätze fordern ein neues Verhältnis: Natur als Quasi-Subjekt mit eigener Handlungsmacht anzuerkennen. Akteur-Netzwerk-Theorien (Latour) und ökologische Symbioseforschung zeigen, dass Lebewesen und Ökosysteme keine bloßen Ressourcen sind, sondern in Ko-Evolution mit dem Menschen stehen und über Subjektivität verfügen. Der „methodologische Animismus“ schlägt vor, Natur so zu behandeln, als ob sie Subjektivität besäße, um balancierte Reziprozität praktisch zu ermöglichen. Dies bedeutet, Natur als Partnerin anzuerkennen, also Böden, Ökosysteme und Tiere als Mitwirkende zu begreifen und ihnen entsprechend auch eigene Ansprüche und Rechte zugestehen. Die Herausforderung liegt darin, diese Perspektive der Wechselseitigkeit im Verhältnis zur Natur unter modernen Bedingungen sozialwissenschaftlich wie auch praktisch umzusetzen. Zwischen wohlfahrtsstaatlichen Privilegien und globaler Verantwortung: Reziprozitätskonstruktionen im Kontext des Klimawandels Universität Hamburg, Deutschland Die Klimakrise verschärft nicht nur soziale Ungleichheiten, sondern destabilisiert auch bestehende Reziprozitätsordnungen moderner Wohlfahrtsstaaten. Wer trägt Verantwortung, wer gilt als vulnerabel, wer soll welche Lasten schultern? Der Beitrag untersucht, wie klimabedingte Risiken – verstanden als direkte Ereignisse (z. B. Extremwetter) und indirekte Folgen klimapolitischer Maßnahmen (z. B. CO₂-Bepreisung, Werksschließungen) – zu materiellen (z. B. Jobverlust, Energiearmut) und symbolischen Verlusten (z. B. Status, Anerkennung) führen, die soziale Ungleichheit auf neue Weise strukturieren. Empirisch basiert der Beitrag auf einem Mixed-Methods-Design (Bevölkerungsumfrage und Fokusgruppen) in Deutschland, Belgien und Slowenien. Er analysiert, wie verschiedene sozioökonomische Gruppen Verlustwahrnehmungen deuten und dabei Reziprozitätsnormen mobilisieren. Während einkommensschwache Gruppen vor allem materielle Sorgen artikulieren, sehen viele einkommensstarke Gruppen ihre Verantwortung durchaus ein – ohne jedoch bereit zu sein, auf Status oder Privilegien zu verzichten. Diese Asymmetrie wird öffentlich zunehmend problematisiert. Die qualitative Analyse zeigt, wie symbolische und materielle Verluste ineinandergreifen. In der Mittelschicht entsteht selbst ohne realen Abstieg das Gefühl, bisher selbstverständliche Statusansprüche – Auto, Flugreisen – zu verlieren. Andere wiederum generieren neues symbolisches Kapital durch „grünen“ Konsum und ökologisch codierte Lebensstile. Reziprozität wird so zur umkämpften Ressource im Wandel der Anerkennungsordnungen. Die nationalstaatliche Rahmung bleibt zentral: Ob Risiken kollektiv abgesichert oder individualisiert werden, hängt von wohlfahrtsstaatlichen Strukturen ab. Besonders konservative Sozialmodelle mit starker Statusbindung zeigen ein erhöhtes Konfliktpotenzial symbolischer Verluste. Klimapolitik erscheint hier weniger als Akzeptanzproblem denn als Ausdruck tiefer liegender Deutungs- und Verteilungskonflikte im Kontext ökologischer Transformation. |