Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH69: Quo vadis Ostdeutschland(forschung)? Perspektiven auf Persistenz und Dynamiken im Umgang mit dem sozialen Wandel Ost
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Hanna Haag, Frankfurt University of Applied Sciences
Chair der Sitzung: Laura Behrmann, Bergische Universität Wuppertal
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

"Treffen sich eine Ossi und ein Ös(s)i…" Den Osten von innen nach außen erzählen und erklären

Jakob Hartl1,2, Katja Klebig1

1Universität Halle-Wittenberg; 2Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Der Begriff „Transition“ zeigt den Maßstab, der bis heute an die Entwicklung Ost angelegt wird: Es wird eine Defizitperspektive im Vergleich zum Westen eingenommen, der die anzustrebende Norm bleibt. So kann vermieden werden, den Stimmenanwuchs der AfD im Osten in den Zusammenhang eines gesamtdeutschen Anstiegs rechtspopulistischer Einstellungsmuster und die Frage nach den Ursachen zu stellen, um einen Zusammenhang mit Strukturbedingungen vor Ort zu suchen: Mit dem Abbau von Infrastrukturen hinterlässt der Staat ein Machtvakuum (Mann 1984), welches häufig von der politischen Rechten zur Etablierung ihrer Strukturen genutzt wird (Heitmeyer 2014). Somit können die hohen AfD-Zustimmungswerte ebenso ein Ausdruck der durch Stigmatisierung ausgelösten Desintegrationserfahrungen sein, die wir so oder so ähnlich auch in anderen Staaten beobachten.

Dass sich 35 Jahre nach der friedlichen Revolution ein Panel auf dem Kongress der deutschen Soziologie mit Fragen der Ostdeutschlandforschung befasst, ist daher entlarvend für die intellektuelle Wiedervereinigung. Zugleich erscheint der Zeitpunkt aber opportun, da die wenigen ostdeutschen Soziologieprofessor:innen nun in ihren 50ern und mit der notwendigen Seniorität ausgestattet sind, sich selbst zu thematisieren. Andererseits ist es aber ein frappierendes Beispiel für das späte Nachholen und lange Fehlen einer Arbeit am kulturellen Gedächtnis (Assmann 2001), das Selbstthematisierung und Selbstbildthematisierung erlaubt.

In unserem Beitrag wollen wir dies, ausgehend von unseren Erfahrungen als ost- und nichtdeutsche Soziolog:innen an einer ostdeutschen Universität, diskutieren. Dazu beginnen wir mit einer Kritik der Teleologie des Transitionsbegriffs und -forschung, deren Gegenstand Ostdeutschland war und ist. Stattdessen wollen wir Parallelen und Anschlussfähigkeit zu regionalen bzw. nationalen (Des-)Integrationsprozessen in Europa aufzeigen. In einer weiteren Parallele wollen wir fragen, wo die ostwestdeutschen transclasse (Jaquet 2014) in der deutschen Soziologie sind, also die Generation der um 1970 geborenen, die gemeinhin als am transformationsfähigsten beschrieben werden. Abschließend wollen wir die zunehmende Selbstthematisierung von ostdeutschen Soziolog:innen und Soziologiestudierenden als positive und förderungswürdige Entwicklung beleuchten, die einer verknöchernden Ossifizierung entgegenwirken kann.



Die langen Spuren der „arbeiterlichen Gesellschaft“ – Ostdeutsche Deutungskulturen im Kontext anhaltender gesellschaftlicher Umbrüche

Christopher Grobys, Heike Ohlbrecht

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Deutschland

Über 35 Jahre nach der Wiedervereinigung bleibt Ostdeutschland ein prominentes Thema der Soziologie. Das anhaltende Interesse erklärt sich auch dadurch, dass der Osten trotz der Bemühungen um eine bundesdeutsche Angleichung eine sozial vernarbte, eine „frakturierte Gesellschaft“ (Mau 2020: 14) geblieben ist, deren vergangenheitsbedingte Prägungen ganz im Sinne der Bourdieuschen „konservativen These“ (Eder 1989: 9) wirksam bleiben. In unserem Beitrag schließen wir an diese These der sozialen Rigidität an und greifen das Konzept der „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Engler 1999: 173) auf, mit dem Engler den hegemonialen Sozialtypus der damaligen Gesellschaftsformation zu fassen versuchte. Vor diesem Hintergrund fragen wir, wie Menschen in Ostdeutschland die beschleunigte und globalisierte Spätmoderne erleben und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich in ostspezifischen Milieus soziologisch identifizieren lassen. Lässt sich die von Engler (1999) beschriebene arbeiterliche Gesellschaft noch heute nachzeichnen? Existiert sie womöglich fort – oder gehört sie ausschließlich der Vergangenheit an?

Wir widmen uns diesen Fragen exemplarisch anhand eines Promotionsprojekts, das die „distinktiven Deutungskulturen“ (Rohe 1996; Mau 2024: 32) zur industriellen Transformation in einer ostdeutschen Region untersucht. Konkret wird darin erforscht, welche sozialen Deutungsmuster die geplante Ansiedlung von Chipfabriken in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) prägen. Sachsen-Anhalt eignet sich für eine solche soziologische Analyse in besonderer Weise, da das Bundesland sowohl sozioökonomisch als auch soziodemografisch seit der Wende als abgehängte ostdeutsche Region gilt.

Anhand von zehn Gruppendiskussionen, rund 40 leitfadengestützten Interviews sowie einer standardisierten Fragebogenerhebung (N≈150) mit Personen unterschiedlicher sozialstruktureller Merkmale zeigen wir, wie regionale Transformationsprozesse erlebt und gedeutet werden und wie sich der regionale Sozialraum sowohl objektiv als auch subjektiv gestaltet. Dabei verbleiben wir nicht auf einer rein deskriptiven Ebene, sondern rekonstruieren die unterschiedlichen Deutungskulturen in einer genetischen Logik und verknüpfen sie mit standardisierten Daten. Unsere Analysen zeigen, dass die arbeiterliche Gesellschaft in bestimmten Zügen fortbesteht und das Handeln Ostdeutscher – wenn auch in differenzierter Form – weiterhin prägt.



Transformation in Ostdeutschland gestern und heute. Zur Diversität im Umgang mit Veränderungszumutungen

Susanne Lerche1, Nadine Jukschat1, Franz Erhard2

1Hochschule Zittau/Görlitz, Deutschland; 2Universität Siegen

Ist Forschung in oder über Regionen in Ostdeutschland Ostdeutschland-Forschung? Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen der Verbesonderung und einer adäquaten Benennung und Erklärung von Phänomenen, die ihren Ursprung in der Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands haben. In jedem Fall prägen wir als Forschende die Diskurse über Ostdeutschland mit und tragen deshalb auch über dreißig Jahre später zur (Re)Konstruktion ostdeutscher Realitäten bei.

Im Forschungsverbund BePart, gefördert durch die Richtlinie „REGION.innovativ“ des BMBF, haben wir in zwei Orten der brandenburgischen und sächsischen Lausitz untersucht, wie sich gesellschaftliche Innovationsfähigkeit in konkreten lokalen Kontexten zeigt und welche Faktoren dafür bedeutsam sind. Als ehemalige Kohleregion im Osten Deutschlands befindet sich die Lausitz seit mehreren Jahrzehnten in einem Transitionsprozess, in dem die neuerlichen Veränderungszumutungen auf Erfahrungen der postsozialistischen Transformation treffen. Im Interviewmaterial sind wir u. a. immer wieder darauf gestoßen, dass die Art und Weise, wie der Umbruch nach 89/90 kollektiv und individuell verarbeitet wurde, nachhaltige Auswirkungen auf die lokalen Transitionsstrategien hatte und hat.

Was wir vorgefunden haben, sind zwei – in wesentlichen Teilen gegenläufige – Ortslogiken mit Auswirkungen auf die lokale Governance sowie kollektive Orientierungsmuster. Das heißt, man trifft hier einerseits exemplarisch auf vielfach beschriebene, typische Erfahrungsstrukturen Ostdeutscher; und kann anderseits nachweisen, wie unterschiedlich diese den Blick auf und die praktische Bewältigung von gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen prägen.

Im Ergebnis können wir zeigen, wie ungleich ostdeutsche Kommunen im dritten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung für anstehende sozial-ökologische Veränderungen aufgestellt sind - was die Frage nach deren Umsetzung zu mehr als jener nach gezielten Investitionen macht. Vor diesem Hintergrund plädieren dafür, verstärkt mit rekonstruktiven Methoden auf die spezifischen lokalen Bedingungen zu schauen und den Blick über die augenfälligen statistischen Gemeinsamkeiten Ostdeutschlands hinaus zu erweitern auf die Diversität, die sich kleinräumig innerhalb Ostdeutschlands beobachten lässt.



Strukturen statt Stigma? Eine kritische Perspektive auf die Erforschung der Unterrepräsentation Ostdeutscher in Elitepositionen

Jan Schaller, Mara Börjesson

Hochschule Zittau/Görlitz, Deutschland

Die Diskussion um die geringe Präsenz Ostdeutscher in bundesdeutschen Elitepositionen ist in der breiteren Öffentlichkeit geprägt von individualisierenden Erklärungen: Ostdeutsche hätten „keinen Aufstiegswillen“, seien durch ihre Sozialisation konfliktscheu oder zeigten ein geringes Interesse an Macht und Einfluss. Solche Zuschreibungen verlagern die Aufmerksamkeit von strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit auf die vermeintlichen Defizite einzelner Gruppen. Der Beitrag setzt sich kritisch mit dieser Blickrichtung auseinander und argumentiert, dass durch eine Engführung auf kulturelle Dispositionen Ostdeutscher systematisch strukturelle, geografische und symbolische Ausschlussmechanismen aus dem Fokus geraten. Stattdessen wird für einen multifaktoralen Erklärungsansatz plädiert, der den verschiedenen Dimensionen und Mechanismen in ihrer Komplexität und gegenseitigen Verflechtung gerecht wird.

Ausgangspunkt ist die These, dass ostdeutsche Herkunft nicht als pathologische Ursache für geringe Repräsentation zu begreifen ist, sondern als Verdichtung vielfältiger Ungleichheitsdimensionen: fehlendes ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital, regionale Disparitäten in der Verteilung relevanter Institutionen sowie diskursive Marginalisierung fallen hier mit der räumlich-geografischen Konstitution einer Bevölkerungsgruppe zusammen. Mit dem Blick auf historische Prozesse und Dimensionen sozialer Ungleichheit lässt sich so danach fragen, wo die Kategorisierung „ostdeutsch“ (immer noch) sinnvoll ist und wo nicht. Dabei wird aufgezeigt, wie Forschung selbst zur Reproduktion dieser Deutungsmuster beiträgt, wenn sie individuelle Anpassungsleistungen in den Mittelpunkt stellt, statt strukturelle Bedingungen des Ausschlusses zu analysieren.

Der Beitrag plädiert daher für eine reflexive Wendung in der Erforschung sozialer Ungleichheit, die nicht das Verhalten marginalisierter Gruppen problematisiert, sondern die sozialen Mechanismen ihres Ausschlusses. Anhand des Falles Ostdeutschland wird exemplarisch diskutiert, wie Forschungsperspektiven verschoben werden können – hin zu einer struktursensiblen Analyse, die auch für andere gesellschaftliche Gruppen (z. B. Personen mit Migrationsgeschichte, Arbeiter:innenkinder) Anschlussfähigkeit bietet.



Theorielabor Ost – Was wir vom Osten über das Vergessen lernen können

Paul Seibicke

Universität Leipzig, Deutschland

Trotz der Relevanz ist die Forschung über Ostdeutschland überraschend repetitiv, viele theoretische Ansätze existieren schon seit den 90er oder frühen 00er Jahren. Ich möchte von diesem Problem ausgehend dafür plädieren, das Forschungsobjekt ‚Ostdeutschland‘ nicht seiner selbst willen zu beschreiben, sondern dieses viel eher als Fallbeispiel der Theoriegewinnung zu verstehen. Im Rahmen meiner Dissertation erforsche ich die ostdeutsche Nachwendegeneration ethnographisch und stelle dabei fest, dass Ostdeutschland für die erinnerungspolitischen Akteure dieser Generation politische Funktionen erfüllt. Diesem Vorbild folgend lässt sich ‚Ostdeutschland‘ auch in der Wissenschaft funktional, also als Mittel zum Zweck, betrachten.

Exemplarisch dafür ist die generationale Stufung, die ich als ‚Hierarchie des Ostdeutschseins‘ bezeichnen möchte. Diejenigen, die in der DDR gearbeitet haben, haben die Deutungshoheit darüber, wer sich als „ostdeutsch“ bezeichnen darf. Sie können den ‚Wendekindern‘ die ostdeutsche Identität absprechen, diese wiederum den Nachwendekindern und diese wiederum können festlegen, dass gleichaltrige zugezogene Westdeutsche nicht zu den Ostdeutschen gehören. So ist es möglich mithilfe des Falls Ostdeutschland den nur vage beschriebenen „sozialen Rahmen“ des kollektiven Gedächtnisses theoretisch zu erweitern und die Bedeutung kollektiven Vergessens aufzuzeigen.



Quo vadis Ostdeutschland(forschung)? - eine offene Diskussionsrunde

Hanna Haag1, Laura Behrmann2

1Frankfurt University of Applied Sciences, Deutschland; 2Bergische Universität Wuppertal, Deutschland

Im Anschluss an die Vorträge laden wir die Referent*innen ein, ihre Erkenntnisse mit kurzen Statements zu Entwicklung und Perspektiven der Ostdeutschlandforschung zu bündeln und anschließend in einer Diskussionsrunde miteinander ins Gespräch zu kommen. Fragen, die uns interessieren, sind u.a.: Wo gibt es Lücken im Forschungsfeld? Welche Art von Forschung fehlt? Auf welchen Perspektiven kann aufgebaut werden? Wie wird das Interesse und die Förderung der Ostdeutschlandforschung wahrgenommen? Im Anschluss öffnen wir die Diskussion auch für das Plenum.