Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH67: Qualitative Methoden und Gesellschaftstheorie: Notwendige Ergänzung oder unüberwindbarer Widerspruch?
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Jonas Barth, Universität Bremen
Chair der Sitzung: Johanna Fröhlich, Universität Basel
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Gesellschaftstheorie: Blinder Fleck in der Debatte um qualitative Methoden?

Jonas Barth

Universität Bremen, Deutschland

Gegenstand des Beitrags ist die Debatte um qualitative Methoden im deutschsprachigen Raum, sofern sie sich in einschlägigen Methodenbüchern dokumentiert, was ich als Hinweis auf Institutionalisierung oder Kanonisierung lese. In diesen Methodenbüchern spielen Theoriebezüge eine dramatisch wichtige Rolle, weil erst die Theoriebezüge die Frage klären helfen, welche Leistung die Methoden erbringen sollen als auch, unter welchen Bedingungen diese Leistung erbracht werden kann. Gesellschaftstheorien spielen dabei jedoch eine – wenn überhaupt – nur untergeordnete Rolle.

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung verfolgt der Beitrag zwei Ziele. In einem ersten Schritt stelle ich vor, auf welche Weise die seltenen Bezüge auf Gesellschaftstheorie erfolgen. Darin liegen bereits Hinweise für die Bearbeitung des zweitens Schritts. Hier möchte ich die Frage aufwerfen, wie die Marginalisierung des Bezugs auf Gesellschaftstheorie erklärt werden kann. Dabei lege ich Desiderate frei, die sowohl auf die Methodendebatte selbst als auch auf den Stand der Theoriedebatte in der allgemeinen Soziologie verweisen.



‚Bring Dialectics back into steam’: Ein Streitgespräch zum Verbindungspotential dialektischer Analysen in der empirischen Forschung

Jasmin Schreyer1, Dennis Eckhardt2

1FAU Erlangen-Nürnberg, Deutschland; 2FAU Erlangen-Nürnberg, Deutschland

In Anlehnung an Kants Ausspruch: ‚Anschauungen ohne Begriffe sind leer‘ und in Erweiterung mit Joas/Knöbl (2009), dass Begriffe immer schon irgendwie geartete (Alltags-)Theorien enthalten, argumentieren wir mit Adorno, dass ohne Theorie keine Erkenntnis zu haben ist (Adorno 2022). Ausgehend von qualitativen Einzelfallstudien, welche die feldlogischen Eigenheiten ernst nimmt und somit einen Transfer von Begriffen, Konzepten und Kategorien erster Ordnung in Konstruktionen zweiter Ordnung leistet (Schütz 2010), schlagen wir vor, dies als Prozessbeginn einer dialektischen Analyse zu betrachten. Denn die qualitative Einzelfallstudie gilt als das Besondere in Verbindung mit dem Allgemeinen, allerdings reicht die Betrachtung der Konstruktionen zweiter Ordnung nicht aus, um diese vom Abstraktionsniveau her gesesellschaftstheoretisch einzubetten. Das dialektische Denken soll hier als verbindende Begriffsarbeit vorgestellt werden: Zwischen empirischer Einzelfallstudie und gesellschaftstheoretischer Betrachtung. Die Einzelfallstudie rückt die Erfahrungen und Perspektiven von Individuen und das subjektive Wissen der Akteure in den Mittelpunkt, um die Komplexität sozialer Realität zu erfassen, während die dialektische Betrachtung jene gesammelten Daten und Erkenntnisse systematisch analysiert und verallgemeinert, und so über die Stufe der Rekonstruktion typischer Muster hinaus, eine Verknüpfung zur Gesellschaftstheorie leisten kann.

Es geht darum, komplexe Zusammenhänge und Mechanismen von sozialem Handeln, sozialem Wandel und sozialer Ordnung zu beleuchten. Dieses mehrstufige Verfahren geht davon aus, dass Empirie ohne Theorie blind bleibt, aber eine Theorie ohne Empirie leer und abstrakt. Die so vermittelten Einsichten der qualitativen Einzelfallforschung, betrachtet als Puzzelteile des sozialen Raums können so bestehende Gesellschaftstheorien herausfordern und durch die Begriffsarbeit einen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt von Gesellschaftstheorien leisten, mit und durch qualitative Forschung.



‘Und was sagt uns das nun alles?’ Qualitative Sozialforschung und Gesellschaftstheorie

Franz Erhard1, Robert Schäfer2

1Universität Siegen, Deutschland; 2Universität Basel, Schweiz

Die These unseres Beitrags ist, dass es für die qualitative empirische Forschung von fundamentaler Bedeutung ist, sich mit Gesellschaftstheorie zu befassen. Qualitative Forschung kann sich nicht damit begnügen, bspw. Sichtbarkeit für gesellschaftliche Randgruppen zu schaffen oder illustrative Einblicke in Subkulturen zu gewähren. Unseres Erachtens gehen diese Ansätze am erklärenden Anspruch vorbei, den soziologische Forschungsarbeiten haben sollten. Pointiert formuliert sollten diese immer auch zur Frage Stellung nehmen, was die gewonnenen Einsichten über den gegenwärtigen Zustand und aktuelle Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft aussagen. Es ist klar, dass das nicht immer im gleichen Maß eingelöst werden kann. Es muss nicht jede qualitative Untersuchung in einer umfassenden Zeitdiagnose münden. Wird die Frage aber gänzlich ignoriert, bleibt empirische Forschung unvollständig. Zur Bewertung soziologischer Forschungsarbeiten wird von uns deshalb ein Gütekriterium vorgeschlagen, das sowohl auf quantitativer als auch auf qualitativer Seite bis

dato zu wenig Beachtung gefunden hat: die gesellschaftstheoretische Einordnung der empirischen Ergebnisse. In der Präsentation wird zuerst vorgestellt, was mit dem Gütekriterium gemeint ist und wie die Verknüpfung von detaillierter Empirie und gesellschaftstheoretischen Aussagen zu denken ist. Abschließend legen wir exemplarisch dar, inwiefern wir versucht haben, in unserer eigenen Forschung diesem Gütekriterium Rechnung zu tragen.



Aus der Praxis der makroanalytische Tiefenhermeneutik

Niklas Haarbusch

Universität Münster, Deutschland

In ihrem Diskussionsanstoß zu Qualitätskriterien qualitativer Sozialforschung verorten Strübing et al. hochwertige qualitative Studien in einem Spannungsfeld aus „Empirizität“, „Methodizität“ und „Theoretizität“ (Strübing et al. 2018, S. 85). Am Beispiel eines Dissertationsprojektes zu Biografien und Klimakrisensemantik in der Klimabewegung, das mit der makroanalytische Tiefenhermeneutik (vgl. Renn 2018) arbeitet, soll der Wert der Gesellschaftstheorie für die produktive Entwicklung dieses Spannungsfeldes untersucht werden (wobei sich hier bewusst auf das Spannungsfeld und nicht den – anderweitig zu diskutierenden – daraus entwickelten Kriterienkatalog bezogen wird). Der makroanalytische Zugang erschließt Daten insofern, als mit ihm Datenmaterial immer bereits als eingebettet verstanden und die Interpretierbarkeit über die Zugänglichkeit von Sinnschichten begründet wird, die sich im Material anhand von Translaten verschiedener Integrationseinheiten (System, Organisationen, Milieus, Personen) wiederfinden sowie in Sinnbrüchen in Momenten der latenten Abgrenzung dieser Bezüge gegeneinander (vgl. Renn 2006). Die Erschließung der Daten anhand dieser – insbesondere in der Bestimmung der Sinnschichten langfristig revidierbaren – theoretischen Vorannahmen erfolgt dabei nicht subsumtionslogisch in der Anwendung von bestehenden Klassifikationen, sondern anhand der methodischen Übersetzung in Theorien zum gesellschaftlich situierten Gegenstandsbereich. Methoden sind die Kartierung manifester Sinngehalte, die Erschließung von Sinnschichten durch Sinnbrüche und die Remetaphorisierung von Passagen in der Auswertungsgruppe sowie schließlich die Sammlung von tentativen Lesarten, die am weiteren Material geprüft werden. Die Lesarten zielen auf Makroinfluenzen im Material, wie verfügbaren Biografie-Semantiken (vgl. Nassehi 2019) der Bildungserfahrung, die auf eine für das Milieu der Klimabewegung spezifische Weise übersetzt werden. Die Explikation der für die Lesartenbildung herangezogenen theoretischen Horizonte enthebt diese nicht der Kritik, sondern erhöht vielmehr die Transparenz des Theoretisierungsprozesses und öffnet das hermeneutische Vorgehen einer kritischen Prüfung von Vorannahmen.



Empirie im Konjunktiv. Überlegungen zu einer gesellschaftskritischen Sozialforschung.

Peter Schulz, Oberthür Jörg

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland

Das Verhältnis zwischen qualitativen Methoden der Sozialforschung und ihren Metatheorien und soziologischen Gesellschaftstheorien ist spannungsreich: Auf der einen Seite steht der Anspruch, rekonstruktiv aus der beobachteten Wirklichkeit Aussagen über soziale Verhältnisse zu treffen; auf der anderen Seite der Anspruch, Gesamtaussagen über empirisch nicht direkt beobachtbare Strukturen wie „die Gesellschaft“ oder „die Moderne“ zu formulieren. In kritischen Gesellschaftstheorien – insbesondere in der Tradition der Kritischen Theorie – kommt hinzu, dass diese Gesamtaussagen zugleich als kritisches Urteil über Einzelphänomene fungieren sollen. Daraus ergibt sich für solche kritischen Betrachtungsweisen eine Skepsis gegenüber der empirischen Rekonstruktion von Wirklichkeiten, die unter dem Verdacht steht, lediglich Bestehendes zu reproduzieren, statt es zu kritisieren – während erst die kritische Revision durch einen Gesellschaftsbegriff ermöglichen soll, die Verkehrung von Handlungssinn und das ideologische Moment von Selbstdeutungen zu begreifen. Aus Sicht rekonstruktiver Forschung gerät die Kritische Theorie dadurch allerdings ihrerseits in den Verdacht, vorempirisch zu setzen, was erst zu erschließen wäre.

Ausgehend von diesem scheinbar unversöhnlichen Abstand zeigt der Beitrag am Beispiel der Dokumentarischen Methode (DM) und eigener Forschungspraxis, wie sich kritische Gesellschaftstheorie empirisch fundieren und empirische Analyse sich kritisch entfalten lässt. Dabei wird (1) die DM als Methode zwischen Strukturalismus und Objektivismus vorgestellt, die Spannungen bis hin zu Widersprüchen zwischen expliziter Handlungslogik (Motive, Ziele) und performativer Logik (Enaktierungen, konjunktive Momente) herausarbeiten kann. (2) Sie zeigt, wie sich soziale Strukturen (Erfahrungsräume) und Praxen wechselseitig stützen und wie sich Sinn der Praxis an den Strukturen des Erfahrungsraums in quasi-natürlicher Einstellung bestätigt, aber (3) nicht, inwiefern Erfahrungsräume selbst von gesellschaftlichen Strukturkategorien durchzogen sind und ihre soziale Strukturiertheit deshalb selbst widersprüchlich sein können, weil sie Teil einer widersprüchlichen Gesellschaft sind. Abschließend wird (4) ausgehend von eigener Forschung gezeigt, wie kritische Theorie von empirischer Fundierung profitieren kann – und empirische Forschung von Begriffen kritischer Gesellschaftstheorie.



Qualitative Engagementforschung und die doppelte Bedeutung der Gesellschaftstheorie

Andreas Kewes

Universität Siegen, Deutschland

Der Beitrag nimmt seinen Ausgangspunkt in meiner eigenen Forschung zum freiwilli-gen – für das hier zu besprechende Thema vielleicht präziser: zivilgesellschaftlichen – Engagement anhand von Interviews und Gruppendiskussionen (Haas und Kewes 2024; Kewes et al. 2025). Hierbei ist Gesellschaftstheorie doppelt von Bedeutung:

1. Die in der Forschung befragten bzw. beobachteten Subjekte arbeiten selbst an Gesellschaft bzw. wirken auf diese ein. Engagementforschung sollte meines Er-achtens den Umstand nicht verkennen, dass sozialisierte Subjekte (zumindest implizit) Gesellschaftsvorstellungen haben, das heißt selbst Ideen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sozialen Positionen, Ressourcenverteilungen etc.. Engagierte betrachte ich als Gesellschaftstheoretiker:innen in actu: Sie re-produzieren gesellschaftliche Teilbereiche und grenzen diese gegeneinander ab, sie üben Herrschaftskritik, sie inkludieren und exkludieren. Entsprechend benö-tige ich für meine qualitative Forschung einen gesellschaftstheoretischen Hori-zont, in dem ich Wissensbestände von Engagierten rekonstruiere. Insbesondere sind für mich differenzierungs- und ungleichheitstheoretische Gesellschaftsthe-orien relevant.

2. Nicht nur die Engagierten sind Teil von Gesellschaft, auch Engagement selbst verstanden als idealtypische (kollektive) Handlungsform der Zivilgesellschaft muss gesellschaftstheoretisch eingeholt werden. Gesellschaftstheorien dienen hier also eher zur Kontextualisierung eines bestimmten kollektiven Handelns. Beispielhaft zeigen dies die Wechselwirkungen zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und dem Handeln der Sektoren der Politik (Bedro-hung / Einschüchterung; Indienstnahme) und der Wirtschaft (soziale Ungleich-heit). Hier trägt Engagementforschung das Wissen bei, dass sich eine starre Sek-torierung von Gesellschaft nicht mehr umstandslos halten lässt.

Zusammengefasst: sowohl für die wissenssoziologische Rekonstruktion von Empirie als auch für die substantielle Theoriebildung der Engagementforschung – also zunächst eine Theorie mittlerer Reichweite – brauch es gesellschaftstheoretisches Wissen. Wa-rum sollten die Ergebnisse aber nicht auch die Gesellschaftstheorie informieren?

Der hier vorgeschlagene Beitrag stellt die Fruchtbarkeit eines Austausches von qualita-tiver Engagementforschung mit Gesellschaftstheorien ausgehend von ausgewählten Materialpassagen vor.



Normativ aufgeladene Felder ethnographisch erfassen: Die neue rechte Bewegung und die Rolle von Gesellschaftstheorie

Johanna Fröhlich

Universität Basel, Schweiz

Am Gegenstand der Erforschung der neuen rechten Bewegung wird deutlich, dass die qualitative Sozialforschung vor eine zentrale Herausforderung steht: Wie lässt sich ein normativ hoch aufgeladenes Feld untersuchen, ohne dessen Ordnung zu affirmieren oder durch externe normative Maßstäbe zu überformen? Am Beispiel ethnographischer Zugänge zur neuen Rechten zeige ich, dass sich dieses Dilemma weder durch partizipative Ansätze noch durch distanzierende Beobachtung vollständig auflösen lässt. Stattdessen schlage ich vor, gesellschaftstheoretische Perspektiven als heuristischen Rahmen zu nutzen, um sowohl die normative Ordnung des Feldes als auch die eigene Forschungspraxis reflexiv zu beobachten. Eine leibphänomenologisch fundierte Gesellschaftstheorie eröffnet dabei die Möglichkeit, affektive Wertbindungen als soziale Ordnungsstrukturen zu analysieren, ohne deren Geltung vorschnell vorauszusetzen oder zu delegitimieren. Der Beitrag versteht Gesellschaftstheorie nicht als Hintergrundfolie, sondern als konstitutiven Bestandteil qualitativer Methodologie – insbesondere dann, wenn es gilt, in der Nähe des empirischen Materials Differenz, Ähnlichkeit und Normativität gleichermaßen sichtbar zu machen.



 
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