Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH66: Progressive soziale Bewegungen und Religion: Gegenwärtige Transitionen
Zeit:
Freitag, 26.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Marian Burchardt, Universität Leipzig
Chair der Sitzung: Aletta Diefenbach, Freie Universität Berlin
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch., Meine Vortragssprache ist Englisch.

Zusammenfassung der Sitzung

Der Vortrag "Von Dogma zu Liebe und Rebellion: religiöse und spirituelle transfeministische "transitionen" in Lateinamerika" wird auf Englisch gehalten. Alle anderen Vorträge der Veranstaltung sind auf Deutsch.


Präsentationen

Antimoderne Allianzen? Die Bezugnahme linker Bewegungen auf Religion und Kultur

Petra Klug

Universität Bremen, Deutschland

Die politischen Konflikte der Gegenwart, etwa der Nahost-Konflikt, bringen ungewöhnliche Allianzen hervor – zum Beispiel zwischen sich selbst als links verstehenden Bewegungen und islamistischen Strömungen. So beziehen sich Teile der weltweiten linken Proteste sogar positiv auf die Hamas und die Hisbollah. Judith Butler etwa zählt diese Gruppen zur globalen Linken.

Das ist erstaunlich, unterscheiden sich linke und islamistische Bewegungen doch grundlegend – insbesondere im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse und den Umgang mit Diversität. Zwar schließen postmoderne Vorstellungen von Diversität religiösen Fundamentalismus nicht zwingend aus, jedoch passt umgekehrt die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt der Linken kaum in das islamistische Weltbild. Dieser Widerspruch wird jedoch häufig übersehen, geleugnet oder theoretisch umgangen. So forderte Judith Butler schon 2009 queere Bündnisse mit religiösen Minderheiten gegen den liberalen Staat – ohne dies an die Bedingung gegenseitiger Akzeptanz zu knüpfen.

Worin gründet diese Allianzenbildung? Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Und welche Rolle spielt Religion dabei?

Pierre-André Taguieff schlug bereits 1988 vor, politische Bewegungen nicht nur nach „links“ oder „rechts“, sondern danach zu unterscheiden, ob sie „universalistisch“ oder „kulturalistisch“ orientiert sind. Zentral ist dabei die Haltung zu den Menschenrechten – insbesondere dort, wo diese mit religiösen oder kulturellen Normen in Konflikt geraten.

Der Vortrag rekonstruiert diese Transitionen daher nicht entlang aktueller politischer Konflikte oder Ereignisse, sondern anhand der den jeweiligen Positionen zugrunde liegenden Gesellschaftsvorstellungen und Utopien. Dabei werden unter anderem folgende Kriterien betrachtet, die ihrerseits eng mit den Strukturmerkmalen der Moderne verknüpft sind:

• Kollektivismus oder Individualismus

• Identität oder Modalität

• Verdinglichung vs. Reflexivität

• Umgang mit Differenz und Differenzierung

• Transzendente vs. immanente Letztbegründungen

Ziel des Vortrags ist es, eine soziologische Beschreibung aktueller ideologischer Fragmente zu entwickeln, die hilft, die neuen politischen Allianzen besser zu verstehen – und ihr widersprüchliches Verhältnis zur Moderne sichtbar zu machen.



Kirchenengagement in Bewegung – Kirchenengagierte als Teil von Bewegungen?

Andreas Kewes

Universität Siegen, Deutschland

Der Beitrag nimmt seinen Ausgangspunkt in der Beobachtung von Spannungen inner-halb des Kirchenengagements. Grundlage sind qualitative Interviews mit 17 ehemaligen Engagierten in Kirchengemeinden sowie drei Gruppendiskussionen mit aktiven Enga-gierten in Kirchen im Rahmen einer weiter reichenden qualitativen Studie zum Abbruch freiwilligen Engagements.

Die Auswertung des Materials nutzt eine pastoraltheologische Argumentation, die Kir-chengemeinden als Hybrid darstellt, die gleichermaßen „Institutionen“ im Sinne von Gemeinschaften, verrechtliche bzw. ökonomische „Organisationen“ sowie „Bewegun-gen“ seien (Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, S. 138–219). In unserem Datenmaterial dokumentieren sich diese drei Sozialtypen bzw. „Kirchenbilder“ (ebd., S. 117) als Orien-tierungsrahmen, die zueinander in Spannung stehen. Der Vortrag will an diesem Span-nungsgefüge des Kirchenengagements ansetzen und drei Schlaglichter werfen:

1) Kirchen scheinen uns nicht bloß als Spannungsfeld zwischen Konservativen und Progressiven, sondern entsprechend der genannten Heuristik als ein dreipoliges Gefüge. Kirchen- und Gesellschaftserneuerung, aber auch die Gegenwehr ge-genüber manchen wirtschaftlichen Handlungsimperativen scheint sich dabei nicht immer eindeutig verorten zu lassen und es kommt immer wieder zu unter-schiedlichen Koalitionsbildungen.

2) Von besonderem empirischem Interesse ist sodann der Orientierungsrahmen Kirche als Bewegung und dessen Einbettung in die Kirchenumwelt. So stellt sich die Frage, ob ein gesellschaftspolitisch progressives Programm einem bewegten Kirchenengagement vorangeht oder ob es sich umgekehrt verhält – bewegungs-affine Kirchenleute also zugleich in den Netzwerken sozialer Bewegungen aktiv werden. In unserem Material lassen sich Beispiele für beide Fälle finden. Dabei werden politische Überzeugungen durchaus religiös gerechtfertigt – religiöse Versatzstücke (sowie kirchliche Personalressourcen) werden in die politische Auseinandersetzung getragen, wie umgekehrt politische Institutionen und Anlie-gen in Kirchenarbeit eingeführt werden (ein Integrationsprojekt unter dem Dach der kfd, die Bibel in gerechter Sprache).

3) Zuletzt zeigt sich, dass der Referenzrahmen des bewegten Handelns relevant ist: Kircheninterne Gegenspieler und Widersacher können zum Teil andere Rechtfer-tigungen bemühen als solche einer außerkirchlichen Gesellschaft.



Religion und progressive soziale Bewegungen: Kultursoziologische Perspektiven und empirische Befunde

Aletta Diefenbach1, Marian Burchardt2

1Freie Universität Berlin, Deutschland; 2Universität Leipzig, Deutschland

Die Multiplizierung und schnelle Abfolge von Krisen (Finanzkrise, Schuldenkrise, Klimakrise, Fluchtkrise, Wohnungsmarktkrise usw.) ist in vielen westlichen Gesellschaften von sozialen Protestbewegungen begleitet worden. Aus einer kultursoziologischen Perspektive stellt sich dabei die Frage, welche Grenzziehungen und Bezüge sich zwischen Religion und diesen politischen Protestdynamiken beobachten lassen, zu welchen Ein- und Ausschlüssen sie führen und welche anderweitigen Wirkungen sie haben.

In unserem Beitrag skizzieren wir das soziologische Forschungsfeld zum gegenwärtigen Verhältnis von Religion und progressiven sozialen Bewegungen aus einer herrschafts- und machtzentrierten Perspektive und illustrieren unsere Ideen durch Ergebnisse empirischer Forschung in den USA und in Spanien. Der US-amerikanische Fall beleuchtet ausgehend vom Islam exemplarisch, wie sich eine diskriminierte Minderheitenreligion über Alltagspraktiken in und zu dem Feld progressiver sozialer Bewegungen positioniert. Anhand des spanischen Falls illustrieren wir wiederum, wie ein Staat ausgehend von einem progressiven Selbstverständnis Religion als ein Element in der Diversifizierungsagenda nutzt.



From dogma to love and rebellion: transfeminism, religious and spiritual “transitions” in Latin America

Victoria Pereyra Iraola

LMU, München

Der vorliegende Präsentationsvorschlag ist Teil einer laufenden Forschung zu transfeministischen und LGBTQiA+-religiösen/spirituellen Identitäten im politischen Aktivismus in Lateinamerika. Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Fragestellung, auf welche Weise Religion, Spiritualität und politischer Aktivismus "mehrdeutige Grenzen" von den Rändern aus überwinden. Zu diesem Zweck wurden schriftlicher Texte von transfeministische analysiert und LGBTQIA+ und Interviews mit durchgeführt. Der Vorschlag fußt auf Interviews und Textanalysen verschiedener AktivistInnen, darunter unter anderem katholische, evangelikale und indigene AkademikerInnen und AktivistInnen, die Spiritualität als Mittel für politisches Handeln, das auf Inklusion und sozialer Gerechtigkeit verstehen.

In der vorliegenden Arbeit wird dargelegt, inwiefern das Engagement von Transfeminismus in religiösen Praktiken sowohl institutionelle Religions- als auch Spiritualitätsverständnisse in Frage stellt. Darüber hinaus wird die direkte Verbindung zwischen Religion und Konservatismus sowie deren angenommenen geschlechtsfeindlichen und cis-normativen Charakter hinterfragt, angefochten und dekonstruiert. Der vorliegende Vorschlag veranschaulicht, wie die an diesen Formen des Aktivismus Beteiligten hybride und komplexe Synthesen zwischen progressiven Gender-Agenden und religiösen/spirituellen Praktiken entwickeln. Diese Synthesen problematisieren und stellen dogmatische Religionsverständnisse sowie ausgrenzende und binäre Geschlechterbilder in Frage. Die gewonnenen Erkenntnisse werden zudem im Rahmen der Entwicklung des extremen rechten Spektrums sowie der Diskurse um "Gender-Ideologien" in verschiedenen Ländern der Region kontextualisiert. In diesem Kontext ist festzustellen, dass religiöse und spirituelle Verständnisse nicht als statisch zu betrachten sind, sondern in diesen Debatten eine zentrale Rolle als transitorische Instanzen einnehmen. Es besteht die Möglichkeit, sie sowohl als Instrument der Befreiung als auch der Unterdrückung, der Kolonialität und der Dekolonialisierung neu zu konzipieren und zu konzeptualisieren.



Wäre Jesus Klimaaktivist? — Kirchliches Engagement in der radikalen Klimabewegung

Maren Wirth

Freie Universität Berlin, Deutschland

Im Juni 2023 blockierten Mitglieder der Letzten Generation eine Straße in der Nähe des Nürnberger Hauptbahnhofs um auf die Klima Krise aufmerksam zu machen. Die Aktion fand parallel zum Evangelischen Kirchentag statt. Unter den Aktivist*innen, von denen sich einige auf dem Asphalt festklebten, befanden sich auch mehrere ehrenamtliche und praktizierende Kirchenvertreter*innen sowie kirchennahe Christ*innen. Die Aktivist*innen bezeichneten die Aktion später im Rahmen der darauf folgenden Gerichtsprozesse als Teil des Kirchentages und betonten die positive Resonanz unbeteiligter Besucher*innen.

Diese Protestaktion war kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren beteiligten sich kirchliche Akteur*innen in verschiedenen Kontexten zunehmend am zivilen Ungehorsam und gestalteten die radikale Klimabewegung aktiv mit. Was zunächst irritierend wirken mag, ist keineswegs zufällig: Bereits in der Gründungsphase der Letzten Generation betonte Mitgründerin Lea Bonasera auf der Basis einer Theorie des Zivilen Widerstandes die Bedeutung der Kirche neben Bereichen als Säule der Gesellschaft, deren Unterstützung für den Erfolg zivilen Ungehorsams essenziell sei. Im Gegensatz zu anderen als "Säulen der Gesellschaft" identifizierten Institutionen – wie Polizei, Presse oder Prominente – entwickelte sich die Kirche seit 2022 jedoch nicht nur zu einer wichtigen externen Unterstützerin, sondern prägte auch die Bewegung selbst. Zahlreiche Pfarrerinnen und andere kirchennahe Personen wurden zu aktiven Mitstreiterinnen an vorderster Front.

Warum aber ist ausgerechnet die Kirche so anschlussfähig an die Letzte Generation, eine Bewegung, die durch hoch kontroverse Protestaktionen Deutschland weit für Diskussionen sorgte? Ich argumentiere, dass Religion und Aktivismus im allgemeinen und die Letzten Generation und die evangelische Kirche im speziellen im Sinne einer Familienähnlichkeit (Wittgenstein 1953, Van Dijk et al. 2019) Überlappungen aufweisen, die eine Zusammenarbeit begünstigen. Diese Überlappungen werden in der Präsentation anhand der Bereiche Praxis, moralische Grundierung und Emotions Repertoires veranschaulicht. Dabei wird aufgezeigt welche Parallelen die Theorie und Praxis von engagierter Kirche und Klimabewegung prägen und welche Rolle Spiritualität und Glauben in ihrem geteilten Kampf für eine gerechtere Zukunft einnehmen können.