Polizeisoziologische Perspektiven auf gesellschaftliche Transitionen: Eine Einleitung
Simon Egbert
Universität Bielefeld, Deutschland
Polizeisoziologische Analysen sind zentral für ein umfassendes Verständnis gesellschaftlicher Transitionen, denn nicht nur muss die Polizei mit gesellschaftlichen Veränderungen umgehen, sondern sie ist selbst staatliche Akteurin, die Veränderungen zu erwirken hat. Im Kontext des DGS-Kongresses 2025 und seinem Oberthema Transitionen bietet die Polizeisoziologie daher einen wichtigen ergänzenden analytischen Zugang zur Untersuchung von Stabilität und Veränderung in Momenten zwischen Krise und Normalität. Denn gesellschaftliche Transitionen sind immer auch durch Unsicherheit, Kontingenz und Aushandlungsprozesse geprägt. Die Polizei agiert in diesen Prozessen als stabilisierende, aber auch als transformierende, destabilisierende Institution. Sie ist nicht nur eine Instanz der Rechtsdurchsetzung, sondern auch eine Akteurin, die durch selektive Kontrollstrategien, Diskriminierungsmuster und Machtausübung gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert und so (normative) Ordnungen im gesellschaftlichen Machtgefüge verfestigt und herstellt. Es gilt demzufolge zu untersuchen, wie sich polizeiliche Praktiken in Zeiten politischer, ökonomischer und sozialer Umbrüche verändern und welche Auswirkungen dies auf die gesellschaftliche Ordnung hat.
Polizeisoziologische Zugänge ermöglichen es, die Rolle der Polizei als Ordnungsinstanz in Krisenzeiten, herauszuarbeiten, zu hinterfragen und ihre Funktion in sozialen Konflikten detailliert zu analysieren. Zu fragen ist, wie gesellschaftliche Umbrüche die Polizei und deren Praktiken prägen und verändern, aber auch, welche Bedeutungen der Polizei bei der gesellschaftlichen Aushandlung von Transitionen einnimmt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Wechselwirkungen zwischen Polizei und gesellschaftlichen Protestbewegungen, auf Veränderungen von polizeilichen Rationalitäten durch technologische Entwicklungen sowie auf der Rolle der Polizei in der Regulierung von Migration und Klimakonflikten etc.
Im Griff der Polizei – Nervendrucktechniken im Kontext von Klimaprotesten
Hannah Espín Grau
Goethe Universität Frankfurt am Main, Deutschland
Rechtlich betrachtet ist die Polizei zwar nur unter sehr engen Voraussetzungen dazu befugt, Gewalt anzuwenden, in der Praxis gehört Gewalt aber zum normalen polizeilichen Handlungsspektrum. Arten, Ausmaß und Folgen polizeilicher Gewalt werden in Deutschland dennoch nicht systematisch erfasst. Jedoch problematisieren Betroffene in den letzten Jahren vermehrt einzelne polizeiliche Gewaltanwendungen oder übergreifend etablierte Gewaltpraxen.
Zu letzteren gehören polizeiliche Schmerzgriffe, die vor allem im Kontext von Sitzblockaden bei Protesten der Klimagerechtigkeitsbewegung zu weitreichender medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Kritik führten. An der gesellschaftlichen Diskussion darum zeigt sich beispielhaft die Umkämpftheit der Deutung von polizeilicher Gewalt: Die Blockade von Straßenverkehr symbolisiert im fossilen Kapitalismus eine empfindliche Störung alltäglicher Abläufe und Normalitäten; insofern werden polizeiliche Gewaltanwendungen zu ihrer Auflösung vielfach befürwortet und von der Polizei als effiziente Technik eingeordnet. Gegenläufig dazu versuchen Betroffene von polizeilichen Schmerzgriffen die polizeiliche Gewalt als Folter im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention zu kriminalisieren.
Der Beitrag zeichnet aus einer juristischen und kriminologischen Perspektive den Debattenstand zu einer derzeit hoch umstrittenen polizeilichen Gewaltpraxis nach. Dabei wird auf Grundlage von qualitativen Interview-Daten aus dem DFG-geförderten Forschungsprojekt „KviAPol“ (Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen, Leitung: Prof. Tobias Singelnstein) veranschaulicht, wie die Polizei an der (prekären) Legitimität ihrer Gewalt arbeitet, die letztlich ihre Existenzberechtigung darstellt.
Proaktive polizeiliche Kontrollen von Ordnungsstörungen Personenkontrollen als ‚Statusdegradierungszeremonien‘
Roman Thurn
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Deutschland
Personenkontrollen gehören zum Standardrepertoire polizeilicher Maßnahmen. Unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen ist es der Polizei möglich, Personen proaktiv und ohne einen konkreten Anlass zu kontrollieren. Dabei kontrolliert die Polizei jedoch nicht zufällig, sondern entlang der Konstruktion eines (soziologisch, nicht strafprozessrechtlich zu verstehenden) Verdachts, der auf der polizeilichen sog. Berufs- und Lebenserfahrung beruht. Die wahrgenommene Abweichung von der Ordnung der „Respektabilität der Mittelschicht“ (Richard V. Ericson) spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Es zeigt sich, dass die Personen, die so kontrolliert werden, in ihrem sozialen Status eine Degradierung erfahren. Im Interaktionsritual der Personenkontrolle konstruiert die Polizei ein soziales Stigma, indem sie unmittelbar Herrschaft, die bis zu einem gewissen Grad intransparent bleibt, über die Betroffenen ausübt. Proaktive Personenkontrollen werden daher in ihrer Legitimität immer wieder infrage gestellt; nicht nur öffentlich, sondern auch in der Interaktion selbst.
Die (Video)Vernehmung - zur Kontinuität und Transition einer kommunikativen Gattung
Rene Tuma, Mina Godarzani-Bakhtiari
TU Berlin, Deutschland
Unser Beitrag untersucht die (Video-)Vernehmung als kommunikative Gattung im Wandel. Mit der Einführung der Videodokumentation bei polizeilichen Vernehmungen in besonderen Fällen in Deutschland seit 2020 verändern sich nicht nur die Protokollierungs- und technischen Aufzeichnungspraktiken, sondern auch die spezifische Form der Vernehmung selbst - in ihrer Struktur, Legitimation und Performanz. Die Vernehmung ist dabei nicht nur ein polizeiliches Verfahren, sondern ein reflexiv ausgehandeltes Format, das im Spannungsfeld von konkreter Interaktionsform, rechtlichen Vorgaben, Institution und zunehmend auch öffentlicher Beobachtung steht. Auf der Basis empirischer Feldforschung - bestehend aus ethnographischen Beobachtungen, Event-Ethnographie und Interviews - wird analysiert, wie durch die Videopraxis neue Formen der Sichtbarkeit thematisiert werden, die sowohl die Interaktion im Vernehmungsraum als auch deren transsequenzielle Konstruktion und Einbettung betreffen. Die Videotechnik fungiert dabei nicht als externes Medium, das die bislang relativ geschlossene Vernehmungssituation (abgesehen von Rechtsbeiständen und Dolmetscherinnen) der Vernehmungsräume für die Beobachtung öffnet, sondern wird integraler Bestandteil einer sich möglicherweise transformierenden kommunikativen Form bzw. Gattung. Dieser Wandel kann nicht losgelöst von den Prozessen der außerpolizeilichen Verwertung audiovisueller Aufzeichnungen - etwa vor Gericht oder in den Medien, aber auch in der wissenschaftlichen Analyse - betrachtet werden, die international unter dem Stichwort Police-Oversight diskutiert werden, steht aber zugleich im Zusammenhang mit neuen konkreten Vernehmungstechniken und -stilen.
Learning to see like the Machine: Künstliche Intelligenz, Realexperimente und der polizeiliche Blick
Philipp Knopp
Technische Universität Chemnitz, Deutschland
Der polizeiliche Blick hat die Soziologie seit jeher fasziniert. Er ist verbunden mit der Frage, wie Polizist:innen Situationen bewerten und Verdacht generieren. Allerdings ist der polizeiliche Blick auch Gegenstand soziotechnischer Transformationen. Eine der bedeutendsten und gleichermaßen gesellschaftlich umstrittensten Transitionslinien ist die beginnende Ausbreitung künstlicher Intelligenz im polizeilichen Alltag. Jenseits der effektvollen Verheißungen auf eine Revolutionierung der Polizeiarbeit verfolgt der Vortrag die These, dass mit der Einbindung der selbstlernenden Automationssystemen eine neue Art der Bezugnahme auf Technologien verbunden ist.
Am Beispiel der Einführung eines semi-automatischen Detektionssystems für ‚atypisches Verhalten‘ in der stationären Videoüberwachung, das in Hamburg und Mannheim entwickelt und erprobt wird, zeigt der Vortrag, wie die genuin unfertigen und fehlerhaften Technologien von experimentellen Konfigurationspraktiken begleitet werden. Damit verändert sich erstens die typische polizeiliche Haltung gegenüber Technik, die traditionell eher Zuverlässigkeit und Transparenz betont. Zweitens eignet sich die Polizei experimentelle Praktiken an, die auf eine wechselseitige Adaption von Überwachungspraktiken und KI-System aus sind. Damit sind neue Anforderungen verbunden. Das umfasst a) die Schaffung von Umgebungen im öffentlichen Raum, die Sichtbarkeitsbeziehungen laborähnlich arrangieren und in denen die Konsequenzen der neuen Technologie (teilweise) kontrolliert werden sollen. Zudem werden b) Lerndaten erzeugt und weitergeben. Dies umfasst eine Selektion von Videoüberwachungsbildern genauso wie die theatralische Simulation von Situationen, um chronischen Datenmangel des gegenwärtigen Machine-Learning-Paradigmas zu begegnen. Aufgrund des Testcharakters derartiger Pilotprojekte, wird zudem c) eine neue Art der Protokollierung der Videoüberwachung eingeführt.
Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass mit KI-Technologien das Experiment als zentrale Form der Hervorbringung von Wandel Einzug in die Polizeien hält. Dabei vermischt sich der überwachende Blick der Polizei, der auf die Generierung von Wissen über die Welt zu deren Kontrolle zielt, mit dem experimentellen Blick, der die Welt kontrolliert, um (technologisches) Wissen zu erzeugen. An dieser Schnittstelle entsteht die hybride Kategorie der Überwachungsexperimente.
Digitales Community Policing: Zur Refiguration polizeilicher Vergesellschaftung durch technischen Wandel
Jasper Janssen
Universität Bielefeld, Deutschland
Die neue Sichtbarkeit (Thompson 2005) einer zunehmend mediatisierten Welt konfrontiert Polizeibehörden seit Beginn der 2000er Jahre mit neuen Formen der Kritik (Goldsmith 2010), die polizeiliche Legitimationsbestände und Selbstbilder nachhaltig herausfordern. Im Versuch, diesen für die Polizei negativen Effekten zu begegnen und stattdessen die Bedingungen der neuen Sichtbarkeit im Sinne institutioneller Interessen nutzbar zu machen, rücken Image-, Öffentlichkeits- und Communityarbeit zunehmend in den Fokus polizeilichen Handelns. In der Folge gewinnen Narrative und Performanzen für die polizeiliche Legitimitätsproduktion an Bedeutung.
Als einen empirischen Kristallisationspunkt dieser Entwicklung wird die polizeiliche Kommunikation im Digitalen Community Policing (DCP) der Polizei Niedersachsen auf der Plattform Instagram in den Blick genommen. Im DCP eröffnen Polizist:innen in personalisierten Profilen selektive Einblicke in polizeiliche Arbeitsabläufe und Gedankenwelten. An die Stelle formalisierter und bürokratischer Sprache tritt eine performative Praxis der affektiven Selbstrepräsentation, in der die Polizei darum bemüht ist sich als betont menschlichen Akteur zu inszenieren.
Wie dargestellt wird, liegt in dieser performativen Konstruktion einer polizeilichen Menschlichkeit ein zentrales Moment für eine neue Form polizeilicher Vergesellschaftung, in der Nutzer:innen der Plattform als aktivierbare ‚Community‘ angerufen werden. Durch affektorientierte Kommunikation und Praktiken der gegenseitigen Fürsprache entstehen selbstbezogene Resonanzräume, in denen affektive Nähe durch Substantiierungsprozesse (Dawney 2019) als Erzählungen heroischer Aufopferung ‚für die Gemeinschaft‘ verwertbar gemacht werden.
Anders als diese neue digitalisierte Bürger:innenorientierung suggeriert, wird polizeiliche Autorität dabei nicht aufgegeben, sondern geht stattdessen in Leitbildern einer ‚guten‘, das heißt subordinativen, Bürger:innenschaft auf. Die Polizei tritt damit nicht mehr nur als Ordnungsmacht, sondern als emotionalisierte und moralische Instanz sozialer Kohärenz auf. Dieser Rollenwechsel deutet eine autoritäre Verschiebung hin zu einem Leitbild postdeliberativen Gehorsams an.
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