Sitzung | |
AdH62: Orte der Transition. Raum, Affekt und Temporalität
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Zwischen „Spielwiese“ und „blauem Sumpf“ – Affektive Aushandlungen in sozial-ökologischen Transformationsräumen Goethe-Universität Frankfurt a. M., Deutschland In der Lausitz zeichnet sich gegenwärtig ein besonderes Spannungsfeld ab: Während die Region aufgrund des beschlossenen Kohleausstieges bis 2038 klimapolitische Maßnahmen umsetzen muss, erstarkt mit der Alternative für Deutschland zeitgleich eine in Teilen rechtsextreme Partei, die die Klimakrise weitestgehend leugnet.1 Hinzukommt, dass die Lausitz ein strukturschwacher, ländlicher Raum ist, der – wie auch andere Regionen – geprägt ist von Überalterung und einem lang anhaltenden Bevölkerungsrückgang (vgl. Ragnitz et al. 2022: 16; vgl. ebd.: 41.ff.). Das Ende der Kohle-Industrie, die dort sowohl ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war als auch eine identitätsstiftende Funktion innehat, wird vor Ort unter dem Begriff Strukturwandel diskutiert: Die ehemalige Kohle-Region soll mithilfe hoher Fördergelder umstrukturiert werden in eine Region für Tourismus, Wissenschaft und erneuerbare Energien. Diese bereits begonnene Transition der Lausitz trifft vor Ort auf unterschiedliche Affekte und wird begleitet von Konflikten und Spannungen (vgl. Bose et al. 2019, 2020; Gürtler et al. 2021; Gürtler/Herberg 2021; Haas 2020). In meinem Promotionsprojekt untersuche ich, wie die sozial-ökologische Transformation in der Lausitz aktuell von Menschen vor Ort wahrgenommen und verhandelt wird und inwiefern diese Aushandlungen Anknüpfungspunkte für rechte Angebote im Zuge der Klimakrise darstellen. Dazu führe ich Gruppendiskussionen mit Menschen aus der Region und werte das Material mit Hilfe der psychoanalytisch orientierten Methode der Tiefenhermeneutik aus, um latente Sinnstrukturen, affektive Bedeutungen und verdrängte Konflikte sichtbar zu machen (vgl. Brunner 2021; König 2019; Lorenzer 1986). In meinem Vortrag möchte ich anhand eigener empirischen Daten darauf eingehen, welche affektiven Dynamiken in der kollektiven Verarbeitung regionaler Transition vor Ort aufeinandertreffen. Der regionale Strukturwandel im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation wird – so zeigen meine vorläufigen Ergebnisse – begleitet von unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen für die Lausitz: Hoffnung und Optimismus, aber auch Skepsis und Frust sowie Melancholie und Ohnmacht prägen die Diskussionen. Dabei wird ein Ringen um die vergangene aber auch zukünftige Bedeutung der Lausitz deutlich, das durch unterschiedliche Erfahrungen und (enttäuschte) Erwartungen geprägt ist. Waco Reborn: Über die Refiguration einer Stadt im texanischen Hinterland Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland Der auf aktueller empirischer Forschung aufbauende Vortrag zielt darauf ab, die Herausbildung einer spezifischen Form von Urbanität zu rekonstruieren, die sich gegenwärtig im texanischen Hinterland, genauer in der Stadt Waco, herausbildet. Eines der zentralen Merkmale dieser Urbanität ist die enge Verflechtung von evangelikalem Christentum, gebautem Raum, Populärkultur und Kapitalismus, die in den letzten Jahren zu einer erstaunlichen „Wiedergeburt“ der Stadt geführt hat. Lange Zeit negativ assoziiert mit der „Waco siege“ (einer wochenlangen Belagerung des Geländes einer endzeitlichen Sekte, bei dessen Erstürmung durch Bundesbehörden über 80 Menschen starben), ist Waco heute ein beliebtes Ziel für Kurzurlaubende. Der städtische Raum wird zunehmend durch die Entstehung einer lokalen Kreativwirtschaft geprägt, die vielfältige Orte des informellen Verweilens oder „Great Good Places“ (R. Oldenburg) hervorbringt – wie Cafés, Buchläden, Foodtrucks, Clubs, Design- und Antiquitätenläden. Auslöser dieser Entwicklung war die TV-Show Fixer Upper, eine äußerst erfolgreiche HGTV-Hausrenovierungsshow, die in Waco spielt und einen Tourismusboom auslöste, der in den letzten zehn Jahren sowohl die räumliche Struktur als auch das Image der Stadt radikal verändert hat. Im Vortrag sollen verschiedene Facetten und Transitionseffekte dieser Entwicklung – wie die Formierung einer spezifischen Kleinstadtsentimentalität – materialreich nachgezeichnet und anschließend raumsoziologisch interpretiert werden. Dabei greife ich auf das Konzept der „Refiguration von Räumen“ (SFB 1265) zurück, das sozialen Wandel nicht nur als etwas begreift, das im Raum sichtbar wird, sondern sich als (konflikthafter) räumlicher Wandel vollzieht. Sakralräume als Orte der Transition in pluralen Gesellschaften Universität Hamburg, Deutschland Die religiöse Situation in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung sind noch Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche, und gleichzeitig sind andere und dabei insbesondere muslimische Religionsgemeinschaften deutlich angewachsen. Diese Prozesse der Säkularisierung und religiösen Pluralisierung materialisieren sich im Raum etwa durch Kirchenumnutzungen, neu entstehende Räume nichtchristlicher Religionsgemeinschaften wie insbesondere Moscheen oder auch neu geschaffene interreligiöse Sakralbauten wie Häuser der Religionen. Umgekehrt – so die These des Beitrags – entfalten religiöse Räume gesellschaftliche Wirkkraft und beeinflussen soziale Prozesse und sind zentraler Bestandteil der Governance religiöser Diversität in pluralen Gesellschaften. Während religiöse Räume dabei häufig als Objekte und Ergebnis von Aushandlungsprozessen betrachtet werden, rückt dieser Beitrag hingegen Sakralbauten gerade in ihrer handlungsorientierende Funktion und das raumbezogene Handeln der Religionsgemeinschaften als eine Form der Selbstregulierung in einem zunehmend pluralen Umfeld ins Blickfeld. Dazu gibt der Beitrag empirische Einblicke zu verschiedenen religiösen Raumtypen, die gerade in vergleichender Perspektive und Zusammenschau zeigen, dass und wie Sakralbauten in multireligiösen säkularen Gesellschaften wirken können. Dabei zeigt sich gerade in ihrer affektiven Dimension auch die Ambivalenz, als Ermöglichungs- wie auch als Ausschlussräume sowohl stabilisierend wie auch destabilisierend auf soziale Ordnungen wirken zu können. Der Beitrag verweist damit schließlich auf die Erforschung von Sakralräumen als „affective spaces“ und die Diskussion von methodischen (innovativen) Zugängen zur Erschließung dieser affektiven Dimension. Orte am Rande der Bewohnbarkeit. Transitionen im Anthropozän Philipps-Universität Marburg, Deutschland Die Zerstörung der Erde dauert an. Sie vollzieht sich nicht im „luftleeren Raum“, in einem abstrakten Gebilde namens "Globus" oder im "Nirgendwo" des digitalen Raums. Sie ist vielmehr an konkreten Orten sicht- und erfahrbar. Längst gibt es Orte, die zwar aktuell noch bewohnt werden, deren Bewohnbarkeit aber im Abnehmen begriffen ist. Von einigen Orten gilt sogar als ziemlich sicher, dass sie in einigen Jahren verschwunden sein werden – etwa durch das Ansteigen des Meeresspiegels. Andere Orte werden weitgehend unsichtbar gemacht, um ihr schleichende Vergiftung durch große Mengen des dort abgeladenen Mülls verdrängen zu können. Dennoch ist unübersehbar, dass toxische Umgebungen und Totzonen sich ausbreiten. Wie lebt es sich an solchen Orten? Im geplanten Beitrag soll u.a. gezeigt werden, dass es an konkreten Orten zu Protesten, Widerstand und Kämpfen etwa durch indigene Bevölkerungsgruppen kommt, die die weiteren Zerstörungen ihrer Lebensgrundlagen aufzuhalten versuchen, dass der rücksichtlose Abbau von Rohstoffen aber unvermindert weitergeht, während die Gefahren geleugnet und die Bevölkerung eingeschüchtert wird. Neben den nur allzu offenkundigen Zusammenhängen zwischen der andauernden Ausbeutung der Erde und den ökonomischen Interessen daran, mit dieser Praxis fortzufahren als wenn nichts wäre, gilt es die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf das grundsätzliche Problem zu lenken, wie wir Orte denken und mit ihnen umgehen. Ein zentrales Ziel der Globalisierung lag darin, sich von Orten unabhängig zu machen, um überall tätig werden zu können, womit Orte als zunehmend austauschbar ausgewiesen wurden. Es spricht vieles dafür, dass diese wirkmächtige Erzählung, die durch eine entsprechende Praxis gestützt und weiterverbreitet wurde, dazu geführt hat, dass der Sinn dafür verloren gegangen ist, dass Lebewesen stets an konkreten Orten mit anderen Lebewesen zusammenleben und nicht „überall und nirgends“. Wenn der amerikanische Philosoph Edward S. Casey Recht mit seiner Annahme hat, dass „wir nicht nur an Orten, sondern aus ihnen sind“, dann spricht dies umso mehr dafür, Sorge dafür zu tragen, was an den Orten passiert oder nicht passiert, an denen wir uns aufhalten und aus denen wir bestehen. Ein so gefasster Ortssinn könnte hilfreich dabei sein, die Bewohnbarkeit von Orten zu erhalten oder herzustellen. Orte der Transition, Orte der Kontinuität: Spitzbergen als Brennglas frontieristischer Naturverhältnisse im Wandel Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland Orte der Transition sind immer auch Orte der Kontinuität. Für die soziologische Auseinandersetzung mit Räumen der Transition ist das Spannungsverhältnis von Wandel und Kontinuität bedeutsam, da es persistierende Machtverhältnisse erkennbar macht. Der Vortrag zeigt dies am Beispiel der arktischen Insel Spitzbergen im norwegischen Svalbard Archipel. Wie durch ein Brennglas werden in der Geschichte und Landschaft Spitzbergens zentrale Artikulationen und Transitionen des Naturverhältnisses erkennbar, das die kolonial-kapitalistische Moderne kennzeichnet. Seit seiner „Entdeckung“ durch Europäische Seefahrer im Jahr 1596 wurde Spitzbergen zum Schauplatz verschiedener extraktivistischer Industrien, die – von Walfang über Kohlebergbau bis zu Tourismus – alle zu ökologischen Problemen wie dem Verlust biologischer Vielfalt und der globalen Klimaerwärmung beigetragen haben. Neben den Überresten einst gigantischer Gletscher und vereinzelten Exemplaren bedrohter Tierarten zeigen sich Spuren dieser Geschichte auch in verlassenen Kohlebergbaustätten und anderen Relikten vergangener Besiedlung. In jüngster Zeit ist Spitzbergen zu einem ikonischen Schauplatz globaler Naturschutzbemühungen angesichts der Bedrohungen durch Klimawandel und Biodiversitätsverlust geworden: Seit 2008 beheimatet die Insel mit dem Svalbard Global Seed Vault eine internationale Sammlung nutzpflanzengenetischer Vielfalt, die im arktischen Permafrost für die Zukunft bewahrt wird. Der Vortrag argumentiert, dass in der Geschichte Spitzbergens ein gleichsam von Transitionen und Kontinuität geprägtes gesellschaftliches Naturverhältnis erkennbar wird, das ich mit Anna L. Tsing als Frontierismus bezeichne. Mit frontier ist hier keine räumliche Kategorie gemeint, sondern ein performatives Naturverhältnis, das spezifische Räume oder Naturen hervorbringt und immer dann seine Form verändert, wenn es mit Grenzen oder Krisen konfrontiert ist. Charakteristisch für den Frontierismus ist ein affektives Oszillieren zwischen Optimismus und Nostalgie, das auch in Praktiken des Naturbezugs auf Spitzbergen erkennbar wird. Als paradigmatischer Ort des zugleich transitionierenden und kontinuierlichen Frontierismus veranschaulicht das Beispiel Spitzbergen strukturelle Kontinuitäten zwischen der Landnahme des imperialen Zeitalters, dem Ressourcenextraktivismus des Kapitalismus und den Naturschutzbemühungen der heutigen Zeit. Zurück in die Gegenwart: Über die Haltbarkeit von Versprechen und die Beständigkeit von Biobanken Universität Augsburg, Deutschland Biobanken sind Orte der Konservierung. Sie bewahren gefrorenes lebendes Gewebe, klinische Proben, Zellen und DNA unter großem technischen Aufwand für die Zukunft auf. Dieser Aufwand wird mit der Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft gerechtfertigt: Was heute verfügbar, aber noch wertlos ist, wird morgen knapp und wertvoll sein. Dahinter steht auch eine Annahme über technischen Fortschritt, der den zukünftigen biologischen und kommerziellen Wert der gefrorenen Objekte herbeiführen wird, sowie über die Geduldigkeit derer, die in der Zwischenzeit für den Aufwand der Gefrierkonservierung aufkommen. Was passiert aber, wenn sich das Verhältnis zwischen Versprechen und Erwartungen verschiebt? Anhand einer Reihe von Beispielen beleuchtet der Beitrag den Wandel von Biobanken von Technologien der Antizipation der Zukunft zu Orten der Beschleunigung von Gegenwart: Wie richten diese Organisationen ihre Aktivitäten vom Morgen zurück auf das Heute aus? Welche Rolle spielt dabei eine Technologie, die bislang vor allem unter dem Aspekt der Ewigkeit analysiert wurde? Und was sagt das über die Halbwertszeit von Werttheorien aus, die auf der Einpreisung von Zukunft fußen? |