Illiberale Transition? Eine Einführung in empirischer und theoretischer Absicht
Bettina Mahlert1, Jasmin Siri2
1Universität Innsbruck, Österreich; 2Universität Erfurt, Deutschland
Im Zuge eines Machtgewinns rechtspopulistischer und rechtsextremer politischer Akteure haben sich in den letzten Jahren in Europa und darüber hinaus zahlreiche Übergänge von liberal-demokratischen zu illiberalen, autoritären und antidemokratischen politischen Regimen vollzogen. In weiteren Demokratien scheint ein solcher Übergang möglich. Dieser Trend wird breit und interdisziplinär diskutiert – aber selten unter Begriffen wie Transformation oder Transition. Die Wissenschaft nutzt das Konzept der „democratic transition“, spricht aber nicht auch, in umgekehrter Richtung, von „autocratic transition“ oder "illiberal transition".
Als auslösende Faktoren für die Erfolge der Illiberalen werden in der Literatur sowohl externe Shocks (z.B. Migration, Coronavirus, Ukrainekrieg) als auch längerfristigere gesellschaftliche Entwicklungen betrachtet – so etwa die seit Ende der 1970er Jahre verbreitet auftretenden De-Industrialisierungsprozesse in Kombination mit einem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und einer daraus resultierenden Veränderung des Parteiensystems und des Elektorats. Demographische Merkmale und regionale Spezifika werden ebenso in den Blick genommen wie neue Mobilisierungspotentiale, bspw. durch soziale Medien, oder die Frage einer Normalisierung radikaler Positionen durch zunehmenden Einfluss extrem rechter Parteien, der eine allmähliche Auszehrung der Demokratie befördern könnte. Insgesamt bildet der „Rechtsruck“ einen Trend, der sich im europäischen Parteiensystem ebenso beobachten lässt wie in den Amerikas. Wenngleich die Erfolgsbedingungen eines systematischen Vergleichs aufgrund der differenten Rahmenbedingungen (parlamentarisches- und Parteiensystem, Recht uvm.) gering sind, interessiert uns die Frage dennoch, ob es sich von einer globalen Entwicklung sprechen lässt und wenn ja, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich dabei beobachten lassen.
Anhand eines schwerpunktmäßig auf die europäischen Demokratien bezogenen Literaturüberblicks werden wir den sehr diversen und inzwischen großen Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema ordnen. Dabei steht die Frage nach den Erfolgs- und Rahmenbedingungen der Möglichkeit illiberaler Transition und Transformation im Fokus unseres Interesses.
Demokratietheorie ‚in transition‘? Plädoyer für eine soziologische Perspektive auf Demokratie am Kipppunkt
Jenni Brichzin
Universität der Bundeswehr München, Deutschland
Wenn sich Soziologie – wie im Rahmen dieser ad hoc-Gruppe – die Frage stellt, wie anti-demokratische bzw. autoritäre politische Kräfte wieder so erfolgreich werden konnten, greift sie eines der zentralen gesellschaftlichen Themen der Gegenwart auf. Bemerkenswert ist jedoch: Das dabei zugrundeliegende Verständnis von Demokratie wird soziologisch meist als gegeben behandelt. Völlig selbstverständlich ist dann etwa von ‚liberaler Demokratie‘ die Rede – die ganze analytische Aufmerksamkeit gilt fortan den ‚illiberalen‘ Strategien, mit denen die radikale Rechte selbige untergräbt. Dagegen gerät der Begriff ‚Demokratie‘ selbst – und damit die Frage, was es eigentlich heißt, soziologisch von Demokratie zu sprechen – kaum in den Blick. Demokratietheorie kann als ein blinder Fleck der Soziologie gelten.
Die These des Beitrags lautet, dass dieser blinde Fleck ein Erkenntnishindernis darstellt – insbesondere dort, wo es um Transitionen hin zur Autokratie geht. Gängige Verständnisse neigen dazu, Demokratie möglichst stabil aufhängen zu wollen – beispielsweise an normativen Idealen wie ‚Selbstregierung‘, oder an konkreten Institutionen wie Parlament, Gewaltenteilung oder Rechtsstaat. Doch derart substantialistisch wirkende Begriffe haben Schwierigkeiten, paradoxe Phänomene zu erfassen, wie sie sich gerade an autokratischen Kipppunkten häufen: wenn etwa Wahlen oder ‚der Volkswille‘ autoritäre Effekte zeitigen.
Der Beitrag schlägt deshalb ein soziologisch anschlussfähiges Demokratieverständnis vor, das gerade solche Kipppunkte in den Fokus rückt. Unter Rückgriff etwa auf John Dewey oder Karl Popper wird Demokratie als gesellschaftliche Ordnung begriffen, die Offenheit für Wandel auf Dauer stellt. Demokratische Ordnung erscheint so als Ergebnis der Institutionalisierung multidimensionaler Mechanismen zur Prävention sozialer Schließung, nicht nur im politischen System – und bietet sich damit als Gegenstand der besonderen soziologischen Expertise in Sachen sozialer Schließungs-, bzw. Essentialisierungsprozesse an. Ein solches Verständnis lässt dabei offen, wie sich Schließungsprozesse gesellschaftlich manifestieren können – und eröffnet damit eine neue, explizit soziologische Perspektive auf den gegenwärtigen Erfolg anti-demokratischer Kräfte.
Deprivationserfahrungen in der Arbeitswelt, Konflikterfahrung und Wahrnehmung "der Politik" in Ostdeutschland
Johannes Kiess
Universität Leipzig, Deutschland
Dieser Beitrag basiert auf einem dreijährigen Forschungsprojekt, in dem wir lokale Arbeitskonflikte in Ostdeutschland untersuchen, um die Herausbildung lokaler politischer Kultur zu verstehen. Wir wissen bereits, dass demokratische Erfahrungen am Arbeitsplatz demokratische Einstellungen fördern. In diesem Beitrag bin ich daran interessiert, wie Deprivationserfahrungen in der Arbeitswelt - mangelnde Anerkennung, niedrige Löhne, Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten, Entfremdung im Arbeitsprozess - sowie Erfahrungen in Arbeitskämpfen mit der Wahrnehmung von "Politik" verbunden sind. Ich argumentiere, dass Deprivationserfahrungen in der Arbeitswelt als eine - und wahrscheinlich die grundlegendste - Facette allgemeiner Deprivation betrachtet werden sollte, die eng mit Erfahrungen der sozialen und politischen Deprivation verbunden ist. So sind die alltagsweltlichen Erfahrungen meist mit der Arbeitswelt verbunden und laufen auf Gefühle der Machtlosigkeit hinaus, die mit der Wahrnehmung der Vorgesetzten kontrastiert und auf die Selbstwahrnehmung der Bürger*innen der unteren Klassen verallgemeinert werden. Insbesondere wird das Thema Niedriglohn als eine ständige Bedrohung für ein „normales Leben“ erlebt. Darüber hinaus erleben die Teilnehmenden auch bei Streikaktionen, die durchaus auch (situative) Handlungsfähigkeitserfahrungen bieten, eine große Kluft zwischen ihrer eigenen Lebenswelt und "der Politik" und sogar Politiker*innen, die mit ihrem Anliegen sympathisieren. Darin, so argumentiere ich, liegt eine wichtige Quelle für Fatalismus, der sich auf die Wahrnehmung von Politik und Demokratie im Allgemeinen überträgt.
Regierende Opposition: Die Sackgasse der rechtspopulistischen Strategie und der Staat als Beute
Nils Kumkar
Universität Bremen
Der Beitrag geht der Frage nach, vor welchem strategischen Dilemma „Rechtspopulismus als Strategie“ (Rothbard) steht, wenn er erfolgreich ist. Diese Strategie beruht grundlegend darauf, im politischen Wettbewerb die Position der Fundamentalopposition zu beziehen, von der aus der konstitutive Ausschluss des Publikums aus dem politischen Feld zu einem Einsatz im politischen Feld selbst gemacht wird. Dieses Spektakel eines Klassenkampfs gegen den Staat erlaubt einerseits, ein in seinen Interessen diverses Elektorat an sich zu binden und andererseits auch auf der Seite der Leistungsrollenträger divergierende politische Strömungen – Libertäre, Akzelerationisten, Faschisten, Rechtskonservative, Hasardeure – zusammenzuhalten. Als Strategie kann dies auf eine mittlerweile dekadenlange erfolgreiche Mobilisierungsgeschichte verweisen, die sich als resistent gegen die meisten politischen Gegenstrategien erwiesen hat, die allerdings als explizierte Strategie vor der Übernahme der Staatsgewalt abbricht – einerseits, weil der utopische Horizont vor allem der rechtslibertären Theoretiker dieser Strategie in einem Absterben eben dieses Staates besteht, zum anderen aber, weil konkrete Umgestaltungen von Staat und Gesellschaft die tragende politische Koalition zu sprengen drohen.
Wo diese Parteien sich an der Regierung wiederfinden, begegnen sie den dadurch freigesetzten Zentrifugalkräften auf zwei Weisen: Sie inszenieren sich einerseits, mit Rückgriffen auf verschwörungstheoretische Rhetorik, weiterhin als eigentliche Opposition (gegen den Deep State oder Verschwörungen aus dem Ausland), wodurch die unvermeidbare Enttäuschung mit den eigenen politischen Resultaten wieder in die bereits eingespielten Bahnen der kommunikativen Polarisierung gelenkt wird. Andererseits halten sie dabei aber die Leistungsrollenträgerkoalition durch patrimoniale Verteilung des „Staats als Beute“ zusammen. Die radikalen Staatsumbaumaßnahmen, die gegenwärtig in den USA betrieben und vor allem mit dem Namen Elon Musk verbunden sind, vereinen diese beiden Tendenzen zu einem integrierten politischen Projekt, das zugleich mit dem Aufbau weitgehend extralegaler maßnahmenstaatlicher Institutionen verbunden ist.
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