Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH52: Lessons from the non-binary. Potentiale soziologischer Forschung über und mit Nichtbinarität.
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Simeon Jäkh, PH Ludwigsburg
Chair der Sitzung: Elena Erstling, Universität Tübingen
Chair der Sitzung: Zelda Wenner, Universität zu Lübeck
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Nicht-Binarität als Kategorie ‚in the making‘

Elena Erstling

Universität Tübingen, Deutschland

Der Vortrag stellt Nicht-Binarität als historisch junge Personenkategorie heraus, die sich aktuell im Entstehen befindet. Um dauerhaft einen Möglichkeitsraum geschlechtlicher Erfahrung darstellen zu können, muss sie sich institutionalisieren und damit denk- und erlebbar werden. Dies schlussfolgere ich anhand der Analyse des affektiv-leiblichen Erlebens von ‚questioning persons‘, Personen die ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht hinterfragen und das eigene Erleben mit verfügbaren geschlechtlichen Kategorien abgleichen. Dabei nehme ich eine leibphänomenologische Perspektive im Anschluss an die Ausführungen von Gesa Lindemann ein (1993/2011) und verbinde diese mit kategorisierungstheoretischen Überlegungen, mit Bezug vor allem auf Ian Hackings Darstellungen (1992, 1995, 2013).

Ausgehend von dieser Feststellung werfe ich in meinem Vortrag offene Fragen auf, die sich dem aktuell stattfindenden Institutionalisierungsprozess widmen und die Grundlage meiner aktuellen empirischen Forschung darstellen: Wie vollzieht sich der Entstehensprozess einer Personenkategorie? Inwiefern lässt sich dies im laufenden Prozess beobachten und erforschen und nicht – wie oft üblich – retrospektiv? Wird sich die Kategorie Nicht-Binär institutionalisieren oder verschwindet sie wieder? Wie wird sie dabei beeinflusst von existierenden Strukturen und Logiken wie beispielsweise der Binarität männlich-weiblich, wie verändert sie diese dabei aber möglicherweise auch? Welche Rolle spielt bei all dem das affektiv-leibliche Erleben? Um darauf erste Antworten zu skizzieren und zu diskutieren greife ich auf Interview- und Tagebuchdaten zurück.

Einen inhaltlicher Fokus lege ich auf das Verhältnis von sexueller Orientierung und Nicht-Binarität. Mit dem Aufkommen der geschlechtlichen Kategorie verändert sich das eigentliche Baumaterial der Kategorien sexueller Orientierung oder fällt gar weg. Damit stellt sich die Frage, wie sich Nicht-Binarität in existierende Logiken sexueller Orientierung einfügt und/oder diese verändert und wie dies jeweils erlebt wird. Das ist sowohl in Hinblick auf eine Soziologie der Sexualität als auch in Bezug auf Konzeptionen von Geschlecht an sich spannend.



Zwischen Differenzierung und Anpassung: Nichtbinarität in queeren Communities

Simeon Jäkh

PH Ludwigsburg, Deutschland

Die Infragestellung der Geschlechterbinarität durch nicht-binäre Identitäten erzeugt innerhalb queerer Communities ambivalente Dynamiken. Einerseits besitzen nicht-binäre Perspektiven ein transformatives Potenzial zur Dekonstruktion normativer Geschlechterordnungen und bieten vielen eine „passende“ Identitätskategorie. Andererseits führen sie zu Differenzierungs- und Abgrenzungsprozessen, die bestehende Normen stabilisieren können. Der Vortrag analysiert diese Prozesse und zeigt, inwiefern sie mit der Aufrechterhaltung hegemonial-binärer Geschlechternormen verknüpft sind.

Ein historischer Blick zeigt, dass solche Differenzierungsprozesse nicht neu sind: Die „Erfindung“ der Homosexualität (Foucault 1976) verknüpfte Gender-Nonkonformität mit gleichgeschlechtlichem Begehren. Erst durch die zunehmende politische Sichtbarkeit homosexueller Männer und Frauen im 20. Jahrhundert fand eine Trennung zwischen Geschlechtlichkeit und Sexualität statt, die zur Normalisierung binär-homosexueller Identitäten und zur Marginalisierung gender-nonkonformer Subjekte führte (Amin 2022). Auch die Unterscheidung zwischen Sex und Gender hat das binäre Geschlechterdenken nicht aufgelöst. Wenn jedoch „Sex [...] always already gender" (Butler 1990: 7) ist, entsteht ein Spannungsverhältnis für binäre trans Personen, die ihre Identität häufig entlang dieser Differenz legitimieren.

Auf Grundlage diskursiver Interviews mit binären und nicht-binären trans verorteten Subjekten zeige ich, wie Geschlechterbinarität in queeren Räumen verhandelt wird. Im Zentrum stehen Dynamiken der Grenzziehung und Verschiebung geschlechtlicher und sexueller Zugehörigkeitsordnungen. Während bestimmte Transitionen – insbesondere die binärer trans Personen – zunehmend Anerkennung erfahren, bleiben nicht-binäre Identitäten häufig in einem Spannungsfeld zwischen Anpassung und Marginalisierung. Binäre Normen werden innerhalb queerer Räume durch Differenzierungsprozesse stabilisiert. Zugleich entsteht eine „neue“ Dichotomie: Die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen binär und nicht-binär. Nicht-binäre Identitäten sind nicht nur eine „neue“ Kategorie, sondern Teil einer längeren Geschichte von Differenzierungsprozessen, in der manche Identitäten normalisiert und andere marginalisiert werden.



Das Nicht-Binäre als ontologisches//epistemisches Objekt?

Alik Mazukatow

Universität Lübeck, Deutschland

In vielen Diskursen wird Nicht-Binarität als Ontologie aufgerufen, etwa als queere Subjekte, die politisch marginalisiert werden oder als Körper, die sich durch ihre Uneindeutigkeit einer biologischen Einordnung in den Geschlechterdimorphismus entziehen. Ich möchte in meinem Beitrag vorschlagen, das Nicht-Binäre nicht nur als etwas zu sehen, das einbezogen, verwaltet oder mobilisiert werden muss, sondern als epistemisches Produkt einer binären Ordnung, die unweigerlich auch Nicht-Passung produziert: „marginalizing what is unclassifiable to residual categories, such as the deviant or the hermaphrodite” (Herdt 1996: 15). In dieser Perspektive ist das Nicht-Binäre zwar mit Identitäten verknüpft, entsteht allerdings notwendigerweise aus der kategorialen Grenzarbeit zwischen dem Entweder-Oder des binären Denkens. Daher lohnt die Untersuchung des Nicht-Binären, denn sie kann Aufschluss darüber geben, wie epistemische Grenzen durchlässig werden.

Mein Beitrag nimmt die Änderungen in der medizinischen Klassifikation von Menschen mit uneindeutigen biologischen Geschlechtsmerkmalen im Jahr 2005 zum Ausgangspunkt. Im Rückblick auf den biomedizinischen Diskurs um die Behandlung und Klassifikation von Hermaphroditismus, bzw „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ möchte ich die epistemischen Potenziale des Nicht-Binären darstellen. Gleichzeitig werden solche epistemischen Möglichkeitsräume allerdings durch politische Kämpfe wie beispielsweise Intersex-Aktivismus thematisierbar. Diese Kämpfe haben zwar auch eine epistemische Komponente, werden aber auf Grundlage kollektiver Erfahrungen und Verortungen geführt. Eine Engführung von Nichbinarität als rein epistemisches Objekt würde in der Unsichtbarmachung solcher Kämpfe resultieren. Insofern lässt sich das Nicht-Binäre in meiner Auffassung weder als reine Ontologie noch in ausschließlich epistemischer Perspektive adäquat erfassen.



Doing Non-Binary – Erfolg durch Scheitern?

Lena:Emil Kramheller

Universität zu Lübeck, Deutschland

Um gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, werden Dichotomien erzeugt, die Anomalien ausschließen sollen. Diese Ordnung zielt darauf ab, Kontingenz zu leugnen und Ambivalenz zu verhindern (Bauman 2016). Der Zwang zur Dichotomisierung zeigt sich auch im Verhältnis von Natur und Kultur – Grundlage für die Unterscheidung von Sex und Gender (Laqueur 1992; Schiebinger 1995). Sex wird als natürlich vorausgesetzt und dient der Hervorbringung intelligibler Subjekte (Butler 2001, 2021). Queere, non-binäre Geschlechter lassen sich als Scheitern dieser Ideologie intelligibler Geschlechter verstehen – ein produktives Scheitern, das die Kontinuität und Konstruktion von Geschlecht sichtbar macht?

Ausgehend von Garfinkels Agnes-Studie und Theorien des doing gender (Kessler & McKenna 1978; West & Zimmerman 1987) analysiere ich Passing als Schlüsselbegriff: Es bezeichnet die performative Imitation, durch die Geschlecht anerkennbar gemacht wird. Passing gelingt, wenn Performativität nicht infrage gestellt wird – also „unsichtbar“ bleibt (Garfinkel 2013). Garfinkels Begriff des „achievement“ verweist auf das erfolgreiche Anerkanntwerden in Interaktion (1995: 68). Misserfolg – das Nicht-Passing – erzeugt Scham, Peinlichkeit, Aggression oder „trouble“, da Körper und Geschlecht nicht kohärent erscheinen (Butler 1990). Dieses Unbehagen ist eine Form des Queering, das normative Strukturen entlarvt und in meinem Beitrag analysiert werden soll. Ausgehend von der Prämisse, dass Scheitern verborgen wird, um die Brüchigkeit der hegemonialen Ordnung zu kaschieren, stelle ich in meinem Vortrag die Frage, was passieren würde, wenn wir dieses Scheitern annehmen?

Halberstam (2011) versteht produktives Scheitern als subversive Praxis gegen Normatives: „As a practice, failure recognizes that alternatives are embedded already in the dominant and that power is never total or consistent; indeed, failure can exploit the unpredictability of ideology and its indeterminate qualities“ (Halberstam, 2011:88).

Ausgehend von Theorien des Doings, Passings und Scheiterns möchte ich in meinem Beitrag non-binäres, queeres Geschlecht als Scheitern der Ideologie intelligibler Geschlechter begreifen, in dem ich das produktive, subversive Momentum des Scheiterns als Erfolg umdenken möchte, da es die Kontingenz von Geschlecht sichtbar macht und das Potential bürgt, die Geschlechterbinarität zu transitionieren.



Zwischen binären Kategorien: Nichtbinarität und Binationalität/Multiethnizität als Zwischenzugehörigkeiten

Shiva Oskui1, Tim Handick2

1Universität Erfurt, Deutschland; 2Universität Siegen, Deutschland

Mit unserem Beitrag möchten wir an die „Lessons from the Nonbinary“ anknüpfen. Die Geschlechterforschung zu Nichtbinarität zeigt, wie sich Personen zwischen sowie jenseits den als binär gesetzten Kategorien „männlich“ und „weiblich“ positionieren können – und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Wir schlagen vor, diese Erkenntnisse auf die Kategorie der Ethnizität bzw. Nationalität zu übertragen und Parallelen sowie Unterschiede zwischen nichtbinären und multiethnischen bzw. binationalen Positionierungen aufzuzeigen.

Auch Ethnizitäten und Nationalitäten werden oft als binär verstanden: Deutsch oder Nicht-Deutsch, Migrationshintergrund oder kein Migrationshintergrund, Schwarz oder Weiß. Multiethnische bzw. binationale Menschen finden in diesen Dichotomien jedoch keinen Platz und müssen neue Räume, einen third space (Bhabha, 1994), für sich schaffen. Genau wie sich geschlechtliche Nichtbinarität der Zuschreibung „männlich“ oder „weiblich“ entzieht, lässt sich auch die Identität multiethnischer Menschen nicht immer eindeutig nationalen oder ethnischen Zuschreibungen zuordnen. Beide Gruppen teilen damit Erfahrungen des Dazwischenseins, der Uneindeutigkeit und der gesellschaftlichen Irritation, die daraus erwächst.

In unserer intersektionalen Forschung mit biographisch-narrativen Interviews thematisieren wir auch die Überschneidungspunkte zwischen Geschlechtsidentität und ethnischer Identität. Inwiefern lässt sich die Nichtbinarität von Nationalitäten und Ethnizitäten mit der des Geschlechts vergleichen? Zusätzlich zeigen wir mit Fällen von nichtbinären multiethnischen Menschen die intersektionale Positionierung auf, welche Zwischenzugehörigkeit prägender für die Person ist, ob es Parallelen in ihren Diskriminierungserfahrungen gibt, und wo eventuell auch unterschiedliche Diskurse greifen.

Unser Beitrag versteht Nichtbinarität als analytische Linse, die auch jenseits von Geschlecht theoretisches und epistemisches Potenzial entfaltet. Wir möchten damit eine Erweiterung des „thinking with nonbinary“ anregen – hin zu einer soziologischen Perspektive, die auch ethnische und nationale Zugehörigkeiten in ihren Übergängen und ihrer Hybridität denkt.



Kommentar

Jun.-Prof. Dr. Tobias Boll

Johannes-Gutenberg Universität Mainz, Deutschland

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