Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH50: Turbulenz: Zur Soziologie unruhiger Verhältnisse
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Leon Wolff, Philipps-Universität Marburg
Chair der Sitzung: Sven Opitz, Universität Marburg
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Turbulenzen: Irritationen sozialer Ordnung aus ihren marginalisierten Räumen. Anregungen der französischen Soziologie

Marc Breuer

Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Als "turbulence" werden im Französischen, wie im Deutschen, Unruhen und Störungen bezeichnet, dane-ben jedoch ‚lebhafte‘ Charaktereigenschaften (z.B. eines Kindes). Diese größere Bedeutungsspanne dürfte mitursächlich sein, dass der Begriff in den frankophonen Diskursen stärker etabliert ist. Auf diese rekurriert implizit auch der Call mit dem Hinweis auf das philosophische Buch von Serres (1977). Darüber hinaus ist der Begriff in der französischen Soziologie anzutreffen, besonders prägnant in Manuel Bouchers „Sociologie des turbulences“ (2015), zuvor bereits bei Claude Levi-Strauss und Georges Balandier.

Der Vortrag plädiert dafür, die frankophonen Diskurse im Rahmen einer deutschsprachigen Soziologie der Turbulenz zu berücksichtigen. Boucher nutzt den Begriff insbesondere zur Analyse sozialer Unruhen in den marginalisierten Vorstädten der „Banlieus“. Es handele sich um Störungen sozialer Ordnung, die durch komplexe Dynamiken politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen, Ungleichheitseffekte, Ge-waltausübung, mediale Berichterstattung, soziale Verachtung und Stigmatisierung hervorgerufen werden. Umgekehrt tragen Turbulenzen tragen Turbulenzen allerdings zur Genese neuer gesellschaftlicher Ord-nung bei, z.B. indem marginalisierte Bewegungen mit dem Rap zu kulturellen Innovationen führten. Für seine Analysen nutzt Boucher Zugänge der Diskursanalyse sowie der anthropologischen Feldforschung.

Die französischen Ansätze, so meine These, lassen sich für die Thematik der Ad-hoc-Gruppe in mehrfa-cher Hinsicht fruchtbar machen: Erstens geht es darum, Erkenntnisse beizutragen, welche der Soziologie sozialer Ungleichheiten sowie jener der sozialen Probleme zuzurechnen sind. Die im Call benannte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung lässt sich auf diese Weise hinsichtlich der von Luhmann thematisierten ‚Exklusionsbereiche‘ und der daraus resultierenden Irritationen vertiefen. Zwei-tens sind die institutionalisierten Formen sozialer Intervention und Kontrolle zu berücksichtigen, wie sie in Form der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit auftreten. Drittens geht es umgekehrt darum, die Per-spektive der Turbulenz in die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle einzubringen.



Turbulenz als strukturbildende Unruhe. Ein Beitrag zur disziplinären Unruhe zwischen Naturwissenschaften und Soziologie

Martin Hauff

Goethe Universität Frankfurt, Deutschland

Der Vortrag untersucht wissenschafts- und ideengeschichtlich das wechselseitige Verhältnis von Natur- und Sozialwissenschaften bei der Reflexion über das Phänomen der Turbulenz.

Das Phänomen der Turbulenz stellt ein Problem in der Geschichte der Naturwissenschaften dar. Für die Berechnung der Dynamik von Fluiden, also Flüssigkeiten oder Gasen hatte, sich die Navier-Stokes-Gleichung als nützlich erwiesen. Diese Gleichung kommt jedoch bei Turbulenzen an die Grenzen der Berechenbarkeit.

Mithilfe von Computersimulationen lässt sich die Dynamik von Fluiden simulieren. Zentrale Erkenntnis dabei ist, dass auch kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Unterschiede im Zeitverlauf bewirken können (deterministisches Chaos). Gleichzeitig konnte aber auch gezeigt werden, dass aus der unendlichen Komplexität der Wechselwirkungen Muster und Strukturen entstehen können. Die Chaostheorie hat seit Mitte der 1970er Jahre gezeigt, dass sich aus dem Chaos heraus neuartige Strukturen bilden können (order from noise).

Das Santa Fe Institut hat seit den 1980ern diese Komplexitätsforschung vorangetrieben und Forscher:innen aus den Natur- und Sozialwissenschaften zusammengebracht. Brian Arthur hatte die Complexity Economics begründet und in Orientierung an der naturwissenschaftlichen Komplexitätsforschung versucht, Modelle für die Beschreibung von Dynamiken und Turbulenzen auf Märkten, speziell Finanzmärkten, zu finden. Aber auch in der Soziologie wurde die Komplexitätsforschung rezipiert und v.a. durch Renate Mayntz kritisch reflektiert.

Die Systemtheorie Luhmanns verfolgt den Anspruch, einen soziologischen Komplexitätsbegriff zu entwickeln. Dabei spielt auch der Begriff der Turbulenz eine Rolle. Für Luhmann sind Turbulenzen also konstitutiv für die Systeme, bergen aber gleichzeitig katastrophisches Potential, ein Oszillieren zwischen Ordnung und Unordnung. Mayntz und Luhmann übertragen nicht einfach die Forschungsergebnisse der Komplexitätsforschung auf die Soziologie, sondern die Begriffe der Komplexität und Turbulenz erfahren durch ihre Reflexion in der soziologischen Theorie eine Spezifizierung.



Turbulenz, Wirbel, Vertigo. Zum Zusammenhang zwischen Destabilisierung, Durchmischung und Affektlage

Claudia Peter

Frankfurt University of Applied Sciences, Deutschland

Turbulenzen sind wirbelnde Strömungen, in denen sogartig Elemente und Energie aufgenommen werden. Im einzelnen Wirbel wie in atmosphärischen Turbulenzen kommt es zur Vermischung heterogener Elemente, sie reißen alles mit sich und nach dem Abebben wird ein Bild des Chaos sichtbar.

Was man mit diesen Kräften verbindet, ist ambivalent: Während die einen die Zerstörung der Ordnung fürchten, bewundern die anderen die friedliche Stimmung danach und sehen die Möglichkeit einer Neuordnung. Allerdings sind zu starke Turbulenzen nicht ungefährlich: der Mensch in seiner leiblichen Verletzbarkeit kann die Orientierung oder den Halt verlieren, ihm kann schwindlig werden. Fühlt sich der Schwindel unangenehm an, kann er sich zu Angst steigern. Gibt man sich ihm hin, dann kann das Sich-Fallen-Lassen erleichternd sein, bedeutet aber zugleich den temporären Verlust von Kontrolle und Schutz.

Versteht man Turbulenz nicht lediglich als atmosphärisches Phänomen, sondern als gesellschaftliches wie soziales Phänomen, wird die Ubiquität deutlich: die Tage und Monate der „Wende“ waren für die Ostdeutschen turbulent; die ersten Tage zuhause mit einem Neugeborenen sind für die frischgebackenen Eltern ebenfalls turbulent; wird ein Prominenter in einen Skandal hineingezogen, dann erlebt er ebenfalls turbulente Tage usw. usf. Bei sozialen Figurationen des Turbulenten spielen die Ebenen des historischen und räumlichen Kontextes, der Mikrodynamiken und der affektiven Empfindungen jeweils zusammen und wirken aufeinander ein.

Turbulenz als Begriff ist derzeit noch unterbestimmt. Dabei steht schon fest, dass er zeitliche und räumliche Dimensionen zusammendenkt, dass er andere Ordnungsvorstellungen – die des Strömens, Durchmischens, des Hin- und Herbewegens – priorisiert und damit das unkontrollierbare, nicht lineare Aufeinandertreffen von Einflüssen fokussiert.

In einem begriffstheoretischen Vortrag möchte ich den Begriff der Turbulenz mit dem phänomenologischen Begriff der Schwelle im Anschluss an die Studien von B. Waldenfels in Bezug setzen. Ich diskutiere vergleichend, wie sich beide Begriffe gegenseitig ergänzen und erhellen können. Ziel ist es u.a., die Ebene des Erlebens stärker zu erfassen und damit die affektive Dimension des Turbulenten deutlicher herauszustellen.



Potenziale und Grenzen eines soziologischen Turbulenzbegriffs

Robert Seyfert

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland

Ausgehend vom Thesenpapier der Adhoc-Gruppe „Turbulenz: Zur Soziologie unruhiger Verhältnisse“ entfaltet der Vortrag eine theoretische Perspektive auf Turbulenz als Schlüsselbegriff für die Analyse komplexer, instabiler, aber nicht unstrukturierter sozialer Verhältnisse. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass soziale Wirklichkeit weder in rein geordneten Strukturen noch in bloßer Unordnung aufgeht, sondern häufig in einem dynamischen Zwischenzustand operiert, der als Turbulenz gefasst werden kann. Während der Begriff in der Soziologie bislang primär metaphorisch - meist als Sinnbild für Unruhe oder Störung - verwendet wird, lässt er sich an physikalisch-technische Konzepte anschließen, in denen Turbulenz als nichtlineare, instabile, aber systematisch analysierbare Bewegungsform beschrieben wird.

Der Vortrag unterscheidet zunächst (und kontrastiv) Turbulenz (chaotisch-energetische Kopplungen) von zwei anderen Formen sozialer Relationalität: Laminarität (geordnete, getrennte Strömungen) und Resonanz (harmonisch gekoppelte Systeme). Turbulenz wird dabei nicht nur als destruktive Kraft verstanden, sondern auch als produktive Dynamik – etwa in kollektiven Affektdynamiken (z.B. kollektive Solidaritätsbekundungen), digitalen Diskursereignissen (z.B. virale Meme) oder algorithmisch sortierten Öffentlichkeiten (z.B. Twitter/X-Gruppen). Zwei zentrale Typen turbulenter Ströme werden herausgearbeitet: homogene Turbulenz, die synchronisierte, gleichgerichtete Effekte hervorbringt, und heterogene Turbulenz, in der Differenzen erhalten und wirksam bleiben.

Diese Differenzierungen ermöglichen es, soziale Prozesse wie Klassenbildung, Affektmobilisierung oder algorithmische Sichtbarkeitsproduktion als Operationen unter Bedingungen von Turbulenz zu begreifen. Turbulenz wird so zu einem relationalen Ordnungsbegriff, der Differenz nicht auflöst, sondern aktiviert. Der Vortrag plädiert für eine Soziologie der Turbulenz, die gesellschaftliche Dynamiken nicht als Abweichungen von Ordnung, sondern als deren konstitutive Bewegungsform begreift, und diskutiert zugleich kritisch die Grenzen technischer Kontrollierbarkeit solcher Turbulenzen.

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Jenseits der Tragfähigkeit. Die Einpreisung von Turbulenz an der Schnittstelle von Ökologie und Ökonomie

Vicky Kluzik

Goethe Universität Frankfurt, Deutschland

How much is too much? Das Konzept der ‚Tragfähigkeit‘ (carrying capacity), das zunächst im Kontext der Schifffahrt um 1840 und später der Viehwirtschaft im späten 19. Jahrhundert aufkam, hat eine bemerkenswerte Reise durch verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse hinter sich. Grundlegend beschreibt ‚Tragfähigkeit‘ die maximale Anzahl von Organismen, Arten oder Populationen, die in einem Lebensraum dauerhaft existieren können, ohne diesen nachhaltig zu schädigen – eine Logik, die Malthus, Marx und den Weltbiodiversitätsrat IPBES gleichermaßen beschäftigt(e) und von der Populationsökologie über die Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Erdsystemwissenschaft wanderte. Tragfähigkeit sowie verwandte Konzepte wie der maximale Dauerertrag (maximum sustainable yield) oder der sichere Handlungsspielraum (safe operating space) versuchen so, die Zustände turbulenter Umgebungen zu aggregieren und so eine mittel- bis langfristige Ordnung sicherzustellen. Als ‚imaginierte Realität‘ changiert das Konzept scheinbar mühelos zwischen Starrheit und Flexibilität, und kann als kalkulative Antwort auf den (vermeintlichen) Exzess von Populations- und Wirtschaftswachstum gelesen werden.

Dieser Beitrag beleuchtet die lebendige Genealogie des Konzepts der ‚Tragfähigkeit‘ von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart. Durch dieses Fenster sollen die Konturen einer politischen Wissenstheorie von Ökonomie und Ökologie geschärft und damit ein Beitrag zur Historisierung soziologischen Umgebungswissen geleistet werden. Der Vortrag basiert auf einem gouvernementalitätstheoretischen Ansatz, der mit Sensibilitäten der Science and Technology Studies (STS) in Dialog gebracht wird. Der Beitrag legt das Augenmerk auf zwei Perioden: dem environmental turn ab Mitte der 1960er Jahre sowie dem planetary turn seit den späten 2000er Jahren und lotet die Verschränkung ökonomischen und ökologischen Wissens aus. Tragfähigkeit stellt eines von vielen Planungsinstrumenten dar, die als „politische Technologie“ unruhiger Verhältnisse verschiedenste Facetten menschlichen und nicht-menschlichen Lebens und ihrer technologischen wie natürlichen Umgebungen in ökonomischen Begriffen übersetzt - eine Strategie, um Turbulenz kontinuierlich durch elegante Abstraktionen einzupreisen und Vorstellungen ökonomisch-ökologischer Grenzen zu (re-)produzieren.



 
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