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AdH49: Krieg, Terror und Pandemien – Singuläre Krisen in der Soziologie
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Soziologie singulärer Krisen - Grundannahmen und Dimensionen Universität Graz, Österreich Seit den Anfängen der Soziologie gehört es zum Selbstverständnis des Faches, Krisen in modernen Gesellschaften zu diagnostizieren. Die Soziologie verfügt jedoch über keine Theorie, die zwischen normalen und extranormalen bzw. singulären Krisen unterscheidet. In diesem Einführungsbeitrag soll eine Krisenheuristik vorgeschlagen werden, die zwischen diesen beiden Typen unterscheidet. Während eine normale Krise durch zyklische oder strukturelle Muster gekennzeichnet ist, die sich in der Regel allmählich aufbauen und zu inkrementellen Veränderungen führen können, ist eine singuläre Krise durch disruptive Brüche im Verhältnis zum Vorkrisenzustand gekennzeichnet. Solche Brüche können traditionelle Ordnungsbildungen sowohl institutionell als auch narrativ auf die Probe stellen. Im Gegensatz zu normalen Krisen ist eine singuläre Krise durch exogene Schocks wie Kriege, Naturkatastrophen oder Pandemien charakterisiert. Dieser Schock markiert den Beginn eines Kriseninterventionsprozesses, der durch wiederkehrende soziologische Besonderheiten gekennzeichnet ist, die anhand der Dimensionen Eindringtiefe, Zeitlichkeit, Ordnungsprinzip, sozialer Wandel, Isomorphie, Pfadabhängigkeit, Kollektivmoral, Legitimationsmodus und räumliche Ordnung zur Diskussion gestellt werden sollen. Situative Nichtalltäglichkeit im Angesicht eines pandemischen Unverfügbarwerdens von Welt Universität Koblenz, Deutschland Gerade zu Beginn der Coronapandemie entstand in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck, einem herausragenden, zeitgeschichtlichen Ereignis beizuwohnen. Aus Regionen mit gescheiterter Eindämmung – etwa Bergamo oder New York – verbreiteten sich Anfang 2020 verstörende Bilder gestapelter Särge und Leichen in Kühllastern. Gleichzeitig wurden die Folgen der Lockdowns am eigenen Leib spürbar. Die Rede vom drohenden Kollaps des Gesundheitssystems machte die Runde. Die wirtschaftlichen Folgen erschienen ebenso gewaltig wie unabsehbar. In den ersten Monaten verband sich das hohe Ansteckungspotenzial mit der Häufigkeit schwerer Verläufe zu einer bedrohlichen Mischung. SARS-CoV-2 konnte lokale medizinische Infrastrukturen binnen Tagen überfordern. Vom Gesundheitssystem ausgehend drohte ein gesamtgesellschaftlicher Stillstand. Das Virus stürzte die Gesellschaften in tiefe Krisen. Die Politik wurde zur notwendigen Reaktionsinstanz – und für manche zu einem weiteren Krisengegenstand. Die Pandemie erzeugte so nicht nur ein Moment der Relevanz (Schütz) in der Alltagswelt – sie durchbrach diese und erzeugte eine eigenständige, nichtalltägliche Relevanzordnung und stellte diese temporär auf Dauer. Das Unverfügbarwerden der Welt klammerte alte Gewissheiten aus und formierte eine Struktur situativer Nichtalltäglichkeit (Ernst-Heidenreich). In einem ersten Schritt wird in diesem Beitrag das pandemiebedingte Unverfügbarwerden der ersten Monate der Pandemie in einer Doppelbewegung rekonstruiert: Einerseits brechen alltägliche Weltzugänge weg, und Routinen wie Selbstverständlichkeiten greifen ins Leere. Andererseits ziehen diese Brucherfahrungen unmittelbar (Anschluss-)Versuche nach sich, im Angesicht situativer Nichtalltäglichkeit erneut Verfügbarkeit herzustellen. Die Bruch-Zwang-Dialektik situativer Nichtalltäglichkeit mündet in Innovation, Rebellion, Resignation und zuweilen auch Indifferenz. In einem zweiten Schritt richtet der Beitrag die Aufmerksamkeit auf die Soziologie. Sie selbst kann sich der ‚Verbindlichkeit‘ der Krise nicht entziehen. Die ‚frisch‘ entstandene Corona-Soziologie ist selbst Teil der entfesselten Dynamik, und ihr Modus als realexperimentelle soziologische Krisenwissenschaft nicht weniger aufschlussreich als Hamsterkäufe, Grenzschließungen und Lockdowns. Wissen im Ausnahmezustand: Epistemische Krisen im Kontext von Flucht und Vertreibung Universität Wien, Österreich Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 stellt nicht nur eine politische und humanitäre Katastrophe dar, sondern kann im Sinne des Calls als singuläre Krise verstanden werden: Er erschüttert abrupt bestehende Ordnungen, erzeugt massive Verunsicherung und entfaltet weitreichende gesellschaftliche wie individuelle Dynamiken. Dieser Beitrag untersucht aus sozial-phänomenologischer und wissenssoziologischer Perspektive die epistemischen Dimensionen von Umbruchserfahrungen geflüchteter Menschen – anhand einer rekonstruktiven Analyse von Gruppendiskussionen mit Ukrainer*innen, die nach Kriegsausbruch in Österreich Zuflucht gesucht haben. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Krieg und Flucht als singuläre Krisen auf die Bedingungen von Wissenserzeugung, -zirkulation und -verwendung von Menschen mit Fluchterfahrung auswirken. Die empirischen Befunde zeigen eine mehrdimensionale epistemische Krise: Auf individueller Ebene verlieren gewohnte Orientierungsmuster und Alltagswissen ihre Gültigkeit. Routinen, Zukunftspläne und normative Selbstverständlichkeiten geraten ins Wanken. Auf interaktionaler Ebene entstehen Unsicherheiten in der Kommunikation – bedingt vor allem durch unterschiedliche Erfahrungshorizonte. Auf institutioneller Ebene zeigen sich strukturelle Verunsicherungen: Bürokratische Systeme erscheinen intransparent, Regeln sind volatil, Vertrauen ist schwer herzustellen. Diese Perspektive erlaubt es, erzwungene Migration bzw. die Erfahrung von Krieg und Flucht nicht nur als soziales, sondern auch als epistemisches Phänomen zu begreifen. Sie verweist auf eine grundlegende Destabilisierung von Wissensstrukturen, die zentrale Merkmale singulärer Krisen aufweist: abrupter Eintritt, systemübergreifende Irritation, normative Unsicherheit und radikalisierte Kontingenz. In Anlehnung an eine sozial-phänomenologisch fundierte Soziologie des Wissens diskutiert der Beitrag, wie sich in der Krise der kontextuelle, relationale und machtvolle Charakter von Wissen offenbart – und wie sich gerade in Momenten epistemischer Fragilität neue Formen von Weltdeutung und Orientierung herausbilden. Ziel des Beitrags ist es, den Stellenwert epistemischer Dynamiken in singulären Krisenkontexten sichtbar zu machen und zur Diskussion darüber anzuregen, wie Soziologie – insbesondere die Wissenssoziologie – solche Prozesse theoretisch und methodisch erfassen kann. Einzigartig aber nicht singulär? Die Klimakrise als radikalisierte Unisicherheit der Zukunft Universität Antwerpen, Belgien Die Klimakrise ist nicht nur außerordentlich bedrohlich, sondern auch in vielerlei Hinsicht beispiellos: Sie betrifft alle Kontinente, durchdringt nahezu alle Lebensbereiche und stellt eine globale Herausforderung für die gesamte Menschheit dar. Dennoch lässt sie sich kaum als „singuläre Krise“ im Sinne des von Kraemer vorgeschlagenen Konzepts einordnen. Der Beitrag setzt sich kritisch aber produktiv mit dem Konzept der singulären Krise auseinander. Er teilt die Überzeugung, dass es aus soziologischer Perspektive sinnvoll ist, konzeptuell zu erfassen, dass Krisen unterschiedliche Qualitäten aufweisen. Anstelle einer binären Unterscheidung zwischen „singulären“ und „normalen“ Krisen wird eine differenziertere Perspektive vorgeschlagen, die Krisen im Lichte einer Soziologie imaginierter Zukünfte betrachtet. Ein zentrales Merkmal von Krisen besteht demnach in der radikalisierten Unsicherheit der Zukunft sowie der Erschütterung gesellschaftlicher Zeitordnungen. In Krisensituationen wird die Zukunft unvorhersehbar, diffus oder sogar unvorstellbar. Gleichzeitig unterscheiden sich Krisen in dem Ausmaß dieser radikalisierten Unsicherheit. Das vorgeschlagene theoretische Rahmenkonzept unterscheidet drei Dimensionen der Unsicherheit: ontologische, epistemologische und prozessuale Unsicherheit der Zukunft. Entlang dieser Dimensionen lassen sich unterschiedliche gesellschaftliche Krisen verorten und voneinander abgrenzen. Der Ansatz ermöglicht somit ein vertieftes Verständnis dafür, inwiefern sich die Klimakrise von anderen gesellschaftlichen – und insbesondere von sogenannten singulären – Krisen unterscheidet oder mit ihnen Gemeinsamkeiten aufweist. Diese Perspektive erlaubt es, Krisen systematisch zu vergleichen und kritisch zu reflektieren, welche Lehren sich aus dem bisherigen politischen Umgang mit singulären Krisen für die Bewältigung der Klimakrise ziehen lassen – oder eben nicht. Krieg in Europa - die Normalisierung der singulären Krise Europa-Universität Viadrina, Deutschland Der Beginn des russischen vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24.04.2022 wurde als Einzigartigkeit in der jüngeren europäischen Geschichte verstanden, der die Zeitgeschichte in ein „davor“ und ein „danach“ teilte. Die Wucht des beginnenden Krieges, die zeitliche Abruptheit des Überfalls, die massive Irritation der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung (und der Wahrnehmung von deren Persistenz) und nicht zuletzt die schiere Gewalt des russischen Angriffs sprechen dafür, dass es sich um eine singuläre Krise handelt. Allerdings lassen sich drei Aspekte feststellen, die das Konzept der singulären Krise in Frage stellen. Erstens negierte die Einschätzung, dass Russland am 24.2.22 einen Krieg gegen die Ukraine und damit mithin den „ersten Angriffskrieg in Europa seit dem 2. Weltkrieg“ begonnen habe, die Tatsache, dass der Angriffskrieg bereits 2014 begann und Russland seitdem aktiv einen Krieg gegen die Ukraine führt, der aber nicht als singuläre Krise im öffentlichen Diskurs wahrnehmbar war, sondern als Expert*innenthema galt, wenngleich der zivilisatorische Bruch durch Russland im Jahr 2014 vor allem quantitativ ein anderer war als 2022. Zweitens zeigt dieser Krieg, dass singuläre Krisen nicht aus dem Nichts kommen, sondern teilweise eine lange Vorlaufphase aufweisen, die zu verstehen Expert*innenwissen verlangt und die im öffentlichen Diskurs kaum rezipiert wird. Singuläre Krisen „ereignen“ sich nicht plötzlich, sie werden nur als etwas „Plötzliches“ wahrgenommen, wenn es nicht gelingt, Expertise über die Zuspitzung zu einer singulären Krise bereitzustellen, zu kontextualisieren und so zu verdichten, dass die nahende singuläre Krise breit sichtbar wird. Drittens zeigen nachlassende öffentliche Aufmerksamkeit für den russischen Angriffskrieg, geringer werdende Unterstützung und Empathie für die Verteidigung der Ukraine, dass singuläre Krisen leicht in die Normalisierung übergehen können, wenn a) die Krise nicht lebensweltlich verankert und somit auch subjektiv wahrgenommen wird, und b) neue Krisen (möglicherweise mit mehr lebensweltlicher Permeabilität) alte Krisen überlagern und verdrängen. In meinem Vortrag gehe ich, u.a. basierend auf der Krisensoziologie von Charles Tilly, auf diese Prä- und Postkontexte singulärer Krisen und Modi der Krisennormalisierung am Beispiel des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ein. Zeitenwende als singuläre Krise? Zum Wandel der zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland seit 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Deutschland Mit der Ausrufung der „Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 unmittelbar nach dem Überfall der Ukraine durch Russland sind in Deutschland Fragen von Krieg und Frieden ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. In Talkshows und Podcasts wird seitdem über Waffenlieferungen, Kriegsszenarien und die Wehrbereitschaft der deutschen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, diskutiert, während vom Bundestag milliardenschwere Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen werden. Aus einer militärsoziologischen Perspektive, die sich für die Bedingungen und Modi der Konstruktion der zivil-militärischen Beziehungen im Verlauf der Zeit interessiert, sind die jüngsten Entwicklungen nicht zuletzt mit Blick auf die Frage von Interesse, inwiefern die soeben angesprochenen Aspekte tiefgreifende Veränderungen anzeigen oder (nur) Zeichen eines Anpassungsprozesses sind, wie er in regelmäßigen Abständen zu beobachten ist. Der Rückgriff auf den Begriff der Krise erscheint hier hilfreich, da mit der Unterscheidung zwischen ‚normalen‘ und ‚singulären‘ Krisen ein Differenzierungsvorschlag verbunden ist, der es erlaubt, sowohl den Bruch von Handlungsroutinen und verbundene Neuerungen zu erfassen als auch die damit verknüpften Entscheidungen nach Intensität bzw. Reichweite zu klassifizieren. Im Fall des hier betrachteten Ausschnitts gesellschaftlicher Wirklichkeit – das Militär in seiner politischen wie zivilgesellschaftlichen Einbindung – erscheint dies vor allem deshalb von Relevanz, da ‚Krieg‘ aus militärischer Sicht eine zwar außeralltägliche, aber dennoch antizipierte Handlungsoption darstellt, die organisational entsprechend abgebildet wird, während der Einsatz militärischer Gewalt als politische Option respektive soziale Wirklichkeit hierzulande jahrzehntelang nur mit Blick auf andere Weltgegenden imaginiert und diskutiert wurde und erst seit 2022 in Gestalt von Landes- und Bündnisverteidigung in erwartbare Nähe gerückt ist. Vor diesem Hintergrund zielt der vorgeschlagene Beitrag darauf ab, entlang der Unterscheidung zwischen normalen und singulären Krisen eine Verortung der gegenwärtigen zivil-militärischen Beziehungen vorzunehmen, wobei zwischen Militär, politischem System und Öffentlichkeit differenziert wird. |