Freundschaften in der Transition, Transitionen der Freundschaft: Einführung und zusammenfassende Diskussion der Beiträge
Jessica Schwittek1, Julia Hahmann2, Janosch Schobin3
1Universität Duisburg-Essen; 2Hochschule RheinMain; 3Universität Kassel
Freundschaften sind im Vergleich zu anderen Beziehungsformen in geringerem Maße institutionalisiert. In der Konsequenz sind sie sehr heterogen bzgl. ihrer Struktur, ihrer Routinen, Werte und Normen sowie bzgl. gesellschaftlicher Deutungsmuster. In ihrer gesellschaftlichen Funktion sind sie damit schwer bestimmbar und verbleiben soziologisch häufig wenig beleuchtet. Gleichzeitig werden sie in Repräsentativbefragungen als individuell hoch relevant eingestuft und scheinen in pluralisierten Vergemeinschaftungs- wie Vergesellschaftungsformen einen erhöhten Stellenwert zu erfahren. In der Ad-Hoc Gruppe widmen wir uns der Frage des Wandels von Freundschaften in einer doppelten Logik:
1 Die Bedeutung von Freundschaften für Transitionen
Zum einen fragen wir, wie Freundschaften sich in gesellschaftliche Transitions-, Umbruchs- oder Wandlungsprozesse einordnen lassen können, wie bspw. die Auflösung traditioneller Vergemeinschaftungsformen oder angesichts von Migration und Flucht als Erfahrung für immer mehr Menschen. Hier werden Fragen virulent, wie Freundschaften entstehen, genutzt, angepasst oder verändert werden, um Folgen sozialer Transitionsprozesse zu bewältigen, in welchem Verhältnis Freundschaften zu anderen sozialen Beziehungen (bspw. familiale Beziehungen) stehen und wie sie gesellschaftlich nutzbar gemacht werden. Gefragt wird ebenso nach der Bedeutung und Funktion von Freundschaft für gesellschaftliche Behar-rungstendenzen, beispielsweise die Legitimation und Aufrechterhaltung bestehender hegemonialer Ordnungen und Ungleichheitsverhältnisse.
2 Transitionen von Freundschaftsformen selbst
Diskutiert werden soll außerdem die Frage, wie sich Freundschaften selbst angesichts gesellschaftlicher Transitionen verändern und welchen neuen Formen der Freundschaft entstehen, geführt werden und gesellschaftliche Relevanz erfahren. Hierunter fassen wir neuere (auch posthumanistische) Forschungs-perspektiven, wie bspw. solche auf Tier-Mensch-Interaktionen und deren (mögliche) Deutung als Freundschaften.
Die Veranstaltung versammelt Beiträge aus der Familien-, Migrations- und Wissenssoziologie, sowie der Gender- und Ungleichheitsforschung, um gegenstandsbezogen zu diskutieren, ohne einer methodologischen Engführung zu unterliegen. Janosch Schobin wird als Diskutant seine Expertise im Feld der Freundschaftsforschung einbringen und die Vorträge zueinander in Bezug setzen.
Freundschaften der Vermögenselite: Der Versuch einer sozialen (Re)Integration?
Annika Hoeft
Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung, Deutschland
Die Studie untersucht das Verhältnis von Freundschaft und Vermögen innerhalb der deutschen Vermögenselite. Im Fokus stehen Personen des obersten 0,01 % sowie Akteure aus der sogenannten Vermögensperipherie (oberstes 0,1 % und 1 %), die in sozialer Nähe zur Elite agieren. Ziel ist es, die Wechselwirkungen zwischen vermögensbezogenen Ungleichheitsstrukturen und sozialen Beziehungen zu analysieren. Empirische Grundlage bilden teilnarrative Interviews mit vermögenden Individuen aus den genannten Vermögenssegmenten. Die Ergebnisse widersprechen verbreiteten Annahme in der Vermögens- und Freundschaftssoziologie, Freundschaften wirkten grundsätzlich unterstützend auf die Reproduktion von Vermögen. Vielmehr zeigen sich differenzierte Praktiken der Grenzziehung: Vermögen wird in vielen Fällen aus Freundschaftsbeziehungen bewusst ausgeklammert oder als potenziell destabilisierend empfunden. Diese Dynamiken sind im Kontext der seit den 1970er-Jahren zunehmenden Vermögenskonzentration zu verstehen. So kontrollieren in Deutschland die obersten 1 % der Vermögenselite mittlerweile rund 35 % des nationalen Nettovermögens. Diese Gruppe ist insbesondere durch dynastische Unternehmerfamilien und deren zunehmende interfamiliäre Verknüpfungen geprägt. Parallel dazu lässt sich ein kultureller Wandel beobachten: Freundschaften gewinnen für Vermögende an Bedeutung, während traditionelle Distinktionspraktiken wie aristokratische Hobbys (Reiten, Jagen, Ballett) an Relevanz verlieren. Stattdessen dominieren alltagsnahe Praktiken, die als Ausdruck einer zunehmenden Angleichung an mittlere soziale Lagen gedeutet werden können. Diese gezielte Pflege von Freundschaften mit Angehörigen der Mittelschicht, und nicht mit ähnlich Vermögenden, deutet auf eine versuchte soziale (Re-)Integration der Vermögenselite hin. Solche heterogenen Freundschaften dienen damit nicht nur der Legitimation von Reichtum oder der Verschleierung sozialer Herkunft, sondern fungieren auch als Mechanismus sozialer (Re-)Integration. In ihrer Wirkung stabilisieren und legitimieren damit nicht nur homogene, sondern auch heterogene Freundschaftsmuster bestehende Vermögensverhältnisse und tragen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei.
Gewissermaßen Freunde – Freundschaften zwischen Menschen und Tieren
Annette Schnabel
Heinrich-Heine-Universität, Deutschland
In westlichen Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten das Verhältnis zu den Tieren, mit denen wir zusammenleben, stark verändert (Wischerman 2017): War bis in die 1950er Jahre die Tier-Mensch-Relation geprägt durch eine kontinuierliche Zunahme von Zahl und Funktion von Tieren im menschlichen Nahbereich, durch die Entstehung des Rassegedankens, die Zunahme von Zuchtbemühungen zur Anpassung von Tierkörpern an menschliche Vorstellungen und Nutzung sowie durch eine Ambivalenz zwischen Gewalt und Emotion, so differenzieren sich in den 1950ern die Räume stark aus, in denen Tiere als Nutztiere und solche, in denen Tiere als Haustiere gehalten werden. Letztere rücken zunehmend in den vornehmlich emotionalen Nahbereich, sie werden zu „companions“ (Haraway 2016), zu Lebensbegleitern, Familienmitgliedern und zu Freunden. Das wirft die Frage auf, ob und in welcher Form Freundschaften mit Tieren überhaupt möglich sein können.
Der Beitrag geht dieser Frage in vier Argumentationsschritten nach: (i) Zunächst wird Freundschaft im soziologischen Kontext als besondere Form sozialer Beziehungen entlang der Dimensionen der ‚affektiven Bindung‘, der ‚Gleichrangigkeit‘, der ‚Freiwilligkeit‘, der ‚Gegenseitigkeit‘ und der ‚zeitlichen Dauerhaftigkeit‘ konzeptionalisiert. (ii) Im Anschluss daran wird anhand verschiedenartiger Anbahnungen und Ausgestaltungen von Tier-Beziehungen (Anschaffung eines Haustiers, wiederkehrende Zufallsbegegnungen mit Wildtieren, Rescue von Tieren) untersucht, inwieweit sich Tier-Beziehungen als Freundschaft betrachten lassen können. Es zeigt sich, dass Zeitlichkeit, aber auch institutionelle, rechtliche Regelungen für die Qualitäten und die Mechanismen der Aushandlung von Tier-Mensch-Freundschaften eine ebenso wichtige Rolle spielen wie Emotionalität. (iii) In einem dritten Schritt wird noch einmal speziell untersucht, wie agency in Tier-Mensch-Freundschaften zugeschrieben und realisiert werden können. Dies leitet über zum abschließenden Argumentationsschritt, in dem zu zeigen sein wird, dass Tier-Mensch-Freundschaften Bestandteil der aktuellen gesellschaftlichen Transformation sind und aktuelle gesellschaftliche Selbstverständnisse aber auch Ethiken neu prägen, indem sie die Differenz zwischen Nutztieren und companion animals verstärken.
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Die Bedeutung von Freundschaften für das Unterwegssein, Ankommen und Bleiben von jungen Menschen mit Migrationserfahrungen in Berlin
Johanna Bastian
HU Berlin | DeZIM Institut
An einem neuen Lebensmittelpunkt anzukommen ist mit Veränderungen und Herausforderungen verbunden. Gerade Menschen mit transnationalen Mobilitätserfahrungen sind häufig mit bürokratischen Prozessen und neuen sozialen und kulturellen Umfeldern konfrontiert. Freundschaften können in diesem Kontext Unterstützung bieten, dabei helfen neue Räume zu erschließen und Ankommensprozess zu gestalten. Genauso können ihr Ausbleiben oder Auslaufen aber auch positive Erfahrungen verhindern. Schlussendlich haben wir nicht einfach Freundschaft. Vielmehr hängen die Beziehungen, die wir schließen (können) auch von gesellschaftlichen Machtstrukturen und Zugängen ab. Im Kontext von Mobilität, Migration und Migrantisierung möchte ich Merkmale von Freundschaft wie Ebenbürtigkeit, Reziprozität, räumliche Nähe, Intimität oder (Nicht)Institutionalisierung, die häufig als grundlegend definiert werden, daher kritisch beleuchten.
In meinem Beitrag widme ich mich aus einer intersektionalen Perspektive den folgenden Fragen: Wie verhandeln junge Menschen durch und in ihren Freundschaften Erfahrungen von (Nicht)Zugehörigkeit im Kontext von Migrations- und Ankommenserfahrungen? Welche Rolle spielen u.a. Sympathie, Freiwilligkeit und (Nicht)Institutionalisierung? Welche Zugänge und Barrieren gibt es?
Empirisch beziehe ich mich auf biographische Interviews und Storymapping-Workshops mit Menschen zwischen 18-35, die neu nach Berlin gezogen sind. Der Beitrag ist eingebettet in mein Dissertationsprojekt, in dem ich mich dafür interessiere, wie neue und alte Freundschaften die Mobilität, das Ankommen und Bleiben junger Menschen mit Migrationserfahrungen beeinflussen. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Aushandeln translokaler Positionalitäten und Zugehörigkeiten als Weiterentwicklung von intersektionalen Ansätzen im Kontext von Migrationserfahrungen (Anthias 2009, 2019). Dabei kombiniere ich Perspektiven aus der kritischen Migrationsforschung und der feministischen Geographie, um die Frage zu beantworten wie und welche Art von Räumen freundschaftliche Begegnungen im Leben von Menschen mit Mobilitätserfahrungen ermöglichen, wie sich ihre Freundschaften auf translokalisierte Zugehörigkeiten auswirken und welche Potenziale in einem vielfältigen und machtkritischen Verständnis von Freundschaften liegen– und welche Voraussetzungen es braucht um Zugang zu diesen zu bekommen.
Lebensformen in der Transition
Martina Richter
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Freundschaften beschäftigten Hannah Arendt zeitlebens und sie sind beinahe in allen ihren Schriften gegenwärtig. Gerade in den veröffentlichten Briefwechseln mit befreundeten Intellektuellen wie etwa Mary McCarthy zeigt Arendt den Wert, den sie Freundschaften zuschreibt. In Gesprächen mit Freund*innen gehe es um die geteilte Welt sowie gemeinsame politische Anliegen und weniger um den privaten Gemütszustand. Freundschaft ist mit Arendt ein Raum des Politischen. Die Bedeutung von Freundschaft als Ort der Entfaltung des Politischen findet sich nicht lediglich bei Arendt, sondern auch bei weiteren philosophischen Denker*innen (Foucault 1984; Derrida 2018). Freundschaft wird hier als Lebensform konturiert, die Gleichheit erfahrbar mache und als Beitrag für eine demokratische Gesellschaft stehe. Dem wird nicht selten Familie als private Lebensform (vgl. Jaeggi 2013) entgegengestellt, denn die Ordnung der Familie stehe für eine „Stabilität repressiver Logiken“ (Reich 1973, zit. nach de Lagasnerie 2023: 23). Geoffroy de Lagasnerie (2023) entfaltet in „3 – Ein Leben außerhalb“ eine Perspektive, die Freundschaft als Lebensform denkt. Seine Argumentation speist sich dabei u.a. über biografische Bezüge, d.h. in enger Bezugnahme auf seine Freundschaft bzw. Liebesbeziehung mit Didier Eribon und Édouard Louis. Dabei wird in enger Bezugnahme auf bzw. in deutlicher Abgrenzung zum Familialen argumentiert. Angeboten werden damit Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung unter zeitdiagnostischer bzw. gesellschaftstheoretischer Perspektive mit dem Ziel, eine „Politik der Existenz“ (ebd.: 9) zu diskutieren. Für die geplante Ad hoc – Gruppe scheint nun von Interesse, diese Theorieangebote aufzunehmen und Freundschaft und Familie als Lebensformen in ihrer Transition bzw. Transformation näher auszuleuchten und beide im Kontext kapitalistischer Gesellschaften zu diskutieren (Fraser/Jaeggi 2020).
Literatur
Derrida, Jacques (2018): Politik der Freundschaft. Frankfurt: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1984): Von der Freundschaft als Lebensweise. Berlin: Merve.
Fraser, Nancy/Jaeggi, Rahel (2020): Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Frankfurt: Suhrkamp.
Jaeggi, Rahel (2013): Kritik von Lebensformen. Frankfurt: Suhrkamp.
Lagasnerie, Geoffroy de (2023): 3 – Ein Leben außerhalb. Frankfurt: Fischer
Queering Friendship - Freund*innenschaft während des Coming-outs und der Transition
Lio Dohmen
Universität Potsdam, Deutschland
Die bestehende Freundschaftsforschung ist bislang überwiegend von cis- und heteronormativen Perspektiven geprägt. Für queere Personen haben Freund*innenschaften allerdings seit jeher eine besondere Bedeutung – als Räume der Zugehörigkeit, Solidarität und Unterstützung jenseits traditioneller Familienkonzepte. Angesichts eines erstarkenden Rechtsrucks stellt sich die Frage, welche Rolle Freund*innenschaften insbesondere für trans*, inter* und nichtbinäre (TIN*) Personen einnehmen. Welche Formen der Unterstützung bieten Freund*innenschaften - und welchen Widerstand können sie in einer binär geprägten Gesellschaft leisten? In einer qualitativen Masterarbeit hat Lio Dohmen Freund*innenschaft als soziale Praxis für TIN*-Personen im Kontext von Coming-out und Transition untersucht. Vorgeschlagen wird das Konzept des "Queering Friendship", das neue Perspektiven auf Freundschaft eröffnet – jenseits normativer Vorstellungen und als Raum politischer, emotionaler und sozialer Verbundenheit.
Freundschaftliche Sorge-Arrangements in Einelterfamilien
Julia Hahmann
Hochschule RheinMain, Deutschland
Der Alltag von Einelterfamilien ist strukturiert durch die Anforderungen von Erwerbs- und Care-Arbeit, deren Logiken einerseits aufeinander verweisen, andererseits aber derart unterschiedlich sind (Fraser 2016), dass sie systematisch zu Artikulationen der „Krise der sozialen Reproduktion“ (Winker 2015) führen. Aufgrund der alleinigen oder hauptsächlichen Verantwortung für die Versorgung und Begleitung von einem oder mehreren Kindern, können Einelterfamilien die Vereinbarkeit der beiden Sphären zwischen „adult worker model“ und den Anforderungen der „normalen Familie“ nicht herstellen (Hahmann 2025; Leitner 2017). Die institutionelle Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten, Schulen, Horts, etc. deckt dabei die zeitlichen Anforderungen der Erwerbsarbeit kaum ab, verschärft wird dies z.B. bei (chronischer) Erkrankung der Kinder und/oder Elternteile (VAMV 2023).
Neben den Eltern bzw. Großeltern stellen Freund*innen hier relevante Unterstützungsstrukturen, die Einelterfamilien in der Kinderbetreuung ergänzen sowie in herausfordernden Situationen mit praktischen Hilfen zur Seite stehen. Freund*innen sind zudem wichtige emotionale Begleiter*innen, sie stellen relevante Interaktionsquellen dar und sind in besonderem Maße in die Gestaltung von Freizeitaktivitäten und Formen von Geselligkeit eingebunden. Anhand empirischer Daten aus vier qualitativen Befragungen mit insbesondere alleinerziehenden Müttern wird im vorliegenden Beitrag rekonstruiert, unter welchen Bedingungen Freund*innenschaft auf welche Weise im Alltag von Einelterfamilien funktioniert. Dabei folgt die Analyse einer doppelten Rekonstruktionslogik. So werden erstens die Strukturbedingungen von Einelterfamilien aus einer care-theoretischen Perspektive diskutiert, weil die es die Besonderheiten unbezahlter Care-Arbeiten in familialistischen wohlfahrtsstaatlichen Verhältnissen sind, die dann zweitens auf die strukturellen Eigenheiten von Freund*innenschaften treffen. Damit kann nachgezeichnet werden, wie der Wandel der Pluralisierung von Elternschaft unter der Konstanz der Normalitätsfolie von Familie und Elternschaft bzw. Mutterschaft zu einer Transition der Freundschaftsformen selbst führt, z.B. in Aushandlungsprozessen zu Freundschaftsinhalten oder Normen der Reziprozität.
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