Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
AdH39: Fötus, Embryo, Zellhaufen, Schwangerschaftsgewebe, Baby, Kind? Konstruktionen des „Ungeborenen“ in verschiedenen Feldern der Reproduktion
Zeit:
Donnerstag, 25.09.2025:
14:15 - 17:00

Chair der Sitzung: Juliette Brillet Reutter, Centre de Recherches Politiques et Sociologiques de Paris
Chair der Sitzung: Elisabeth Wiesnet, Ludwig-Maximilians-Universität München
Chair der Sitzung: Lisa Brünig, Georg-August-Universität Göttingen
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


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Präsentationen

Das Recht auf Leben gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht? Deutungen professioneller Akteurinnen im Feld des Schwangerschaftsabbruchs

Elisabeth Wiesnet

Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland

Die Frage, ab wann bei einer Schwangerschaft von schützenswertem Leben gesprochen werden kann, ist historisch gewachsen und medizinisch, moralisch sowie gesellschaftlich hochumstritten (Busch 2015). Über Jahrhunderte galt der Fötus in den ersten Schwangerschaftsmonaten als Körperteil der Schwangeren. Erst mit dem Übergang zum Prinzip der Simultanbeseelung im 19. Jahrhundert setzte sich die Vorstellung eines generellen Lebensrechts ab der Befruchtung durch (ebd.). Dieser Sichtweise folgt auch die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gemäß § 218 ff. StGB.

Die gegenwärtige Strafrechtskonstruktion positioniert den Embryo als gleichrangiges Gegenüber zur Schwangeren, dessen Rechte unabhängig vom Schwangerschaftsstadium ebenso berücksichtigt werden müssen wie die eines geborenen Menschen. Bei einer ungewollten Schwangerschaft geraten somit das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren in Konflikt mit dem angenommenen Lebensrecht des Embryos (Wapler 2024; Deutscher Juristinnenbund e. V. 2024). Ein Schwangerschaftsabbruch erscheint als rechtswidriges Unrecht. Diese gesetzlich konstruierte Dichotomie von Schwangerer und Embryo prägt maßgeblich, wie gegenwärtig in Deutschland eine (frühe) Schwangerschaft und deren Abbruch verhandelt werden.

Nicht nur gesellschaftliche Diskurse aber sind von der gesetzlichen Kriminalisierung beeinflusst, sondern auch die Deutungen von professionellen Akteurinnen im Feld des Schwangerschaftsabbruchs. Sowohl die Felddeutung als auch über die Selbstbedeutung meiner Interviewten bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Lebensrecht und Selbstbestimmungsrecht. Die Positionierungen der Beraterinnen, Ärztinnen und Aktivistinnen sind dabei von Widersprüchlichkeiten, Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten gekennzeichnet. Eine grundsätzliche Infragestellung des gesetzlich konstruierten Konflikts bleibt jedoch weitgehend aus.

In meinem Vortrag möchte ich diese Erkenntnisse aus meinem fortgeschrittenen Promotionsprojekts diskutieren, wobei insbesondere Brüche und Ambivalenzen im Fokus stehen sollen. Meine Promotionsarbeit ist am Institut für Soziologie an der LMU München angesiedelt und wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert.



Das verlorene Kind. Praktiken der Personalisierung des Ungeborenen bei Schwangerschaftsverlusten

Julia Böcker

Leuphana Universität Lüneburg

Der Verlust einer gewollten Schwangerschaft, etwa durch Fehlgeburt oder Stille Geburt, ist für viele Personen, die ein Kind bekommen möchten, eine körperlich und emotional schmerzhafte Erfahrung, die mit fehlender Sichtbarkeit, Stigmatisierung und „entrechteter Trauer“ (Doka 2002) einhergeht. In den letzten Jahrzehnten haben soziale Initiativen zu Veränderungen im Recht (Berücksichtigung von Fehlgeburten im Personenstandsrecht, 2013; Mutterschutz nach Fehlgeburt, 2025), in der klinischen Praxis (Therapieoptionen; Umgang mit fötalen Überresten) und im öffentlichen Diskurs (Sichtbarkeit; Enttabuisierung) beigetragen. Eine zentrale Konfliktlinie innerhalb der (auch feministischen) Kämpfe für die Verbesserung der Situation von Betroffenen verlief und verläuft dabei entlang der Frage, inwiefern Schwangerschaftsverluste als Verluste eines ungeborenen Kindes, und Betroffene entsprechend als Eltern, zu verstehen und zu behandeln sind.

Im Vortrag wird anhand narrativer Interviews mit betroffenen Frauen, die von ihren Schwangerschaftsverlusten erzählen, zunächst die Kontingenz der Personalität des „Ungeborenen“ (Duden 2002) aufgezeigt. Während eine Fehlgeburt in der siebten Schwangerschaftswoche von einer Interviewpartnerin als „nicht sowas Greifbares“ erlebt wird, trauert die andere im gleichen Fall dezidiert um ihr verlorenes und sozial unsichtbares „Kind“. Anschließend werden verschiedene Personalisierungspraktiken im Feld „erfolgloser“ Schwangerschaften rekonstruiert. Diese unterscheiden sich im Grad der Institutionalisierung und in ihren sozialen Funktionen. Während die Namensgabe eine intime Praxis allein der Trauernden sein kann, ist die amtliche Bescheinigung der Fehlgeburt ein institutioneller Anerkennungsakt des Staates. Der Vortrag diskutiert abschließend die Frage, inwiefern solche Personalisierungen dazu beitragen, den sozialen Personenstatus des Ungeborenen zu festigen, und damit Diskursen von Abtreibungsgegner*innen Vorschub leisten. Empirische Grundlage sind qualitative Daten aus meiner Dissertation (Böcker 2022).



Konstruktionen des „Ungeborenen“ auf dem Gehsteig – Eine dispositivanalytische Perspektive auf das Phänomen der „Gehsteigbelästigung“

Lisa Brünig

Georg-August-Universität Göttingen, Deutschland

Abtreibungsgegner*innen stehen vor Praxen, die Abbrüche durchführen, sowie vor Schwangerschaftsberatungsstellen, halten Schilder mit Sprüchen wie „Unborn lives matter“ oder Holzkreuze in der Hand und belästigen Personen, die versuchen in die Praxen oder Beratungsstellen zu gelangen. Diese sogenannte „Gehsteigbelästigung“ stellt eine Aktionsform von Abtreibungsgegner*innen der selbsternannten „Lebensschutzbewegung“ dar, welche als antifeministisches Netzwerkprojekt bezeichnet werden kann (Sanders, Jentsch, Hansen 2014; Lang/Peters 2019; Grubner 2019). Nachdem in einzelnen Städten Versuche zum Verbot dieser mittels Klagen mehrfach gescheitert waren, ist am 13.11.2024 das Verbot der „Gehsteigbelästigung“ in Kraft getreten. Die ELSA-Studie zu Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer untersuchte dieses Phänomen als eine Form erlebter Stigmatisierung in der Öffentlichkeit und zeigt, dass 12,8% der befragten Anbieter*innen schon einmal Demonstrationen oder „Gehsteigbelästigungen“ vor der Einrichtung erlebt haben.

Der Vortrag basiert auf einem qualitativen Forschungsprojekt zu Akteur*innen im politischen Kampf um Abtreibungsrechte aus intersektionaler Analyseperspektive und widmet sich der Konstruktion des „Ungeborenen“ im Kontext einer Dispositivanalyse (Bührmann/Schneider 2008) des Phänomens der sogenannten „Gehsteigbelästigung“. Neben einer Diskursanalyse des Gesetzgebungsverfahrens werden Einblicke in das Material aus teilnehmenden Beobachtungen gegeben. Der Blick auf die Konstruktion des „Ungeborenen“ geht daher über das Diskursive hinaus und bezieht nicht-diskursive Praktiken, Objektivationen und Subjektivationen von Embryo/Fötus, Schwangeren, Aktivist*innen und an der Versorgung beteiligten Fachkräften mit ein.

Die Analyse ist geleitet von einer intersektionalen Perspektive (Ross 2021; Stögner 2021) und bettet die dispositivanalytischen Elemente und die Konstruktionsweisen des „Ungeborenen“ ein in die Frage, wie im Rahmen staatlicher Bevölkerungspolitik Antifeminismus, Rassismus, Ableismus und Antisemitismus verschränkt sind.



Mensch ab Befruchtung? Abbruchsdiskreditierende Argumente organisierter Abtreibungsgegnerschaft in Deutschland und Frankreich

Juliette Brillet Reutter1,2

1Institut für Soziologie Ludwig-Maximilians-Universität München; 2Centre de Recherches Politiques et Sociologiques de Paris, Frankreich

Im Rahmen politischer Konflikte um körperliche und sexuelle Selbstbestimmung gibt es in Deutschland und Frankreich soziale Bewegungen, die sich im Namen des „ungeborenen Lebens“ gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch mobilisieren. Die politische und legislative Ausgangslage organisierter Abtreibungsgegnerschaft ist in beiden Ländern unterschiedlich. Die Frage, welchen Stellenwert das „Leben“, was bei einer Befruchtung entsteht, an welchem Zeitpunkt hat, ist in Debatten um Schwangerschaftsabbruch jeweils zentral. Die Position von „Pro-Life“ Organisationen ist dabei eindeutig: ab dem Moment der Befruchtung entstünde ein vollwertiger Mensch, dem die gleichen Rechte zustehen sollten wie jedem anderen Menschen auch. Ausgehend von qualitativen Interviews in beiden Ländern wird der Vortrag nachzeichnen, wie das Argument des „Menschen ab Befruchtung“ von „pro-life“ Aktivist*innen in Debatten um den Schwangerschaftsabbruch verhandelt wird.

Einerseits wird sich zeigen, dass Aktivist*innen den Begriff des „Zellhaufens“ häufig verwenden, um sich von feministischen Organisationen zu distanzieren und diese mittels Ironie und Humor zu diskreditieren. Dem uneindeutigen „Zellhaufen“ werden stattdessen „wissenschaftliche“ Argumente über die Befruchtung genübergestellt. Dies ermöglicht „Pro-Life“-Mobilisierungen, sich als seriös darzustellen und gleichzeitig auf religiöse Argumente zu verzichten.

Andererseits wird in den analysierten Diskursen der Aktivist*innen deutlich, dass trotz der angestrebten Rationalität auf religiöse oder moralische Argumente nicht vollständig verzichtet werden kann. Das Ergebnis einer Befruchtung von Anfang an als „Mensch“ oder als „Kind“ zu bezeichnen, dient dazu, Schwangerschaftsabbrüche ausnahmslos zu diskreditieren. So trägt die „Pro-Life“ Bewegung dazu bei, den Fokus von den Rechten der Schwangeren und von Fragen der Autonomie und Gesundheitsversorgung wegzulenken. Stattdessen wird vorausgesetzt, dass es sich beim Abbruch um ein ethisches oder soziales Dilemma handelt.

Zuletzt wird der Vortrag darauf eingehen, welche Konsequenzen diese Voraussetzung für das gesamtgesellschaftliche Verständnis von Schwangerschaftsabbruch in beiden Ländern hat.



Schwangerschaft für Dritte. Eine Rekonstruktion der Erfahrungen von Leihmüttern aus Großbritannien

David Samhammer

Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover

Schwangerschaft ist ein Kristallisationspunkt zahlreicher Vorstellungen über die Krisenhaftigkeit am Beginn und der Mitte des Lebens. Leihmutterschaft fordert dieses bioethische Konfliktfeld auf besondere Weise heraus. Durch die ihr zu Grunde liegende Trennung von Geburt und Mutterschaft, wie die durch reproduktionsmedizinische Verfahren möglich gemachte Trennung von Schwangerschaft, genetischer Verwandtschaft und Elternschaft, wirft sie bestehende Annahmen über Schwangerschaft durcheinander. So wird in der soziologischen Diskussion Schwangerschaft als Übergangsphase zur Mutterrolle diskutiert. Leihmutterschaft verkompliziert diese Annahme und damit auch bisherige Erkenntnisse pränataler Sozialität, in der gerade auch Vorstellungen über das „Ungeborene“ und die Beziehung zwischen der schwangeren Person und dem in ihr heranwachsenden Kind hervorgebracht werden.

Die aktuelle Studienlandschaft weist hier ein Desiderat auf. Die meisten empirischen Forschungen legen ihren Fokus auf die Praxis der Leihmutterschaft, wobei das tatsächliche Erleben der Schwangerschaft der Leihmütter in den verschiedenen Phasen weitestgehend unterbeleuchtet bleibt. Daher erscheint es besonders wichtig, die Erfahrungen von Leihmüttern von der Embryoeinsetzung bis zur Geburt ernst zu nehmen, gerade auch in Abgrenzung zu politisch aufgeladenen Debatten über Leihmutterschaft und Schwangerschaft insgesamt.

Eine derartig qualitative Analyse des Erlebens von Schwangerschaft für Dritte ist Ziel des Beitrags. Grundlage dafür sind neun biographisch-narrative Interviews mit Leihmüttern aus Großbritannien, wo eine regulierte Form von Leihmutterschaft existiert. Fokussiert wird sich im Beitrag auf die Erzählungen, in denen sich Konstruktionen über das „Ungeborene“ aufzeigen lassen. Der biographische Fokus der Interviews erlaubt es, diesbezüglich ausführliche Einzelfallrekonstruktionen vorzunehmen, und bietet zudem auch die Möglichkeit des Vergleichs unterschiedlicher Erzählungen. Auf diese Weise lassen sich positive Erfahrungen ebenso wie Herausforderungen und Konflikte im Zusammenhang der Schwangerschaft für Dritte differenziert darstellen und analysieren. Das Verständnis der Leihmütter kann dann im Kontext aktueller Debatten auch mit Bezug angrenzender bioethische Themenfelder reflektiert werden.



 
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