Sitzung | |
AdH29: Engagierte Wissenschaft in Zeiten gesellschaftlicher Transitionen
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Beobachten, benennen, (nicht) eingreifen? Zur Verantwortung soziologischer Forschung zu Live-in-Care bei Demenz 1Kulturwissenschaftliches Institut Essen; 2Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Die häusliche Versorgung von Menschen mit Demenz durch osteuropäische Live-in-Hilfen ist ein verdichteter Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse - entlang von Geschlecht, Klasse, Migration, Gesundheit und Alter. Im ethnografisch angelegten Forschungsprojekt zu diesen Versorgungsarrangements beobachten wir, wie prekäre Arbeitsbedingungen, emotionale Anforderungen, moralische Ambivalenzen und politische Unsichtbarkeit miteinander verschränkt sind. Diese Verschränkungen werfen drängende Fragen auf: Welche Verantwortung trägt die Soziologie, wenn sie auf derartige strukturelle Missstände trifft? Was bedeutet es, in einem Feld zu forschen, das sich nicht nur durch komplexe Abhängigkeiten, sondern auch durch Marginalisierung auszeichnet? Und wie kann wissenschaftliche Analyse differenziert und kontextsensibel bleiben, ohne in Paternalismus zu verfallen oder strukturelle Probleme zu normalisieren? Gleichzeitig steht engagierte Forschung in Live-in-Care-Kontexten vor einem weiteren Dilemma: Sollen - und wenn ja, welche - politischen Handlungsempfehlungen aus der Forschung abgeleitet werden? Als Soziolog*innen können wir beobachten, analysieren und beschreiben, wie Live-in-Arrangements im Alltag gestaltet werden. Wir machen sichtbar, was funktioniert - und was nicht. Doch lassen sich daraus politische Handlungsempfehlungen ableiten? Zudem bewegt sich die Live-in-Care Forschung in einem vielstimmigen, teils widersprüchlichen Feld mit unterschiedlichen politischen Erwartungen und Interessen. Die soziologische Forschung steht hier vor der Herausforderung, sich nicht vereinnahmen zu lassen und zugleich analytisch zu benennen, was empirisch sichtbar wird - auch wenn dies nicht allen Interessen entspricht. Der Beitrag diskutiert engagierte Wissenschaft in der Live-in-Care Forschung jenseits von Aktivismus oder Zurückhaltung - als eine Praxis des wachen Beobachtens, verantwortlichen Beschreibens und analytischen Einordnens. Im Zentrum steht die These, dass soziologische Forschung nicht unpolitisch ist, selbst wenn sie keine direkten Handlungsempfehlungen formuliert. Ihre Stärke liegt möglicherweise gerade darin, Komplexität sichtbar zu machen - und damit eine Grundlage für politische, ethische und gesellschaftliche Entscheidungen zu schaffen, ohne sich selbst zum politischen Akteur zu machen. Engagement für die Soziologie, Sachlichkeit für die Gesellschaft Uni Mainz, Deutschland In einer differenzierten Gesellschaft sind Politik und Wissenschaft getrennte Teilsysteme. Es gibt keine Sonderrelevanz des Politischen. Der Vortrag plädiert für die klassische Rollenteilung von Wissenschaft und Politik als zwei verschiedenen Berufen. Engagierte Soziologie ist eine berufliche Leidenschaft. Sie ist nicht „wertfrei“, sondern drängt auf Verkörperung der Werte des Wissenschaftssystems. Die Freiheit der Forschung ist eine politisch zu garantierende Freiheit, unpolitisch zu forschen. Gleichwohl ist die Forschung in motivationalem, konzeptuellem und kommunikativem Kontakt mit der Gesellschaft, in der sie stattfindet. Die Politik interveniert in die Arbeitsbedingungen der Wissenschaft, diese berät die Politik auf Anfrage, sie interveniert aber auch ihrerseits ungefragt in Politik und Öffentlichkeit. Dabei neigt politisch engagierte Wissenschaft zur Selbstüberschätzung. Die Soziologie trägt keine besondere Verantwortung für die Gesellschaft, d.h. nicht mehr als Ökonomie, Medizin, Biologie, Klimawissenschaft usw. und nicht weniger als alle Bürger in Demokratien sie tragen. Sie trägt nur ein besonderes Risiko, sich im Politisieren zu gefallen und aufzulösen, weil ihr der geografische oder zeitliche Abstand zu ihrem Gegenstand fehlt. Bei der soziologischen Intervention in öffentliche Diskurse gibt es gute Gründe für Distanz, Zurückhaltung und Sparsamkeit. Politisierte Soziologie im Sinne einer Wissenschaft instrumentalisierenden Parteinahme ist ebenso als ein Angriff auf die Wissenschaft zu verstehen wie die Angriffe aus der Politik. Sie kostet die Soziologie fachliche Reputation, schwächt ihre Stimme im öffentlichen Raum und untergräbt ihre Existenzberechtigung. Oft ist es auch politisch zielführender, keine engagierte, sondern eine kalte Wissenschaftlerin zu sein. Soziologinnen haben der Gesellschaft vor allem ihre Sachlichkeit zu bieten, in der sie emotionalisierte Ereignisse, beunruhigende Entwicklungen und aufgeheizte Debatten beobachten, analysieren und kühl beurteilen. Als Gütekriterium soziologischer Interventionen in die Gesellschaft kann gelten, den Neuerungsimpetus aus der Wissenschaft, Dinge anders zu denken als üblich, in den öffentlichen Diskurs der Gesellschaft zu tragen und dort auch gegen Widerstand zu behaupten. Risiken selbst minimal engagierter Kommunikation im Antisemitismus- und Nahostdiskurs Technische Universität Berlin, Deutschland Neben den normativen Aspekten „engagierter Wissenschaft“ scheint mir von zentraler Bedeutung die Frage der Risiken für durch Engagement Exponierte zu sein. Das gilt zweifelsohne für Forschende in autoritären Regimen, wie es das Beispiel der „Academics for Peace“ zeigt. Mittlerweile ist es aber offensichtlich nicht mehr möglich, solche Risiken nur bei den anderen zu verorten. In den inzwischen selbst von autoritären Entwicklungen betroffenen Ländern des ‚Westens‘ ist Exponiertheit mit bestimmten Positionen für Hochschulangehörige risikoreich geworden. Dies gilt für die USA, wo es u.a. zu Kündigungen, Einreisesperren, Verhaftungen und Deportation von Personen kam, die sich kritisch gegenüber der Trump-Administration geäußert haben (unter vielen weiteren Angriffen auf Wissenschaftsfreiheit). Für Deutschland gilt: der empörte Fingerzeig auf das Geschehen dort, sollte nicht den Blick auf vergleichbare Entwicklungen hier vernebeln. Dabei sind aber sektorale Differenzen zu beachten. Besonderen Angriffen unterliegen u.a. die Gender Studies. Als politisches Themenfeld sticht, hier wie in den USA, die Bekämpfung von Antisemitismus hervor, die in der Form des „autoritären Anti-Antisemitismus“ zum Risikoquell für Hochschulangehörige wird. Dies gilt für renommierte Forschende (Ausladungen, Aberkennung von Preisen, Hetzkampagnen) ebenso wie für – auf andere Weise gefährdete – prekäre Wissenschaftler*innen und Studierende. Zu analysieren sind hier neben dem repressiven Umgang mit den palästinasolidarischen Protesten auch öffentliche Positionierungen, die das bloße Versammlungsrecht verteidigen, dafür öffentlich angefeindet werden und, wie das Beispiel der BMBF-Förderaffäre zeigt, in den Fokus (geplanter) förder-, disziplinar- und strafrechtlicher Maßnahmen geraten. Ähnlich risikobehaftet ist ein nicht-eskalativer Umgang mit diesen Protesten mithilfe der genuinen Mittel der Hochschulen als Bildungsinstitutionen, wie der Fall der weitgehend friedlich beendeten Besetzung der Berliner Alice-Salomon-Hochschule zeigt (was nicht vor Diffamierung gegen das Präsidium, Drohung mit disziplinarischen Mitteln und massiver politische Einflussnahme schützte). Die Risiken unter dem autoritären Anti-Antisemitismus sind jedoch hinsichtlich ihrer Wirkebenen und unterschiedlicher Vulnerabilitäten der Betroffenen zu differenzieren. Forschung als Teil von Arbeitskämpfen? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Gewerkschaft 1Universität Göttingen; 2Ruhr-Universität Bochum Die Frage nach der Legitimität engagierter Wissenschaft ist nicht zuletzt eine nach dem »wofür« und »für wen« wir sie betreiben. Die (Sozial-)Wissenschaft bewegt sich hinsichtlich ihrer Zwecke und Adressaten stets in einem Spannungsfeld, und die dabei oftmals künstliche Trennung von Forschenden und ihrem Gegenstand wird spätestens dann deutlich, wenn es um die eigenen Arbeitsbedingungen geht. Für gewerkschaftliche Kämpfe sind (Sozial-)Wissenschaften wiederum ein wichtiger Bezugspunkt, ob zur Bereitstellung von Wissen oder der Aufbereitung von Erfahrungen, um strategisches Lernen möglich zu machen. Als (ehemalige) studentische Beschäftigte haben wir unsere Beschäftigungsbedingungen zum Gegenstand soziologischer Forschung gemacht. Wissenschaft wurde so zur Machtressource im Arbeitskampf. Bereits 2021 hatte es die bundesweite Vernetzung studentischer Beschäftigter geschafft, mit ihrer Forderung nach einem Tarifvertrag (TVStud) Thema in der Tarifrunde der Länder zu werden. Am Ende der Verhandlungen stand eine »Gesprächszusage für eine Bestandsaufnahme zu den Arbeitsbedingungen« zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverband, die jedoch erst nach einem Jahr von den Arbeitgebern eingelöst wurde. In der Zwischenzeit hatten wir als TVStud-Bewegung mit einer bundesweiten Umfrage, die an das Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Universität Bremen angebunden war, von mehr als 11.000 Hilfskräften und Tutor*innen Daten zu ihren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, ihrer sozialen Lage und sozio-ökonomischen Herkunft erhoben (Hopp et al. 2023). Diese wurden in die Bestandsaufnahme sowie nachfolgende landes- und hochschulpolitische Debatten eingebracht und diente letztlich nach innen und außen als argumentative und »narrative Ressource«. Zugleich aber auch als Angriffspunkt für die Arbeitgeberseite, die – teils öffentlich – ohne Belege die Wissenschaftlichkeit in Zweifel zogen, statt sich argumentativ mit den Befunden zu beschäftigen. Was kann und darf also (engagierte) Wissenschaft? Das möchten wir anhand unseres Beispiels diskutieren. Hopp, Marvin/Hoffmann, Ann-Kathrin/Zielke, Aaron/Leslie, Lukas/Seeliger, Martin (2023): Jung, akademisch, prekär. Studentische Beschäftigte an Hochschulen und Forschungseinrichtungen: eine Ausnahme vom dualen System regulierter Arbeitsbeziehungen. 2. überarbeitete Fassung. Bremen. Betreuungsstreik für Entfristung: Zukunftsperspektiven kritischer Wissenschaft Georg-August Universität Göttingen, Deutschland An der Universität Göttingen haben Wissenschaftler*innen aus dem Mittelbau des Instituts für Soziologie seit Februar 2025 eine neue Protestform erprobt: Den Betreuungsstreik. Ziel war es, für eine Entfristungsstrategie an der Universität zu streiten. In unserem Beitrag wollen wir nicht nur die Initiative sowie den konkreten Betreuungsstreik am Institut für Soziologie vorstellen, sondern diesen auch in die Debatte um engagierte Wissenschaft einordnen. Weltweit erleben wir derzeit, wie insbesondere autoritäre und rechtsextreme Regierungen und Organisationen Wissenschaft delegitimieren. Die Mittel, sich offen in die Debatte darüber einzumischen, was Wissenschaft darf und soll, sind gerade für diejenigen im akademischen Betrieb begrenzt, die sich durch befristete Verträge in ständiger Unsicherheit und Abhängigkeit befinden. In unserem Beitrag verknüpfen wir die Debatte um engagierte Wissenschaft mit der Frage nach den materiellen Bedingungen des akademischen Betriebs und richten damit den Blick auch auf Machtkonstellationen im Wissenschaftssystem. Viele Wissenschaftler*innen im Mittelbau, aber auch in den technischen und administrativen Bereichen der Hochschulen sind häufig auf wenige Monate oder Jahre befristet eingestellt und damit prekär beschäftigt. Das Spannungsverhältnis zwischen der Mehrheit der befristet Beschäftigten und der Minderheit der oft gut situierten unbefristeten Gruppen tritt jedoch selten offen zutage. Vielmehr zeigt sich eine Kluft zwischen einem erklärten Problembewusstsein und dem mangelnden Willen vorhandene Gestaltungsspielräume zu nutzen, oder weitreichendere Veränderungen ausgehend von Machtpositionen innerhalb der Universitäten gezielt voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für ein kreatives Ausloten von Handlungsspielräumen und wollen gemeinsam diskutieren, inwiefern neue Protestformen zur Re-Politisierung der Debatte um die Rolle von Wissenschaft und ihrer institutionellen und materiellen Rahmenbedingungen beitragen können. Kommentar zur Sitzung LMU München, Deutschland Kommentar zur Sitzung |